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DIE
PHILOSOPHIE DES ALS OB
System der theoretischen,
praktischen und religiösen Fiktionen der
Menschheit auf Grund eines idealistischen
Positivismus
Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche
von
HANS VAIHINGER^^
Herausgegeben von
DH- RAYMUND SCHMIDT
VOLKSAUSGABE
Zweite Auflage
3.-7. Tausend
19 2 4
VERLAG VON FELIX MEINER / LEIPZIG
Ich hin überzeugt, daß der hier hercor-
gehohene Punkt einmal ein Eckstein der philo-
sophischen Erkenntnistheorie werden wird.
F. A. LANGE
BOSTON COLLEGE LIBRARY
CHESTNUT KILL. MASS.
273840
Made in Germany
Alle Rechte, insbesondere das Ubersetzungsrecht
vom Verlage Vorbehalten
VORWORT
DES HERAUSGEBERS
Vaihingers „Philosophie des Als Ob“ entstaüd in den
Jahren 1876—78. Über die Gründe, welche den Verfasser ver-
anlaßten, das Werk erst im Jahre 1911 erscheinen zu lassen,
berichtet er selbst Ausführliches im Vorwort zur großen Aus-
gabe und in seiner Selbstbiographie (enthalten in „Die Philo-
sophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen“, Band II,
Leipzig, Felix Meiner 1923). Auch über die schicksalsvolle
Entstehungsgeschichte des Werkes ist dort nachzulesen.
Die Probleme, mit denen Vaihingers berühmtes Werk sich
auseinandersetzt, so fruchtbar seine Lösungen sich in allen
Spezial wissen schäften erwiesen haben, sind keine bloße An-
gelegenheit der Fachwissenschaften. Es sind Menschheits-
probleme von allgemeiner Bedeutung. Das Buch wurde für
alle denkenden Menschen geschrieben, es rührt mit Frische
und radikalem Wagemut an die höchsten und wichtigsten
Fragen des menschlichen Denkens, Glaubens und Erkennens,
und sein Inhalt appelliert an jedermann, sofern er nur in der
Welt, im Leben, in Religion, in Sittlichkeit, in Ästhetik über-
haupt Probleme sieht, sofern er nur die Abgründe zu sehen
nicht zu stumpf ist, zu denen alles Denken führt.
Das unverkürzte Original enthält nun eine Anzahl von
Partien, die zwar für den Spezialforschet die Tragweite des
IV
Vorwort des Herausgebers
(iedankens in das glänzendste Licht rücken, für den Laien
aber mehr oder weniger bedeutungslos sind, die die Lektüre
und das klare Verständnis deshalb hemmen, weil sie die große
Linienführung, gewissermaßen als fachwissenschaftliches
und historisches Beiwerk, unterbrechen.
Die hier vorliegende Ausgabe hat diese Partien ausgeschal-
tet, hat den Text, der schon an sich packend und leichtver-
ständlich ist, vereinfacht, damit die großen Linien schärfer
heraustreten. So ist das Werk einem größeren Leser-
kreis stofflich und ökonomisch zugänglicher geworden. Der
Aufbau ist unverändert geblieben. Es fehlen in dieser Aus-
gabe nur eine Anzahl historisch-hteraiischer Ergänzungen,
Einschaltungen, Fußnoten, dazu eine Reihe von Kapiteln
und Kapitelteilen, die sich mit ferner liegenden fachwissen-
schaftlichen Details beschäftigen. Und zwar hat sich der
Herausgeber im großen und ganzen au die Anweisungen
gehalten, die der Verfasser selbst für eine schon seit längerer
Zeit geplante populäre Kürzung vorbereitet hatte.
Leipzig, 25 September 1922
Dr. Raymund Schmidt
VORWORT
ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Ein ausgiebiges Vorwort zur neuen Auflage dieses
Werkes, das seinen Weg geht, ohne der Stützen zu be-
dürfen, erübrigt sich. Einigen wenigen Kritikern, die
dem Herausgeber einen Vorwurf daraus machen zu
müssen glaubten, daß er bei der vorgenommenen Kür-
zung des Originals nicht auch einige Schwächen des
Werkes getilgt habe, sei für ihr Interesse gedankt, im
übrigen aber seien sie darauf hingewiesen, was der Ver-
fasser selbst über sein Werk auf der Hallenser Tagung
im Frühjahr 1922 sagte: „Niemand kennt die Schwä-
chen seines Werkes besser als der Verfasser.
Dieser Schwächen sind in meinem Werke viele,
auch hat sich die Problemstellung im Laufe der
Zeit wesentlich verschoben. W^ollte ich mein
Werk, das vor über 40 Jahren konzipiert wurde,
auf die Höhe der Gegenwart bringen, so müßte
ich es von Grund auf neu schreiben, sodaß kein
Stein auf dem andern bliebe. Ich hoffe aber
doch, und ich sehe meine Hoffnung in weitem
Ausmaße bereits erfüllt, daß trotz aller Schwä-
chen und Fehler, die in selbständigem Nach-
denken zu überwinden ich der jüngeren Gene-
VI
Vorwort zur zweiten Auflage
ration überlassen muß, von meinem Werke wirk-
same Denkanstöße und Anregungen ausgehen
werden.“
In diesem Sinne sei auch diese Neuauflage unver-
ändert als eine Anregung zu selbständigem Denken der
Öffentlichkeit übergeben.
Leipzig, Frühjahr 1924
Dr. Raymund Schmidt
VIl
Inhalt
Seite
Vorwort des Herausgebers III
Allgemeine Einleitung 1 — 13
Kap. 1. Das Denken betrachtet unter dem Gesichtspunkt
einer zwecktätig wirkenden organischen Funktion . . . 1 — 8
Kap. II. Das Denken als eine Kunst, die Logik als eine
Kunstlehre 8 — 9
Kap. III. Unterschied der Kunstregeln von den Kunstgriffen
des Denkens 9 — 12
Kap. IV. Übergang zu den Fiktionen 12 — 13
Erster Teil
Prinzipielle Grundlegung 14 — 180
Allgemeine Vorbemerkung über die fiktiven Vorstellungs-
gebilde . . 14 — 15
A. Aufzählung und Einteilung der wissenschaftlichen Fik-
tionen , . 16 — 79
Kap. I. Die künstliche Klassifikation 16 — 18
Kap. II. Abstraktive tneglektive) Fiktionen 18 — 24
Kap. III. Schematische, paradigmatische, utopische und tj^-
pische Fiktionen 24 — 27
Kap. IV. Symbolische (analogische) Fiktionen 27 — 32
Kap. V. Juristische Fiktionen 32 — 35
Kap. VI. Personifikative Fiktionen 35 — 37
Kap. VII. Summatorische Fiktionen (die Allgemeinbegriffe) 38
Kap. VIII. Heuristische Fiktionen 38—42
Kap. IX. Praktische (ethische) Fiktionen 42 — 51
Kap. X. Fiktive Grundbegriffe der Mathemathik .... 52 — 55
Kap. XI. Die Methode der abstrakten Verallgemeinerung . 56 — 58
Kap. XII. Die Methode der unberechtigten Übertragung . . 58 — 62
Kap. XIII. Der Begriff des Unendlichen 62 — 64
Kap. XIV. Die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt . 65 — 71
Kap. XV. Das Atom als Fiktion 71 — 73
Kap. XVI. Fiktionen der Mechanik und der mathematischen
Physik . 73—75
Kap. XVII. Das Ding an sich 75—77
Kap. XVIII. Das Absolute 78—79
B. Logische Theorie der wissenschaftlichen Fiktionen . . 79 — 155
Kap. XIX. Einleitende Vorbemerkungen über die Stellung
der Fiktionen und Semifiktionen im Ganzen des logischen
Systems 79 — 82
Kap. XX. Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion von
anderen Fiktionen, besonders der ästhetischen . . . 83 — 86
Kap. XXL Der Unterschied der Fiktion von der Hypothese 86 — 93
Kap. XXII. Die sprachliche Form der Fiktion: Analyse des
ri 1 o c\A i r\r\
Kap. XXIII. Sammlung anderer Ausdrücke für „Fiktion“ 100 — 102
Kap. XXIV. Die Hauptmerkmale der Fiktionen 102 — 105
Kap. XXV. Versuch einer allgemeinen Theorie der fiktiven
Vorstellungsgebilde 105 — 115
VTII
Inhalt
Seite
Kap. XXVI. Die Methode der Korrektur willkürlich gemach-
ter Differenzen, Methode der entgegengesetzten Fehler 115 — 134
Kap. XXVII. Das Gesetz der Ideenverschiebung .... 134—143
Kap. XXXIII. Die Anwendung der Fiktion in der neueren
Zeit : . . . 143—152
Kap. XXXIV. Die Theorie der Fiktion in der Neuzeit . . 152 — 155
C. Erkenntnistheoretische Konsequenzen 155 — 180
Kap. XXXV. Das erkenntnistheoretische Grundproblem . . 155 — 158
Kap. XXXVI. Die Verfälschung der Wirklichkeit durch die
logischen Funktionen 158—163
Kap. XXXVII. Die Kategorien als Fiktionen 163—173
Kap. XXXVIII. Die Kategorien als analogische Fiktionen . 173 — 177
Kap. XXXIX. Praktische Zweckmäßigkeit der kategorialen
Fiktionen 177 — 180
Spezielle Ausführungen 181 — 266
Zweiter Teil
§ 1. Die künstliche Einteilung 181 — 185
§ 2. Weitere künstliche Teilungen 185 — 186
§ 3. Adam Smiths nationalökonomische Methode .... 187 — 191
§ 4. Benthams staatswissenschaftliche Methode 191 — 192
§ 5. Abstraktiv-fiktive Methoden in Physik und Psychik . . 192 — 194
§ 6. Die fingierte Statue Condillacs und ähnliches .... 194 — 197
§ 7. Lotzes „hypothetisches Tier“ und ähnliches .... 197 — 199
§ 10. Die Fiktion der Kraft 199 — 202
§ 11. Materie und Materialismus als Hilfsvorstellungsweisen 202 — 204
§ 12. Die abstrakten Begriffe als Fiktionen 204 — 210
§ 13. Die Allgemeinbegriffe als Fiktionen 210—215
§ 14. Summatorische Fiktionen, Nominalfiktionen, Substitu-
tionen 216 — 219
§ 15. Natuikräfte und Naturgesetze als Fiktonen 219—221
§ 18. Die Atomistik als Fiktion 221—227
§ 19. Fiktionen der mathematischen Physik 227 — 232
§ 20. Die Fiktion des reinen, absoluten Raumes 233 — 240
§ 21. Fläche, Linie, Punkt usw. als Fiktionen 240 — 243
§ 22. Die Fiktion des Unendlich-Kleinen 243 — 252
§ 26. Der Sinn der Als-ob-Betrachtung 252 — 256
§ 27. Das fiktive Urteil 256—261
§ 28. Die Fiktion im Gegensatz zur Hypothese 261 — 266
Dritter Teil
Historische Bestätigungen 267 — 364
A. Kants Gebrauch der Als-ob Betrachtung 267 — 320
Grundlegendes in den kritischen Hauptschriften . . . 267 — 288
Prinzipielle Ausführungen in den ethisch-religionsphiloso-
phischen Grundwerken 288—314
Nachlese aus Kants Briefen, Vorlesungen und nachge-
lassenen Papieren 314 — 320
B. Forberg, der Urheber des Fichteschen Atheismusstreites,
und seine Religion des Als-ob 320 — 330
C. Friedr. Alb. Lange und sein „Standpunkt des Ideals“ 330 — 345
D. Nietzsche und seine Lehre vom bewußtgewollten Schein
(der „Wille zum Schein“) 345—364
Allgemeine Einleitung.
Kapitel I.
Das Denken, betrachtet unter dem Gesichtspunkt
einer zwecktätig wirkenden, organischen Funktion.
Das wissenschaftliche Denken ist eine FunJetion der
Psyche. Unter „Psyche“ verstehen wir zunächst nicht
eine Substanz, sondern die organische Gesamtheit aller
sogenannten „seelischen“ Aktionen und Reaktionen; diese
fallen niemals unter die äußere Beobachtung, sondern
müssen teils aus physischen Merkmalen erschlossen,
teils mit dem sogenannten inneren Sinne beobachtet wer-
den. Die psychischen Aktionen und Reaktionen sind, wie
alles uns bekannte Geschehen, notwendige Vorgänge, d. h.
sie folgen mit zwingender Regelmäßigkeit aus ihren Be-
dingungen und Ursachen; will man die psychischen Vor-
gänge mit einem Gebiet des äußeren Geschehens ver-
gleichen, so eignen sich dazu weniger die physikalischen
und im engeren Sinne mechanischen Vorgänge, als die
Funktionen des Organismus. Diese Behauptung findet
ihre Begründung in dem Umstand, daß, wie bei den orga-
nischen Funktionen der leiblichen Sphäre, so auch bei
den psychischen Funktionen sogenannte empirische
Zweckmäßigkeit beobachtet wird. Diese Zweck-
mäßigkeit äußert sich hier wie dort in einer geschmei-
digen Anpassung an die Umstände und an die Um-
gebung; in einer, die Erhaltung des physischen oder
psychischen Organismus anstrebenden und erreichenden
Reaktion auf äußere Anstöße und Einwirkungen; in der
Aneignung und Aufnahme oder Abstoßung neuer Ele-
mente. In der Psyche findet nicht bloß ein mechanisches
Spiel von Vorstellungen statt, sondern die Vorstel-
lung s b ev*^ e g ung erfüllt in ihrer stetigen Ab-
Vaihinger, Philosophie. 1
2
Allgemeine Einleitung.
äiiderung in hohem (irade die Anforderungen
der Zweckmäßigkeit. Sämtliche psychischen Pro-
zesse sind in dem angegebenen Sinne zweckmäßig; vor
allem aber partizipieren an dieser Zweckmäßigkeit die
sogenannten theoretischen Apperzeptionsprozesse. Das
wissenschaftliche Denken besteht in solchen apperzeptiven
Prozessen, es ist daher unter dem Gesichtspunkt einer or-
ganischen Funlvtion zu beti’achten.
Wir vergleichen also die logischen oder Denkprozesse
mit den organischen Bildungsvorgängen. Die Zweck-
mäßigkeit, welche wir bei dem Wachstum, bei der Fort-
pflanzung und Neubildung, bei der Anpassung an die
Umgebmig, bei der Heilung usw. im Gebiete des Organi-
schen beol)achten, kehrt wieder in dem der psychischen
Prozesse. Auch der psychische Organismus reagiert auf
die Reize zweckmäßig. Wie der physische Organismus
nicht ein bloßes Gefäß ist, in das fremde Stoffe einfach
eingefüllt werden, sondern eine mit einer chemischen
Retorte vergleichl3are Maschine, welche die fremden
Stoffe zu ihrer eigenen Erhaltung und zur Unter-
haltung ihrer Bewegung höchst zweckmäßig
verarbeitet und durch Intussuszeption, nicht durch
bloße Juxtaposition sich aneignet — so ist auch
das Bewußtsein nicht mit einem bloß passiven Spiegel
zu vergleichen, der nach rein physikalischen Gesetzen
die Strahlen reflektiert, sondern das Bewußtsein nimmi
keinen äußeren Reiz auf, ohne ihn nach eigenem Maße
zu gestalten. Die Psyche ist also eine organische
Gestaltungskraft, welche das Aufgenommene selb-
j ständig zweckmäßig verändert und ebensosehr das
Fremde sich anpaßt, wie sie sich selbst dem Neuen anzu-
passen vermag. Die Seele ist nicht bloß aufnehmend,
sie ist auch aneignend und verarbeitend. Im Verlaufe
ihres Wachstums schafft sie vermöge ihrer adaptiven
Konstitution aus ihrer eigenen Natur, aber nur auf äußere
Reize hin, sich selbst ihre Organe, sie den
äußeren Bedingungen an passend. Solche Or-
gane, welche die Psyche auf äußere Reize
hin sich anbildet, sind z. B. die- Formen des
Anschau ens und Denkens, sind gewisse Be-
griffe und sonstige logische Gebilde. Das
Das Denken als zwecktätig wirkende, organische Funktion. 3
logische Denken, mit dem wir es speziell hier zu tun
haben, ist ein selbsttätiges Aneignen der Außenwelt,
es ist eine organisch zweckmäßige Verarbeitung des
Empfindungsmateriais. Das logische Denken ist also eine
organische Funktion der Psyche.
Wie der physische Organismus das Auf genommene
zersetzt, mit eigenen Säften vermischt und so zur In-
tussuszeption geeignet macht, so umspinnt auch die
Psyche das Wahrgenommene mit ihren aus ihr selbst
heraus entwickelten Kategorien. Sobald ein äußerer
Reiz die Seele berührt, welche, wie mit zarten Fühl-
fäden ausgestattet, mit Schnelligkeit auf denselben ant-
wortet, beginnen innere Prozesse, beginnt eine psy-
chische Arbeitsleistung, deren Resultat die
zweckmäßige Aneignung des Wahrgenomme-
nen ist.
Wie das Auge den Zweck hat, die verschieden ab-
gestuften Ätherbewegungen in ein geordnetes System
fester Empfindungen zu verwandeln, und durch Brechung,
Reflexion usw. von Strahlen verkleinerte „Abbilder“ der
objektiven Welt hervorzubringen, und wie jenes Organ
zur Erfüllung dieses Zweckes passend eingerichtet ist
und selbständige Akkommodationsbewegungen und Modi-
fikationen je nach den Verhältnissen auszuführen im-
stande ist — so ist die logische Funktion eine Tätigkeit,
welche ihren Zweck passend erfüllt und zur
Erfüllung dieses Zweckes sich den Verhält-
nissen und den Gegenständen zu akkommo-
dieren, zu adaptieren versteht. Die organische
Funktion des Denlcens hat den Zweck, das Empfindungs-
material zu solchen Vorstellungen, Vorstellungsverbin-
dungen und Begriffsgebilden umzuwandeln und zu ver-
arbeiten, welche unter sich verträglich und übereinstim-
mend, zugleich — wie man gewöhnlich zu sagen pflegt
und wie auch wir zunächst sagen können und müssen —
„mit dem objektiven Sein sich decken“. Da wir aber das
objektive Sein — auch dies ist ein aus der gewöhn-
lichen wissenschaftlichen Ansicht hergenommener Lohn-
satz — absolut nicht selbst erkennen, sondern nur er-
schließen, so müssen wir das Gesagte daliin umformen,
daß die Funktion des Denkens dann ihren Zweck er-
4
Allgemeine Einleitung.
füllt habe, wenn sie die gegebenen Empfindungsverbände
zu gültigen Begriffen, zu allgemeinen Urteilen, zu zwin-
genden Schlüssen verarbeitend, ein solches Weltbild
produziert habe, daß nach diesem das objektive Ge-
schehen berechnet und unser handelndes Eingreifen in
den Gang der Geschehnisse erfolgreich ausgeführt wer-
den könne. Wir legen dabei den Hauptton auf die
praktische Bestätigung, auf die experimentelle Er-
probung der Brauchbarkeit der logischen Gebilde, dieser
Produkte der organischen Denkfunktion. Nicht die Über-
einstimmung mit einem angenommenen „objektiven Sein“,
das uns doch niemals umnittelbar zugänglich sein soll,
also nicht die theoretische Abbildung einer
Außenwelt im Spiegel des Bewußtseins und also auch
nicht eine theoretische Vergleichung der logischen
Produkte mit objektiven Dingen scheint mis die Bürg-
schaft dafür zu bieten, daß das Denken seinen Zweck
erfüllt habe, sondern die praktische Erprobung, ob
es möglich sei, mit Hilfe jener logischen Pro-
dukte die ohne unser Zutun geschehenden
Ereignisse zu berechnen und unsere Willens-
impulse nach den Direktiven der logischen
Gebilde zweckentsprechend auszu führen.
Wir wollen damit an diesem Orte noch nicht die tief
in die Metaphysik und in die ganze pralHische Welt-
anschauung hineingreifende Frage erledigt wissen, ob die
logische Funktion, oder anders ausgedrückt, ob die theo-
retische Tätigkeit für den Menschen Selbstzweck sei
oder sein solle, oder ob alle theoretischen Funktionen
einzig und allein aus Willensimpulsen entstanden seien
und schließlich darum auch nur dem praktischen Handeln
zu dienen haben. Für unsere engere Betrachtungsweise
genügt hier die obige Bestimmunig, welche die Erprobung
der Richtigkeit der logischen Produkte in die Hand der
Praxis legt, und dann auch den Zweck des Denkens
nicht in einer Abspiegelung einer sogenannten äußeren,
objektiven Welt, sondern in der Ermöglichung der Berech-
nung des Geschehens und des Einwirkens auf das letztere
erblicken muß. Für uns hat die logische Funktion des
Denkens den Zweck, uns jederzeit in den Stand zu setzen,
vorausznberechnen, daß wir unter diesen oder jenen Ver-
Das Denken als zweckiäUg wirkende, organische Funktion. 5
hältnissen, Bedingungen und Umständen einen ganz genau
bestimmbaren Empfindungseindruck erhalten werden (denn
darauf läuft schließlich alle Feslstellung einer objektiven
Begebenheit hinaus, und wissenschaftlich ist eine solche
durchaus nicht anders zu bestimmen), und vorauszube-
rechnen, daß wir durch diese oder jene Willensimpulse
unter bestirmnten Bedingungen einen ganz genau be-
stimmbaren Effekt hervorbringen werden, der sich aber
auch nur vermöge bestimmter Empfindungseindrücke von
uns bemerken läßt. Durch diese Reduktion der Begriffe:
Denken, Handeln, Beobachten usw. auf schließlich physio-
logische Elemente, auf Empfindungen, gewinnen wir
allein den richtigen Maßstab für die Abschätzmig der
logischen Arbeit, welche die Empfindungselemente
in logische Gebilde umsetzt, welch letztere schließlich
wieder dazu da sind, um in Empfindungen umgesetzt zu
werden, resp. zur Kontrolle von Empfindungseindrücken
und zur Vermittlung von Willensimpulsen, d. h. Nerven-
impulsen zu dienen.
Jede Zwecktätigkeit äußert sich darin, daß sie die zur
Erreichung des vorgesteckten Zieles notwendigen und
dienlichen Mittel ausfindig macht, herbeischafft oder her-
vorbringt. Auch die organische Tätigkeit des Denkens
manifestiert ihre zwecktätige Einrichtung dadurch, daß
sie ihre oben dargestellten Zwecke mit allen ihr zu Ge-
bote stehenden Mitteln zu erreichen bestrebt ist.
Sind Empfindungen der Ausgangspunkt aller logischen
Tätigkeit und zugleich die Endstation, in die dieselbe,
wenn auch nnr zur Ermöglichung der Kontrolle, ein-
münden muß — wobei, wie bemerkt, dahingestellt bleiben
muß, ob den logischen Funktionen zwischen diesen beiden
Punkten noch ein Selbstzweck zuzuschreiben ist, oder
nicht — , so läßt sich der Zweck des Denkens kurz dahin
präzisieren, daß es in der Verarbeitung und Vermittelung
des Empfindungsmaterials zur Erreichung eines reicheren
und volleren Empfindungslebens seine Bestimmung finde.
Um den Zweck seiner Tätigkeit — die Berechnung des
unabhängigen Geschehens und die Ermöglichung oder
Abhängigmachung der Vorgänge von unserem Willen —
vollständig und möglichst schnell zu erreichen, dazu
verwendet das Denken oder die logische Funktion die
6
Allgemeine Einleitung.
verschiedensten Mittel. Das Empfindungsmaterial wird
umgewandelt, mngemünzt, verdichtet, es wird von
Schlacken gereinigt und mit Zusätzen aus dem eigenen
Fond der Psyche legiert, mn eine immer sicherere,
raschere und elegantere Lösung der Aufgabe der logischen
Funktion zu ermöglichen. In allen diesen höchst ver-
schiedenen und höchst verwickelten Prozessen und Opera-
tionen herrschen jedoch höchst wenige und höchst ein-
fache Gesetze, genau wie die verwickelte Arbeit des physi-
schen Organismus und seiner scheinbar so verschiede-
nen Organe auf bewunderungswürdig einfache, gesetz-
mäßige Grundprozesse und Grundformen reduzierbar ist.
Es ist die Aufgabe der logischen Theorie, die verwickelten
logischen Prozesse auf solche einfachen Grundprozesse,
auf einige wenige, zweckmäßig verlaufende Vorgänge
zurückzuführen. Das reiche Leben des Geistes’, wie es
sich in der Wissenschaft ungeheuerem und unendlichem
Gebiet in unzähligen Valvationen entfaltet — es beruht in
seinen vermckeltsten Formen und Prozessen auf primi-
tiven, einfachen Gesetzen und entsteht nur durch die
ungemein sinn reiche Modifikation undSpezi-
fikation dieser wenigen Grundtypen und
Grundgesetze, die sich, teils gedrängt durch die äuße-
ren Veranlassmigen und Umstände, teils getrieben durch
immanente Entwicklungskeime, zu jenem reichen, unend-
lichen Wissenssysteme entfalten, auf das der Mensch
so stolz ist. Wie die Meleagrina margaritifera, wenn
unter ihren glänzenden Mantel ein Sandkörnchen gerät,
dieses mit der aus ihr selbst produzierten Perlmutter-
masse überzieht, um das unscheinbare Korn in eine
blendende Perle zu verAvandeln, so — nur noch viel
feiner — arbeitet die Psyche vermittelst ihrer logischen
Funktion, wenn sie gereizt wird, das eingedrungene Emp-
findungsmaterial zu blitzenden Gedankenperlen um, zu
Gebilden, in denen der Logiker die aneigneride, organisch
zwecktätige logische Funktion bis in ihre geheimsten
Wege, bis in ihre feinsten Spezifikationen verfolgt. In
beiden Fällen ist es die sinnreiche Zwecktätig-
k e i t , welche unsere Bewunderung und unsere Auf-
merksamkeit erweckt. Wir betonen gerade vorzugsweise
die Zweckmäßigkeit der organischen Funktion des
Das Denken als zwecktätig wirkende, organische Funktion. 7
Denkens^ weil wir uns in der Folge mit logischen Ge-
bilden zu beschäftigen haben werden, in denen sich jene
Zwecktätigkeit recht auffallend manifestiert.
Wir haben in der bisherigen Darlegung eine Seite noch
nicht berührt, welche jedoch für die richtige Auffassung
der logischen Funktion von hoher Wichtigkeit ist: es ist
dies die Tatsache, daß die organische Funktion des
Denkens meistenteils unbewußt verläuft. Mag auch
schließlich d^is Produkt ins Bewußtsein treten, ja mag
auch das Bewußtsein die Piuzesse des logischen Denkens
flüchtig begleiten, so dringt dieses Licht doch nur in eine
geringe Tiefe; die eigentlichen Grundprozesse verlaufen
in dem Dunkel des Unbewußten, und gerade die spezifisch
zwecktätigen Operationen sind größtenteils, und jedenfalls
am Anfang durchgängig instinktiv und unbewußt, wenn
sie auch später in den Lichtkreis des Bewußtseins vor-
rücken, das im Laufe der Zeit sowohl individuell als
allgemein kulturgeschichtlich freilich immer größere
Strecken des psychischen Verlaufs seiner Herrschaft zu
unterwerfen weiL Es handelt sich für die Logik nun ge-
rade darum, die dunkel und unbewußt arbei-
tende Tätigkeit des Denkens zu beleuchten
und die kunstvollen Methoden, die si imreichen Wege
kennenzulernen, welche jene unbewußt wirkende Tätig-
keit einschlägt, um ihr Ziel zu erreichen.
Man mag das Verhältnis von Sein und Denken fassen,
wie man vdll — jedenfalls läßt sich vom empirischen
Standpunkt aus behaupten, daß die Wege des Denkens
andere sind, als die des Seins; die subjektiven
Prozesse des Denkens, die sich auf irgendeinen äußeren
Vorgang oder Prozeß beziehen, haben mit diesem selbst
nur selten eine nachweisbare Ähnlichkeit. Wir bemerken
dies, um dadurch hervorzuheben, daß die logischen
Funktionen sub j ekti ve, aber z weckmäßi g e Anstren-
gungen sind, welche das Denken macht, um seine weiter
oben geschilderten Zwecke zu erreichen. Das objektive
Geschehen und Sein mag sich verhalten, wie es will —
eins läßt sich wohl sicher behaupten, es besteht nicht
aus logischen Funktionen, wie einst Hegel gemeint hat.
Das Hegel sehe System bietet das historisch grellste, das typische
Beispiel dieses Generalirrtums der Philosophie dar: der Ver-
8
Allgemeine Einleitung.
Wechselung der Wege des Denkens mit denen des Ge-
schehens, der Verwandelung subjektiver Denkvorgänge in ob-
jektive Weltvorgän ge. (Daß aber der Hegelschen Dialektik anderer-
seits eine richtige Einsicht in das Wesen der logischen Entwicklung
zugrunde liegt, wird noch zur Sprache kommen.)
Der eigentlich größte und wichtigste Teil der mensch-
lichen Irrtümer entsteht dadurch, daß man die Wege
des Denkens für die Abbilder der realen Verhältnisse
selbst nimmt; allein das schließliche praktische Zu-
sammenstimmen unserer Vorstellungen und Urteile mit
den sogenannten „Dingen“ berechtigt noch nicht zu dem
Schlüsse, daß die Wege, auf denen das logische Resukat
gewonnen wird, dieselben seien mit denen der objektiven
Vorgänge. Im Gegenteil: Die Zweckmäßigkeit ma-
nifestiert sich gerade darin, daß die logi-
schen Funktionen, wenn sie nach ihren eige-
nen Gesetzen arbeiten, schließlich doch
immer wieder mit dem Sein Zusammen-
treffen.
Kapitel II.
Das Denken als eine Kunst,
die Logik als eine Kunstlehre (eine Sammlung
technischer Kunstregeln) betrachtet.
Wir nannten das Denken eine organische Funk-
tion. Jede natürliche Fähigkeit, wie dies eine jede orga-
nische Funktion ist, kann durch Übung, Entwicklung und
Vererbung zur Kunst gesteigert werden. Nur in diesem
Sinne kaim das Denleen eine Kmist sein. Man nennt die
Logik hie und da eine Kunstlehre. Es ist ungenau, die
Logik selbst so zu betrachten. Das Denken ist eine Kunst,
die Logik aber ist eine Wissenschaft und als solche
speziell eine Kunstlehre.
Es ist wohl kaum daran zu erinnern, daß bei der
obigen Verwendung des Wortes und Begriffes Kunst die-
jenige Bedeutung festzuhalten ist, in welcher die ästhe-
tische Seite nicht betont wird. Es handelt sich nicht um
eine künstlerische Tätigkeit, sondern um eine kunstreicke
Das Denken als Kunst. Kunstgriffe, Kunstregoln.
9
Fertigkeit, So lange die organische Tätigkeit des Den-
kens noch 'mehr im Gebiet des Unbewußten sich be-
findet, nennen wir sie lieber zwecktätig, wie wir
ja eine solche Zwecktätigkeit ohne Bedenken allen orga-
nischen Funktionen zuschreiben, wobei wir das meta-
physische Problem der Teleologie ganz bei Seite lassen;
wenn aber die organische Tätigkeit das Gebiet der un-
bewußten, mehr dämmernden Tätigkeiten verläßt, wenn
das Bewußtsein das Ruder ergreift, so nennen wir die-
selbe organische Tätigkeit lieber kunstmäßig. Je mehr
die natürliche Fähigkeit des Denkens, die instinktive
Tätigkeit der logischen Funktionen verfeinert und raffi-
niert wird, je mehr sich die logischen Operationen
spezialisieren, und je mehr infolge der Arbeitsteilung
in der Ökonomie der Natur die feineren logischen
Funktionen besonderen Individuen als Aufgabe zufallen,
desto mehr findet jene Bezeichnung ihre sachliche Be-
rechtigmig. Ist auch das Denken eine allgemein ver-
breitete Tätigkeit, zu welchem das Individuum im Verlaufe
seiner Entwicklung angelernt wird, wie zu so mancher an-
deren Kunst, welche zur Notdurft des menschlichen Da-
seins gehört, so ■vdrd doch der schwierigere Teil der lo-
gischen Aufgabe von einzelnen, besonders dazu befähigten
und dazu ausgebildeten Individuen ausgeführt; sobald
aber eine allgemeine natürliche Fähigkeit sich in dieser
Weise spezialisiert, daß besondere Individuen sie mit be-
sonderer Fertigkeit ausüben, so nennen wir sie eine
Kunst. Es bilden sich bestimmte Kunstregeln aus;
das Ganze dieser Kunstregeln nennt man die
Kunstlehre, und eine solche ist die Logik, als deren
Hauptaufgabe sich eben die Darstellung und Begründung
der technischen Regeln des Denkens ergibt.
Kapitel III.
Unterschied der Kunst griffe von den Kunst regeln
des Denkens.
Die bisherige Methodologie hat sich bemüht, die Kunst-
regeln des Denkens in ihrer Vollständigkeit zu sammeln
und systematisch zu verarbeiten. Sie hat es versucht,
10
Allgemeine Einleitung.
uud es ist ihr gelungen, diejenigen technischen Ope-
rationen und Manipulationen zu registrieren und zu ana-
lysieren und systematisch zu begründen, welche die häu-
figsten, regelmäßigsten und wichtigsten sind. Gerade die-
jenigen Operationen, auf deren geschickter Anwendung,
kluger Verwertung und rationeller Verfeinerung die Fort-
schritte der modernen Naturwissenschaft beruhen,
sind aus der Praxis in die Theorie erhoben worden und
wurden auf die einfachen und primitiven Formen der
logischen Funktion zurückgeführt. Die bewunderungs-
würdigen ^Methoden der empirischen Wissenschaften, Me-
thoden, welche sich ihrem Gegenstand mit einer staunens-
werten Geschmeidigkeit anzuschmiegen und mit jener
klugen Benutzimg aller Umstände tmzupassen wissen,
welche wir bei den organischen Wesen beobachten —
diese IMethoden fanden einen wüirdigen imd vollständig
entsprechenden Ausdruck in der modernen Methodologie,
welche ihre glänzendsten Vertreter in England, Frank-
reich und Deutschland fand.
Es w’erden indessen, scheint mir, in der wissenschaft-
lichen Praxis außerdem Methoden angewandt, welche bis-
her in der Theorie noch nicht die gehörige Beachtung
und Verwertung gefunden haben.
Wir meinen damit Methoden, welchen wir im Gegen-
satz zu den regulären Methoden der gewöhnlichen In-
duktion den Charakter des Irregulären indizieren dürfen.
Auch in anderen Gebieten aber pflegt man das Reguläre
vor dem Irregulären systematisch zu bearbeiten und das
letztere beiseite zu lassen. Wo man aber bisher diejenigen
Methoden, welche wir meinen, berührte, behandelte man
sie entweder \del zu kurz und viel zu oberflächlich,
oder am mirechten Orte und nicht im rechten syste-
matischen Zusammenhänge, oder man warf sie mit ande-
ren ähnlichen Formen zusammen, wie dies ja in jeder
Wissenschaft so zu gehen pflegt; oder man behandelte sie
auch mit jener Scheu, wie man anfangs alles Irreguläre
behandelt. Auch in der Logik woh man um solche Formen
einen geheimnisvollen Schleier, mid anstatt schonungslos
mit der logischen Sonde in dieselben einzudringen, ver-
schwendete man ahnungsvolle Gefühle an diese Formen,
die man ähnlich behandelte, wde man dies in vielen
Kunstgriffe und Kunstregeln des Denkens.
11
Museen sieht, wo seltsame Gegenstände auf die Seite
gelegt werden, bis eine künftige Generation sie analysiert.
Nachdem die regulären und häufigsten logischen Ope-
rationen eine Bearbeitung gefunden haben, welche relativ
nichts mehr zu -wünschen übrig läßt, scheint es an der
Zeit und gerechtfertigt, auch diejenigen Operationen in
die logische Diskussion hineinzuziehen, weiche bis jetzt
ignoriert oder vernachlässigt wurden. Man tat recht
daran, diese irregulären Formen so lange zu übersehen
und auf die Seite zu stellen, bis die logische Theorie
durch die Analyse der wichtigsten und häufigsten Ope-
rationen diejenige Festigkeit und Sicherheit erlangt hatte,
welche absolut notwendig ist, wenn exzeptionellen, irregu-
lären und dem gewöhnlichen Verlauf widersprechenden
Phänomenen zu Leibe gegangen werden soll, deren logi-
sche Analyse bedeutenderen Sch-wierigkeiten begegnet
als die häufigeren Operationen.
Wir unterscheiden Kunst regeln und Kunstgriffe des
Denkens. Auch bei anderen Fimldionen ist diese Unter-
scheidung von Wert; Kunstregeln sind das Zusammen
aller jener technischen Operationen, vermöge welcher
eine Tätigkeit ihren Zweck, weim auch mehr oder weni-
ger verwickelt, so doch direkt zu erreichen weiß. Auch
in der Logik nennen wir solche Operationen, wie vor
allem die Operationen der Induktion, Kunstregeln des
Denkens. Kunstgriffe aber sind solche Operationen,
welche, einen fast geheimnisvollen Charakter an sich
tragend, auf eine mehr oder weniger paradoxe Weise
dem gewöhnlichen Verfahren -widersprechen, Methoden,
welche, dem nicht in den Mechanismus eingeweihten,
nicht so fertig geübten Zuschauer den Eindruck des
Älagischen machend, Schwierigkeiten, die das bezügliche
Material der betreffenden Tätigkeit in den Weg wirft,
indirekt zu umgehen wissen. Solche Kimstgriffe hat auch
das Denken; sie sind wunderbar zwecktätige Äußerun-
gen der organischen Funktion des Denkens. Und wie
in ge-^\nssen Künsten und Handwerken solche Kunst-
griffe geheim gehalten werden, so bemerken wir auch
dasselbe bei dem logischen Geschäfte. Wir ziehen hier
nur einen eklatanten Fall zur Illustration des Gesagten
herbei: als es Leibniz durch einen solchen genialen
12
Allgemeine Einleitung.
Kunstgriff — er wird im folgenden für uns das typische
Beispiel sein und einen Hauptgegenstand unserer Ana-
lyse bilden — gelungen war, Aufgaben, die bis dahin als
unlösbar gegolten hatten, auf eine wunderbar einfache
und ingeniöse Weise zu lösen, da sachte er eine ge-
raume Zeitlang diesen logischen Kunstgriff ängstlich ge-
heimzuhalten, und diejenigen, denen er ihn mitteilte,
überraschten die damit nicht bekannt gemachten Mathe-
matiker mit der Lösung schwieriger Aufgaben.
Kapitel lY.
Übergang zu den Fiktionen.
Wir behandeln also eine eigentümliche Art von logi-
schen Produkten, eine besondere Tätigkeitsmanifeslation
der logischen Funktion. Schon im vorhergehenden haben
wir darauf hingewiesen, daß diese eigentümliche Tätig-
keit sich in den von uns sogenamrten Kunstgriffen
des Denkens äußert, daß ihre Produkte Kunst-
begriffe sind. Wir substituieren schon hier, das Re-
sultat antezipierend, für diese Ausdrücke andere Ter-
mini: unser Gegenstand ist die fiktive Tätigkeit der logi-
schen Funktion, die Produkte dieser Tätigkeit sind die
Fiktionen.
Die fiktive Tätigkeit der Seele ist eine Äußerung
der psychischen Grundkräfte; die Fiktionen
sind psychische Gebilde. Aus sich selbst spinnt
die Psyche diese Hilfsmittel heraus; denn die Seele ist
erfinderisch; den Schatz an Hilfsmitteln, der in ihr selbst
liegt, entdeckt sie, gezwungen von der Not, gereizt von
der Außenwelt. Der Organismus ist hineingestellt in
eine Welt voll widersprechender Empfindungen, er ist
den Angriffen einer ihm feindlichen Außenwelt bloß-
gestellt, und um sich zu erhalten, wird er gezwungen,
sowohl von außen als innen alle möglichen Hilfsmittel
zu suchen. An der Not und am Schmerz entzündet sich
die geistige Entwicklung, am Widerspruch und Gegen-
satz ervmcht das Bewußtsein, und der Mensch schuldet
seine geistige Entfaltung mehr seinen Feinden als seinen
Freunden.
Übergang zu den Fiktionen,
13
Um größerer Deutlichkeit und Übersichtlichkeit willen
muß indessen folgende Bemerkung vorausgeschickt
werden :
Unter der fiktiven Tätigkeit innerhalb des logi-
schen Denkens ist die Produktion und Benutzung solcher
logischen Methoden zu verstehen, welche mit Hilfe von
H-ilfsbegriffen — denen die Unmöglichkeit eines ihnen
irgendvvde entsprechenden objektiven Gegenstandes mehr
oder weniger an die Stirn geschrieben ist — die Denk-
zwecke zu erreichen sucht. Anstatt sich mit dem ge-
gebenen Material zu begnügen, schiebt die logische Funk-
tion diese zwitterhaften und zweideutigen Denkgebilde
ein, um mit ihrer Hilfe ihre Ziele indirekt zu erreichen,
wenn die Sprödigkeit des entgegenstehenden Materials
ein direktes Vorgehen nicht gestattet. Mit einer instink-
tiven, fast möchte ich sagen, verschmitzten Klugheit
weiß die logische Funktion diese Schwierigkeiten durch
diese Hilfsgebilde zu umgehen. Die speziellen Methoden,
Umwege, welche das Denken einschlägt, wenn es auf der
Linie des direkten Denkens nicht mehr fortkommen kann
— Fußwege, die recht oft durch dorniges Gestrüpp führen,
wodurch sich aber das logische Deiiken nicht aufhalten
läßt, selbstwenn es von seiner logischen Rein-
heit und Unb efleckthei t etwas einbüßt — sind
sehr mannigfacher Natur, und die Auseinanderlegung der-
selben ist eben unsere Aufgabe. Es ist hierbei noch die
Bemerkung am Platze, daß die logische Funktion in ihrer
zwecktütig-instinktiven Klugheit diese fiktive Tätigkeit
von den unschuldigsten, unscheinbarsten Anfängen an
durch immer feinere und klügere Windungen hindurch
bis zu den schwierigsten und kompliziertesten Methoden
durchzuführen weiß.
Erster Teil.
Prinzipielle Grundlegung.
Allgemeine Vorbemerkung über die fiktiven
Vorstellungsgebilde.
Die regulären und natürlichsten Denkmethoden bestehen
darin, immer zuerst und sogleich nur solche Apper-
zeptionen zu vollziehen, welche endgültig sind; und
immer nur solche Vorstellungsgebilde zu formieren,
welchen eine entsprechende Wirklichkeit nachgewiesen
werden kann. Dies ist ja das eigentliche Ziel der Wissen-
schaft, nur solche Vorstellungsgebilde zu entwickeln,
denen Objektives entspricht, und alle subjektiven Ein-
mischungen zu eliminieren.
Allein diese Aufgabe zu erreichen, ist nicht so leicht.
Der Erreichung stellen sich sehr viele Schwierigkeiten
entgegen. Jenes ideale Ziel, nach welchem die Vor-
stellungswelt aus lauter zusammenstimmenden, geord-
neten und widerspruchslosen Vorstellungsgebilden be-
stehen soll, dieses Ideal ist langsam und schwer zu er-
reichen.
Auf den gewöhnlichen Denkwegen ist das natürliche
Bestreben die Ausgleichung aller Vorstellungs-
gebilde, ihre Prüfung an der Wirklichkeit, ihre
Widerspruchslosigkeit. Es ist der natürlichste, zu-
näcbstliegende und anscheinend einzige Weg, um die
wissenschaftliche Erkenntnis zu fördern. Er wäre es
auch, wenn die Vorstellungsgebilde unmittelbare Abbil-
der des Seins wären; aber schon die gewöhnlichen Wege
und Produkte des Denkens enthalten so viel subjektive
und fiktive Elemente, daß es uns nicht überraschen
kann, wenn das Denken auch noch andere Wege ein-
schlägt. Man muß hierbei sich daran erinnern, daß die
ganze Vorstellungsv/elt in ihrer Gesamtheit nicht die Be-
stimmung hat, ein Abbild der Wirklichkeit zu
Vorbemerkuag über die fiktiven Vorälelluagsgebilde.
15
sein — es ist dies eine ganz umnögliche Aufgabe —
sondern ein Instrument ist, um sich leichter in
derselben zu orientieren. Im gesamten Gefüge des
kosmischen Geschehens sind auch die subjektiven Denk-
bewegungen mit einbegriffen. Sie sind die höchsten und
letzten Resultate der ganzen organischen Entwicklung;
die Vorstellungswelt ist gleichsam die letzte Blüte des
ganzen kosmischen Geschehens; aber darum eben ist
sie kein Abbild desselben im gev/öhnlichen Sinn.
Die logischen Prozesse sind ein Teil des kos-
mischen Geschehens und haben zunächst nur den
Zweck, das Leben der Organismen zu erhalten und zu
bereichern; sie sollen als Instrumente dienen, um den
organischen Wesen ihr Dasein zu vervollkommnen; sie
dienen als Vermittlungsglieder zwischen den Wesen.
Die Vorstellungswelt ist ein geeignetes Gebilde, um
diese Zvrecke zu erfüllen, aber sie darum ein Abbild zu
nennen, ist ein voreiliger und unpassender Vergleich.
Sind doch die elementaren Empfindungen schon keine
Abbilder der Wirklichkeit, sondern bloße Maßstäbe, um
die Veränderungen der Wirklichkeit zu messen.
Ehe wir unsere Aufgabe in Angriff nehmen, müssen
wir hier schon einen Unterschied machen, der in der
Folge von einiger Bedeutung sein wird. Als eigentliche
Fiktionen im strengsten Sinne des Wortes stellen sich
solche Vorstellungsgebilde dar, v/elche nicht nur der
Wirklichkeit widersprechen, sondern auch in sich selbst
widerspruchsvoll sind (z. B. der Begriff des Atoms, des
Dinges an sich). Von ihnen zu unterscheiden sind solche
Vorstellungsgebilde, welche nur der gegebenen Wirklich-
keit widersprechen, resp. von ihr ab weichen, ohne schon
in sich selbst widerspruchsvoll zu sein (z. B. die künst-
liche Einteilung). Man kann die letzteren als Halb-
fiktionen, Semifiktionen bezeichnen. Beide Arten sind
nicht streng getrennt, sondern durch Übergänge verbun-
den. Das Denken beginnt zuerst mit leichteren Ab-
weichungen von der Wirklichkeit (Halbfiktionen), um zu-
letzt, immer kühner geworden, mit solchen Vorstellungs-
gebilden zu operieren, welche nicht mehr bloß dem
Gegebenen widersprechen, sondern auch in sich selbst
widerspruchsvoll sind.
16 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Kiktionen.
A. Aufzählung und Einteilung der wissen-
schaftlichen Fiktionen.
Kapitel L
Die künstliche Klassifikation.
Die am weitesten verbreitete Art derjenigen Fiktionen,
die wir soeben Halb-Fiktionen nannten, dieser „vorläufi-
gen Methoden“, ist die künstliche Klassifikation.
Das ihr entsprechende realgültige Gebilde, das seiner-
zeit an ihre Stelle treten soll, ist das natürliche
System. Alle kosmischen Objekte stellen eine Spezi-
fikation dar, welche theoretisch ausgedrückt wird in
der Klassifikation; entspricht diese in allen Gliedern
der Wirklichkeit, so ist sie ein sogenanntes natürliches
System. Das natürliche System selbst bildet indessen
eines der verwickeltsten Probleme der Philosophie und
Naturwissenschaft, und ein Ausfluß der auf diesen Punkt
gerichteten Untersuchungen ist die brennende Frage über
die Spezies.
Das natürliche System ist ein solches, in welchem
die Wesen nach denselben Prinzipien geordnet sind,
welche die Natur bei der Produktion derselben befolgt
zu haben scheint. Wir können kurz sagen: die natürliche
Einteilung muß ein entsprechendes Abbild der realen Ent-
stehung und des verwandtschaftlichen Zusammenhanges
aller Wesen sein. Dies ist das Ziel der Wissenschaft, und
eine direkte Methode sollte diesem Ziele unmittelbar zu-
steuern.
Hier machen sich nun aber schon alle jene Gesichts-
punkte geltend, von denen wir bisher sprachen; das
gegebene Material stellt diesem direkten Wege so un-
geheure Hindernisse entgegen, daß die logische Funk-
tion den indirekten Weg einschlägt. Sie wendet einen
Kunstgriff an: sie bildet eine künstliche Ein-
teilung. Was heißt das? In unserer psychologischen
Terminologie heißt das: sie substituiert den noch
unbekannten einzig richtigen Gebilden pro-
visorisch solche, denen keine Wirklichkeit
unmittelbar entspricht. Mit diesen fiktiven
Klassen rechnet sie zunächst, als ob es die wirklichen
Die künstliche Klassifikation.
17
wären. Es ist hier nur noch auf die bekannte Tatsache
hinzuweisen, daß die künstliche oder fiktive Klassifika-
tion aus der ganzen Merkmalgruppe immer ein besonders
hervorstehendes herauswählt, nach welchem sie die Ein-
teilung vollzieht, ohne sich um die Determination zu
kümmern, welche die Merkmale gegenseitig voneinander
erfahren. Diese provisorischen Hilfseinteilungen haben
nicht bloß den praktischen Zweck, eine Registrierung
und Rubrizierung der Dinge zu ermöglichen, und zu-
gleich eine Art mnemotechnischer Mittel zu sein, son-
dern sie haben auch insofern einen theoretischen
Wert, als sie heuristische Dienste leisten, und die
Auffindung des natürlichen Systems vorbereiten und er-
leichtern. Die künstlichen Systeme sind meist Konse-
quenzen jener Artbegriffe, weiche selbst nur provi-
sorisch die verwirrende Menge der Erscheinungen in
eine oberflächliche Ordnung bringen.
Spezielle Unterarten dieser künstlichen Einteilung sind
jene heuristischen Methoden, welche auf Dichotomie
usw. beruhen. Diese künstlichen Klassifikationen haben
auch eine in wesentlichen Stücken andere Theorie, als
die natürlichen: d. h. die sich an sie anschließenden und
ihre Anwendung beherrschenden methodologischen Re-
geln sind selbstverständlich anderer Natur, als diejeni-
gen für die natürlichen Einteilungen. Diese Regeln be-
ziehen sich besonders auf die Vermeidung der
Fehler, welche notwendig aus der künst-
lichen Einteilung entspringen; diese Fehler be-
stehen nicht nur darin, daß die wirkliche Gliederung der
Dinge in jenes künstliche Fachwerk nicht eingeht und
sich nicht mit ihm deckt, sondern auch darin, daß durch
die künstliche Einteilung unmögliche Glieder ent-
stehen, welche in der Wirklichkeit gai nicht existieren
können.
Als Beispiele sind zu nennen u. a. das Liniiösche
System, sowie mehrere der späteren Pflanzen-, Tier- und
Menschensysteme, welche mehr oder minder mit dem
Bewußtsein ihrer Künstlichkeit aufgestellt sind; be-
sonders ist Lamarck rühmend hervorzuheben, dessen
in seiner „Philosophie zoologique“ gegebene technische
Regeln über die „künstlichen Hilfsmittel der Natufwissen-
Vaihinger, Philosophie. 2
18 Erster Teil: Prinzipiell© Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
*
schatten“ eingehend dieses Thema behandeln^ ferner
Cuvier, Blumenbach, Kant und eine große Reihe
von Forschern, welche diese künstliche Klassifikation
entweder selbst anwandten oder ihre Theorie bearbeiteten.
Diese künstliche Klassifikation ist fast die einzige der
künstlichen Hilfsmethoden des Denltens, welche sich einer
eingehenden Bearbeitung von seiten der Logiker zu er-
freuen hatte. Es war eben zu deutlich, daß man es
hier nicht direkt und unmittelbar mit der Wirklichkeit
zu tun hatte, sondern nur mit provisorischen und
indirekten Vor s teil u n g s g e b i Iden und Denk-
formen. Die verschiedenen Momente, welche bei allen
Fiktionen als Merkmale hervortreten, sind bei dieser Art
schon sehr deutlich zutage gekommen. Insbesondere, daß
alle solche Fiktionen zuletzt auf Widersprüche führen,
ist ein sehr beherzigenswertes Merkmal, das später beson-
ders hervorzuheben sein wird.
Kapitel II.
Abstraktive (neglektive) Fiktionen.
Mit dieser Bezeichnung fasse ich eine Reihe von Me-
thoden zusammen, in denen die Abweichung von der
Wirklichkeit sich spezifiziert als eine Vernach-
lässigung gewisser Elemente des Wirklichen
(allgemein ausgedrückt).
Das Gemeinsame aller der in dieser Klasse zusammen-
gefaßten Fiktionen ist eine Vernachlässigung wich-
tiger Wirklichkeitselemente. Meistenteils ist der
Grmrd zu der Bildung dieser Fiktionen die allzu große
Verflochtenheit der Tatsachen, welche der theoretischen
Bearbeitung in dieser ungemeinen Kompliziertheit zu
große Schwierigkeiten entgegenstellt. Hier können die
logischen Funktionen ihr Geschäft nicht ungestört voll-
ziehen, weil es noch nicht gelingt, alle Fäden auseinander
zuhalten, aus denen das Gewebe der Wirklichkeit besteht.
Wenn also das Material zu kompliziert und vemorren
ist, um dem Denken zu gestatten, es allmählich bis auf
seine einzelnen Fäden zu entwirren, wenn die gesuchten
Abstrakte Fiktionen.
19
kausalen Faktoren wahrscheinlich komplizierterer Natur
sind, als daß sie unmittelbar zu bestimmen sind^ so
wendet das Denken den Kunstgriff an, vorläufig
und einstweilen eine ganze Reihe von Merk-
malen zu vernachlässigen und nur die wich-
tigsten Erscheinungen herauszugreifen.
Ein Standardbeispiel für diesen Kunsigriff bildet
die bekannte Annahme von Adam Smith, daß alle
Handlungen der Menschen nur vom Egoismus dik-
tiert werden. Wir werden für jede Gattung ein beson-
ders typisches Beispiel aufstellen, um an diesem durch
möglichst eingehende Analyse den Bau dieser Vorstel-
lungsgehilde und die Methodologie dieser Kunstgriffe zu
studieren. Für die künstliche Klassifikation ist das am
meisten typische Beispiel für alle Jahrhunderte das
L i n n 4 sehe botanische System. Für die abstraktive oder
neglektive Fiktion is( les 'die Smith sehe Annahme. Man hat
diese Annahme jahrelang für eine Hypothese gehalten.
Adam Smith selbst wollte so wenig als Linne
damit mehr als eine Fiktion geben. Den Nachweis, daJß
Smith mit jener Annahme nur eine vorläufige Fiktion
machte, hat in England zuerst Buckle geführt in der
Einleitung zu seiner „Geschichte Englands“, in Deutsch-
land hat besonders F. A. Lange diesen Gesichtspunkt
betont.
Die empirischen Erscheinungsweisen des menschlichen
Handelns sind so ungemein verwickelt, daß sie der theore-
tischen Erfassung und Reduktion auf ihre kausalen Fak-
toren geradezu unübersteigliche Hindernisse entgegen-
stellen. Smith hatte nun zum Aufbau seines national-
ökonomischen Systemes nötig, die Handlungen der Men-
schen kausal zu begreifen. Mit sicherem Takte griff
er die Hauptursache heraus, nämlich den Egoismus, und
formulierte seine Annahme so, daß alle menschlichen
Handlungen, vornehmlich diejenigen geschäftlicher und
nationalökonomischer Natur, so betrachtet werden können,
als ob ihr treibendes Motiv einzig und allein der Egois-
mus wäre. Hier werden also alle anderen Nebenursachen
und mitbedingenden Faktoren, wie z. B. Wohlwollen,
Gewohnheit usw. vernachlässigt. Mit Hilfe dieser ab-
strakten Ursache nun gelang es Smith, die ganze National-
20 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
Ökonomie in ein geordnetes System zu bringen. Aus
diesem axiomartig aufgestellten Satze entwickelte er de-
duktiv alle Verhältnisse des Handels und Verkehrs,
welche sich mit systematischer Notwendigkeit daraus
ergeben. Damit hängt die Annahme der j, Harmonie aller
Sonderinteressen“ enge zusammen, eine Annahme, die als
Fiktion höchst wertvoll, aJs Hypothese oder Dogma ge-
radezu verderblich ist.
Es sind dies aber nur provisorische Annahmen, welche,
obwohl konsequent durchgeführt, sich dennoch sehr
scharf von Hypothesen imterscheiden : denn sie sind
oder sollen wenigstens von dem Bewußtsein
begleitet sein, daß ihnen die Wirklichkeit
nicht entspricht, und daß sie absichtlich nur
einenBruchteil der Wirklichkeitan die Stelle
der ganzen Fülle der Ursachen und Tatsachen
setzen.
Diese künstliche Methode wird überall da angewandt,
wo solche veiAvickelten Verhältnisse stattfinden, also ins-
besondere in der Behandlung der nationalökonomischen
Fragen, der sozialen Beziehungen, der moralischen Ver-
hältnisse.
Es gibt noch ein Gebiet, wo vermittels dieser Methode
höchst fruchtbare Ergebnisse gewonnen werden, die
theoretische Mechanik.
In diesem Gebiet sind die Erscheinungen so verwickelt,
daß häufig solche abstrakten Ursachen allein als kausale
Faktoren angenommen werden, während man andere
einstweilen vernachlässigt. Gerade in der Berechnung
der mechanischen Verhältnisse der Körper werden zur
leichteren Ausführung dieser Berechnungen Neben-
ursachen vernachlässigt, und die ganze mechanische Be-
wegung usw. betrachtet, als ob sie nur von jenen ab-
strakten Faktoren abhinge.
Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Gebiete, auf
denen diese Methode mit mehr oder weniger Erfolg an-
gewandt worden ist: z. B. gehören in diese Klasse alle
jene an die Condillacsche Fiktion einer Statue sich
anlehnenden Vorstellungsgebilde, wie sie auch neuer-
dings z. B. von Steinthal wieder zur Erleichterung
der psychologischen Betrachtung angenommen werden.
Abstrakte Fiktionen.
21
Die psychologischen Verhältnisse speziell sind so ver-
wickelt, daß gerade hier apriori solche Fiktionen, welche
zunächst nur ein Moment zur Geltung bringen und
andere vernachlässigen, um so die Berechnung prak-
tischer anstellen zu können, wohl möglich und denkbar
sind. Seit man in der Psychologie die Analogie der
psychischen Phänomene mit mechanischen Vorgängen
durchgeführt hat, hat diese Methode auch in der ab-
stralden Psychologie Platz gegriffen. Man könnte auch die
H e r b a r t sehen Gesetze und sonstige yAnnahmen desselben
als Fiktionen von praktischem Werte nachweisen, an-
statt sie als Hypothesen wie bisher anzusehen.
Neuerdings hat sich auch Steinthal mit dieser Me-
thode versucht und theoretische Formeln auf gestellt,
welche nur durch Vernachlässigung vieler empirischer
Faktoren gewonnen sind.
Dagegen ist apriori nichts einzuwenden; im Gegenteil,
es ist höchst wahrscheinlich, daß auf diesem Wege etwas
Erhebliches gewonnen werden kann. Es bewegt sich ja
auch die abstrakte Mechanik in lauter solchen
Formeln, welche nur durch Vernachlässigung \deler em-
pirischer Data gewonnen sind und die Vorgänge immer
so betrachten, als ob sie nur von jenen einfach formu-
lierten Gesetzen abhingen. Es ist klar, wie nahe indessen ‘
diese Fiktionen mit bloßen Proben und Versuchen Zu-
sammenkommen, d. h. mit solchen Versuchen, wo-
bei wie in der Berechnung mathematischer Aufgaben
zunächst ganz beliebige Werte angenommen und all-
mählich „durchprobiert“ werden.
Überall wo vei-wickelte Umstände vorhanden sind,
welche die Darstellung und Berechnung erschweren, tut
diese kunstreiche Methode die besten Dienste. Leider
macht sich aber schon hier die in der Geschichte der
Wissenschaft oft unheilvolle Verwechslung solcher Fik-
tionen mit Hypothesen, welche mehr oder weniger
auf Wirklichkeit Anspruch machen, in störender Weise
geltend sowohl bei denen, welche solche Vorstellungs-
gebilde zuerst formieren, als bei denen, welche sie dann
weiter verbreiten.
Oft ist es aber auch wirklich noch streitig, ob eine
solche Annahme Hypothese oder Fiktion sei; allein hier
22 Erster Teil: Prinzipielle GniiHllejiiQg. A. Aufzählung d. Fiktionen.
macht sich oft der wissenschaftliche Unverstand sehr
miangenehm bemerkbar, indem meist ans der Unrich-
tigkeit solcher V orstellungsgebilde auf ihre Unbrauch-
barkeit geschlossen wird. Dieser Schluß ist aber
gerade so falsch, wie der umgekehrte aus
der Brauchbarkeit auf die Richtigkeit. Eine
Einsicht in den psychologischen Zusammenliang und Ur-
sprung alles Erkennens zeigt, daß vieles theoretisch
unrichtig sein kann und doch praktisch frucht-
bar, wobei praktisch im weiteren Sinn genommen ist.
Ein solch streitiger Punlct war die Frage, ob es ur-
sprünglich wirklich Sprach wurzeln gegeben habe, ob
die Menschen seinerzeit eine Periode des Sprechens
gehabt haben, wo nur Wurzeln existierten, oder ob
diese flexionslosen Wurzeln nur Anhaltspunkte für die
grammatische Rechnung seien. Ähnlich ist es mit der
Annahme eines vor sprachlichen Zustandes des
Menschen; nach den einen ist dies eine berechtigte Hypo-
these, nach anderen ist dies eine bloße Fiktion, um die
psychologische Untersuchung der Menschen zu erleich-
tern, da die Verhältnisse hierbei ungemein verwickelter
Natur sind.
Die Produktion solcher Fiktionen ist in letzter Zeit
sehr stark übertrieben worden. Indessen sind doch auch
brauchbare Vorstellungsgebilde darunter. Hierher gehört
z. B. die Fiktion eines einzelnen Menschen-
individuums, um so besser lernen zu können, wie der
Mensch sich sprachlich oder psychologisch ent-
wickelt. Auch Wer wird ein notwendiges Element negli-
giert, die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Hier
sind gleichzeitig wirksame Ursachen als zeitlich nach-
einander wirkend gedacht, um so durch Isolierung
des einzelnen ihre Wirkungsweise besser beobachten
zu können. Diese Art von Behandlung des wissenschaft-
lichen Materials dient, wie bemerkt, bald rem theoreti-
schen, bald mehr oder minder praktischen Zwecken.
In prinzipieller Verwandtschaft stehen damit auch die
Durchschnittsfiktionen, d. h. solche Fiktionen, wo
aus einer Menge graduell verschiedener Erscheinungen
das Mittel dieser abweichenden Grade genom-
men wird und als Rechnungsansatz dient. Diese Mittel
Abstrakte Fiktionen.
23
zahl ist eine fingierte Zahl, mit welcher nur gerechnet
wird. Besonders in der angewandten Mathematik (u. a.
auch in der Statistik, sowie in der Meteorologie usw.)
sind diese Methoden sehr üblich. Auch hier werden kleine
Unterschiede der Wirklichkeit negligiert. Streng durch-
geführt, führen solche Fiktionen auf Wider-
sprüche mit der Wirklichkeit. Verwechslung sol-
cher Amialimen und Produkte, welche aus diesen Me-
thoden hervorgehen, mit Hypothesen ist auch bei dieser
Abart nicht selten, jedoch nicht so häufig, wie bei den
obengenannten abstraktiven Fiktionen.
Eine berühmte Fiktion der Statistik ist der homme inoyen von
Quetelet, d. h. die Fiktion eines normalen Durchschnitts-
menschen. Diese Fiktion ist aber nicht bloß in der Statistik von
Wert: auch die Medizin fingiert z. B. den Begriff eines absolut ge-
sunden Menschen, eines Durchschnittsmenschen, bei dem alle ab-
normen Abweichungen aufgehoben sind. An dieser Stelle sind wolii
auch alle diejenigen willkürlichen Bestimnnmgen in den Wissen-
schaften einzureihen, wo, wie z. B. im Meridian von Ferro, oder
z. B. in der Bestimmung des Nullgrades oder in der Aus-
wahl des Wassers als Maßstab des spezifischen Gerichts oder der
willkürlich fixiert werden, von denen aus nach verschiedenen Seiten
hin gleichsam Koordinaten gezogen werden zur Bestimmung und
Einreihung der Erscheinungen.
Himmelsbewegungen als Index der Zeit, gewisse Anhaltspunkte
Noch ist zu bemerken, daß das ganze begriffliche klassifika-
torische System, die Unterscheidung der Begriffe überhaupt auf Ab-
straktionen einseitigster Art beruht, wie Lotze in seiner Logik sehr
klar ausführt. Vgl. Pfleiderer, Der moderne Pessimismus, pag. 81 :
„Licht und Finsternis, Schwarz und Weiß, Leben und Tod sind lauter
Kunstprod'u kte denkender Abstraktion: notwendig in dieser
ihrer Inkorrektheit als bloßer Anhalt, aber in der Anwendung aufs
Wirkliche stets mit bedachter Vorsicht zu brauchen.“
Als Abarten der bisher geschilderten Klasse sind nun
noch einige Methoden aufzuzählen: so die Approxima-
tionsmethode, wo zuerst eine abstrakte Lösung für
ein Problem aufgestellt wird und dann diese Lösung (ein
Begriff, eine Zahl usw.) durch Durchprobieren und
Experimentieren allmählich der Wirklichkeit immer mehr
akkommodiert wird. Diese Methode ist besonders in den
mathematischen Wissenschaften üblich, wo die Kom-
pliziertheit der Aufgabe eine andere Behandlung nicht
zuläßt. Prinzipiell sind die Versuchsmethoden oder ten-
tativen Fiktionen von den neglektiven nicht ver-
schieden. Die Sokratisch-Platonische Methode,
24 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
Definitionen zu suchen, indem zuerst eine beliebige vor-
läufig fingiert wird, und dann diese der Wirklichkeit all-
mählich angenähert wird, ist damit prinzipiell identisch.
Kapitel IIL
Schematische, paradigmatische, utopische und
typische Fiktionen.
Schematische Fiktionen. Diese Gattung spielte
schon in die beiden vorhergehenden herein : sowohl in der
Klassifikation als bei den abstraktiven Fiktionen werden
Schemata, allgemeine Typen auf gestellt, welche nackt
und von den vielen, die Berechnung hemmenden Merk-
malen der Wirklichkeit entkleidet sind. Indessen bilden
sie doch mit Recht hier eine eigene Gattung. Während
bei den abstraktiven Fiktionen ein gewisser Teil der
Wirklichkeit gleichsam weggeschnitten und auf die Seite
gelegt wird, und nur der übrig bleibende berücksichtigt
wird, wird bei den schematischen Fiktionen ein Gerüste,
sozusagen das Knochengerüste eines bestimmten Kom-
plexes herausgestellt, und an diesem nackten^ der vollen
Wirklichkeit entkleideten Bilde wird dann die Denkrech-
nung vollzogen. Die Verschiebung der Wirklichkeit ist
aber hier schon weiter vorgeschritten als in den vorher-
gehenden Gattungen. Auch hier wird ein abstrakt-sub-
jektives Vorstellungsgebilde formiert, um an ihm, statit
an der viel verwickelteren Wirklichkeit, die theoretische
Berechnung anzustellen. Man studiert hier die Gesetze
der Wirklichkeit gewissermaßen an einfacheren Mo-
dellen, welche zwar das Wesentliche des Wirklichen
enthalten, aber in einer viel einfacheren und reineren
Form. Schon die schematischen Zeichnungen in
vielen Wissenschaften geben eine Idee von dieser Me-
thode, welche in manchen Wissenschaften eine ausge-
breitete Anwendung findet.
Man kann diese Formen auch die Fildion der ein-
fachen Fälle nennen. Das typische Beispiel für diese
Gattung ist die sogenannte Thünensche Idee, eine
nalionalökonomische Fiktion, deren Aufstellung im An-
Schematische, paradigmatische, utopische und typische Fiktionen. 26
fang des XIX. Jahrhunderts durch Thünen eine Reform
der Nationalökonomie herbeigeführt hat. Diese Idee ist
auch das historisch berühmteste Beispiel dieses methodo-
logischen Hilfsmittels. Die Idee besteht darin, daß, um
die landwirtschaftlichen Verkehrsverhältnisse usw. besser
berechnen zu können, eine Stadt fingiert wird^ um welche
sich in konzentrischen Zonen die verschiedenen Sphären
lagern, aus denen die zur Erhaltung der Stadt notwen-
digen Befriedigungsmittel gezogen werden. Mit Hilfe
dieses genialen Kunstgriffes werden nun alle landwirt-
schaftlich-nationalökonomischen Gesetze systematisch ab-
geleitet. Diese Art von Fiktionen sind gerade in der
Nationalökonomie sehr verbreitet. Die schematische Fik-
tion eines isolierten Menschen, einer isolier-
ten Stadt (oder Insel), eines isolierten Staa-
tes usw. gehören hierher. Ferner werden ähnliche Sche-
mata auch sonst zur Berechnung und Ableitung theoreti-
scher Gesetze in den sozialen Wissenschaften überhaupt
angewandt. Besonders Dühring hat sich mit großem
Glücke dieser Methode in seinen nationalökonomischen
Schriften bedient, indem durch Fiktion solcher Schemata
der denkbar einfachsten Fälle die sozialen Grundgesetze
auf ganz einfache Weise deduktiv abgeleitet werden.
Nahe verwandt mit diesen Formen sind die para-
digmatischen Fiktionen oder fingierten Fälle.
Besonders in der Beweisführung werden Fälle fin-
giert, an denen das zu Beweisende als vorhanden nach-
gewiesen wird.
Diese Methode der fingierten Fälle ist eine in allen
Wissenschaften beliebte; so z. B. hat sich Locke dieser
Methode bedient, um die Entstehung von Substanznameii
begreiflich zu machen. Eine besonders häufige, hierher
gehörige Gattung sind die rhetorischen Fiktionen,
wo eben auch zur Beweisführung Fälle fingiert werden.
Als eine weitere Gattung, welche aber auch als eine
besondereAbart der schematischen Fiktionen behandelt wer-
den könnte, lassen sich die utop i sehen Fiktionen be-
trachten. Der Name, den ich dieser Gattung gebe, rührt her
von den besonders in früheren Jahrhunderten so beliebten
Utopien oder Fiktionen, wie sie z. B. Morus und
Campanella aufstellten. Auch das Platonische
26 Elster Teil; Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
Staats ideal ist hier als das historisch erste Beispiel
dieser Methode zu nennen. Ebenso gehört liierher die be-
sonders im 18. Jahrhundert beliebte, noch bei Fichte
wichtige Fiktion eines Urstaates.
Ferner gehört hierher die Idee eines Urgeistes oder
Weltgeistes, wie sie z. B. Du B o is-B.ey mondin seinem
bekannten Vortrag i) zur Verdeutlichung und theoretischen
Ableitung einer streng wissenschaftlichen Gedankenreilie
mit großem Glück anwaiidte. Ferner ist die Platonische
Idee eines (hermaphroditischen) Urmenschen hier zu
erwähnen, endlich die Fiktion von Urrechten, Ur-
r e 1 i g i o n e n , eines Urvertrages, der Urtradition,
und eine ganze Reihe ähnlicher Gedanken, welche mehr
oder minder von Wert sind oder waren. Freilich war
gerade hier die wissenschaftliche Phantasie oft in zügel-
loser Weise tätig. Solange aber solche PÜktionen eben
nur als das gelten, was sie sind, und nicht für Hypo-
thesen ausgegeben werden, können sie der Wissen-
schaft oft wirklich erhebliche Dienste leisten.
Als eine weitere, mit der bisherigen eng zusammen-
hängende Art zähle ich die typische Fiktion oder die
fingierte Urform auf. Hier wird aus einer Reihe
von Wesen ein Art b i 1 d , ein Typus gebildet, aus dem nun
nicht nur die Gesetze der einzelnen Wesen allgemein
abgeleitet werden, sondern auch die Fülle dieser selbst
als Modifikationen begriffen wird. Bei dieser Gattmig
besonders spielen Fiktion und Hypothese oft wun-
derlich ineinander. Das klassische Beispiel hierfür ist
für uns die Idee Goethes von der Ur pflanze und dem
Urtier. Diese Frage hat neuerdings besonderes Interesse
gewoimen durch den Dai’winismus. Es fragt sich erstens,
wie Goethe die Idee der „Urpflanze“ gemeint hat, ob
als Fiktion oder als Hypothese, zweitens, ob denn
mm nach dem heutigen Stand der Wissenschaft die
historische Existenz einer solchen Urpflanze anzu-
nehmen sei, und ob sogar die bloß fiktive Auf-
stellung einer solchen Urform noch wissenschaftlich
zweckdienlich sei. Charakteristisch und für die Theorie
dieser Fiktion nicht ohne Bedeutung ist die bekannte
1) über die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig 1872.
Symbolische Fiktionen.
27
Schi Ile rsche Äußerung hierüber: „Diese Urpflanze ist
nur eine Idee“, womit er eben in Kantischer Termino-
logie sagte, sie sei eine ideale oder typische Fiktion.
Kapitel IV.
Symbolische (analogische) Fiktionen.
Eine weitere, für die Wissenschaft höchst wichtige
Gattung nenne ich tropische Fiktionen; man kami sie
auch symbolische oder analogische nennen. Sie
sind nahe verwandt mit den poetischen Gleichnissen,
sowie mit dem Mythus. Bei diesen ist der Mechanismus
des Denkens folgender: Eine neue Anschauung wird apper-
zipiert von einem Vorstellungsgebilde, in dem ein ähn-
liches Verhältnis, eine analoge Proportion ob-
waltet, wie in der beobachteten Wahrnehmungsreihe. In
solchen Fällen bilden Verhältnisse die apperzipie-
rende Macht. Dies ist auch zugleich der formale Ur-
sprung der Poesie.
Besonders beliebt sind diese Arten Fiktionen in der
wissenschaftlichen Theologie. An der Spitze
dieser Methode steht die Schl eie r mach er sehe An-
wendung derselben. Bei der ungeheueren AVichtigkeit
dieser Methode für die theologische Wissenschaft werden
wir auf diesen Fall ganz besonders eingehen müssen.
Das Eigentümliche hierbei ist, daß Schleiermacher und
mit ihm seine Schule die meisten Dogmen als solche
analogischen F iktionen ansehen, welche eben nur
provisorische Hilfsgebilde sein sollen, weil das eigent-
liche metaphysische Verhältnis uns unfaßbar bleibt. So
wird also z. B. das Verhältnis Gottes zur Welt, das für
den Philosophen Schleiermacher vollständig unerkenn-
bar ist, von dem Theologen Schleiermacher nach der
Analogie des Vaters zu seinem Kinde auf gef aßt usw. Es
ist dies keine rationalistische Umdeutung der Dogmen,
sondern eine feine erkenntnistheoretische Wen-
dung, ein Kunstgriff, durch den Schleiermacher Tau-
sende dem Christentum erhalten hat. „Gott“ ist nicht
„Vater“ der Menschen, aber er ist so zu betrachten und
28 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzilhlung d. Fiktionen.
ZU behandeln, als ob er es wäre; diese Wendung hat
dann wieder ungeheuere Wichtigkeit für die religiöse
Praxis und den Kult. Durch diese Wendung werden
dann durch Schleiermacher ähnlich alle Dogmen aus
Hypothesen in Fiktionen verwandelt. Wie nahe
indessen diese analogischen Fiktionen den Mythen
stehen, wurde schon oben ausgedrückt. Durch diese Be-
trachtungsweise wird die Schleiermachersche Religions-
philosophie methodologisch richtig gefaßt. Schleiermacher
selbst war sich dieser seiner l^ünstlichen und kunstreichen
Methode wohl bewußt, ohne daß er sie jedoch gerade so
bezeichnete, wie wir es hier tun. Wie nahe diese Wen-
dung mit der von Schleiermacher fleißig studierten
Kan tischen Philosophie zusammenhängt, liegt, obwohl
es noch nie deutlich hervorgehoben worden ist, auf der
Hand, wie überhaupt die Kantische Philosophie auch in
der Folge für unser Thema ein hochbedeutsames Interesse
gewinnen wird.
Diese analogische Methode ist wie in der Theologie so
in der Metaphysik heimisch. Die Kategorien sind
solche erkennt nistheoretischenAnalogien. Die
Kategorien sind nur analogische Fiktionen; so werden
sie eingereiht in die methodologische Einteilung und
finden hier ihren systematischen Ort. Nach Analogie
menschlicher, subjektiver Verhältnisse wird das Wirk-
liche gedacht, und muß es gedacht werden. Alle Er-
kenntnis kann, wenn sie nicht bloß tatsächliche Sukzes-
sion und Koexistenz feststellt, nur analogisch sein.
Hier zeigen sich die Grundlinien dessen, was man
eine Theorie des Begreifens, eineKomprehensiorialtheorie
nennen kann. Alles Erkennen ist Apperzipieren durch
ein anderes. Es handelt sich also stets um’ eine Analogie
beim Begreifen. Es ist auch gar nicht abzusehen, wie
denn überhaupt das Sein anders als so begriffen werden
sollte. Wer den Mechanismus des Denkens kennt, weiß,
daß alles Begreifen und Erkennen auf analogischen Apper-
zeptionen beruht. Die einzigen Vorstellungsgebilde, mit
denen die gegebenen Dinge apperzipiert werden können,
sind entweder die entsprechenden Allgemeinbegriffe oder
auch andre konkrete Dinge. Da diese aber lediglich selbst
wieder unbegreiflich sind, so wird mit all diesen Ana-
Symbolische Fiktionen.
29
logien nur ein Scheinbegreifen erzeugt. Aus dem Me-
chanismus des Denkens, wie ihn besonders Steinthal auf-
gedeckt hat, folgt eben mit absoluter Sicherheit dasselbe,
was Kant erkenntnistheoretisch mühselig nachwies, daß
ein Begreifen der Welt absolut unmöglich sei, nicht weil
unser Denken zu eng bemessen ist — dies ist eine dog-
matisch-schiefe Wendung — , sondern weil eben alles
Begreifen immer nur in Kategorien erfolgt, welche eben
in letzter Linie nur analogische Apperzeptionen sind.
Durch diesen wichtigen Beweis der Unerkennbarkeit und
Unbegreiflichkeit der Welt wird dem Begreifen seine
Richtung klar vorgezeichnet und allem dogmatischen
Grübeln ein Ende gemacht. Wir gewinnen auf einem ganz
anderen Wege das Resultat der Kantischen Philosophie,
daß die Kategorien nicht zum Erfassen der Wirklichkeit
tauglich sind, daß sie als analogische Fiktionen keine
wahre Erkenntnis gewähren können.
Die Erkenntnis, daß die Kategorien nur analogische Fik-
tionen seien, ist durch Locke, Leibniz, Kant u. a.
vorbereitet.
Zu bemerken ist insbesondere, daß auch die besonde-
ren, im XVIII. Jahrhundert der Logik angehängten Er-
örterungen über symbolische Erkenntnis (ein von
Leibniz eingeführter Ausdruck) eng mit dem Gesagten
Zusammenhängen.
Besonders sind hier Maimons Erörterungen lobend
zu erwähnen; alle diese oft sehr scharfsinnigen Er-
örterungen des XVIII. Jahrhunderts sind vergessen wor-
den im Taumel der absoluten dogmatischen Philosophie.
Maimon insbesondere faßt das ganze Ergebnis der Kanti-
schen Philosophie ganz richtig dahin zusammen, daß nur
symbolische Erkenntnis möglich sei.
Unter denjenigen, welche die symbolische Erkenntnis zum
Gegenstand der Untersuchung machten, ist Lambert zu nennen;
unter den unmittelbaren Vorgängern Kants ist dieser der scharf-
sinnigste, wie unter den Nachfolgern Maimon. Lamberts Orga-
non enthält im II. Teil einen ausführlichen Abschnitt über die sym-
bolische Erkenntnis, in welchem schon viele Resultate Kants ante-
zipierl sind. Das ganze diskursive Denken ist symbolisch in zwei-
facher Hinsicht: 1. insofern es mit Symbolen im mathematischen
Sinne rechnet, 2. insofern alle dadurch gewonnene Erkenntnis nur
eine Art Gleichnis, Bild, Gegenstück des Wirklichen schafft, nicht
aber dieses selbst erkennen läßt, wenigstens nicht in adäquater
30 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
Form. Ein Erkennen des Wirklichen in adäquater Form führt auf
den Begriff der intuitiven Erkenntnis oder intellektuellen Anschauung
also wiederum eines fiktiven Begriffes von methodischem, aber
nicht von objektivem Wert.
Man hätte auf diesem Wege weitergehen sollen: so hätte
man sich das Kantische Resultat rein bewahrt; freilich
hatte dieser große Philosoph selbst seine ruhmreichen
Entdeckungen mit den Rettungsversuchen abgelebter ratio-
nalistischer Dogmatik befleckt und so selbst dazu bei-
getragen, daß seine richtigen Resultate begraben und
vergessen wurden.
Hier sehen wir nun sogleich, wie alle logischen Resul-
tate zugleich erkenntnistheoretische Bedeutung gewinnen.
Indem die Kategorien unter den Gesichtspunkt ana-
logischer Fiktionen gerückt werden, erhält die
ganze Erkenntnistheorie ein anderes Ansehen. Sie sind
damit als bloße Vorstellungsgebilde erkannt, welche zur
Apperzeption des Gegebenen dienen. Dinge, welche
Eigenschaften haben, Ursachen, welche wirken, sind
Mythen.
Man kaim nur sagen, daß sich die objektiven Er-
scheinungen so betrachten lassen, als ob sie sich so
verhielten; aber nimmermehr besteht ein Recht, hier
dogmatisch aufzutreten und das „als ob“ in ein „daß“
zu verwandeln.
Sowie nun solche Analogien als Hypothesen auf-
gefaßt werden, so entstehen alle jene Systeme in Theo-
logie und Philosophie, welche die dadurch entstehenden
Widersprüche aufklären wollen. Welche Mühe und Zeit
hat man daran verschwendet, z. B. das Vaterverhältnis
Gottes zu Christus klarzustellen; und wie einfach löst
Schleiermacher dies! Noch viel näher liegen uns
aber jene mannigfachen Versuche, die Substanz und ihr
Verhältnis zu ihren Attributen zu bestimmen, die Ursache
und ihr Verhältnis zur Wirkung usw.
Solche analogischen Fiktionen sind sehr verbreitet und
auch in anderen Wissenschaften sehr beliebt. Sehr häufig
aber erhebt sich die wichtige Frage, wie weit eine solche
Analogie „real“ sei, wie weit sie hypothetisch, wie
weit sie fiktiv sei. Diese Frage ist z. B. wich-
tig bei der neuerdings so beliebten Analogie des
Symbolische Fiktionen.
31
Staates oder einer sozialen Gesellschaft mit einem
Organismus; gerade hier bei solchen Fragen macht
sich unter den Streitenden der Mangel einer logischen
Theorie dieser Methode sehr unangenehm fühlbar. Selbst
da, wo solche Analogien rein fiktiv sind, wie z. B. bei
der Vergleichung der Gesellschaft mit einem mensch-
lichen Organismus, dienen sie doch oft zur Ableitung
richtiger theoretischer Gesetze.
Dieselbe Quelle ist aber auch der Ursprung vieler
Irrtümer, wo dann solche Fiktionen unvorsichtig für
reale Analogien genommen und die so abgeleiteten
Gesetze der Wirklichkeit ungeprüft substituiert werden.
Der Irrtum entspringt eben ganz genau aus denselben
Ursachen, wie die Wahrheit; und wie in der Natur die-
selben blinden Gesetze, je nach den Umständen, Scha-
den oder Nutzen bringen — sie sind zweisclmeidig — so
auch in dem Gebiete des Geistes, wo aus denselben Ge-
setzen Gutes und Schlimmes entspringt. Die Logik hat
um so mehr auch die Aufgabe, den Irrtum zu erklären,
als die Grenzen zwischen Irrtum und Wahrheit keine
scharfen sind, wie ja aus dem Vorhergegangenen erhellt,
indem die Anwendung einer Fiktion halb auf Wahrheit,
halb auf (absichtlichem) Irrtum beruhen kann. Die Lo-
giker des XVIII. Jahrhunderts hielten es stets für ihre
Pflicht, auch den Irrtum weitläufig in das logische System
hereinzuziehen. Es ist also — wir haben schon mehr-
fach darauf hingewiesen — streng zu unterscheiden zwi-
schen realen Analogien, welche aufzufinden Sache
der Induktion und Hypothese ist, und zwischen bloß
fiktiven Analogien, welche bloß Sache der sub-
jektiven Methode sind. Daß ich also zu einer Erschei-
nung eine andere unmittelbar und notwendig sukze-
dierende, und antezedierende aufsuche — nach dem
Gesetz der Kausalität — ist Sache einer realen Ana-
logie; ich habe so oft bemerkt, daß jeder Erscheinung
andre folgen und vorhergehen, daß ich berechtigt bin,
den Analogieschluß zu bilden, daß auch bei dieser speziell
vorliegenden Erscheinung dieser Fall zu statuieren sei.
Daß ich aber dieses ganze Verhältnis der unab-
änderlichen Sukzession „Ursache und Wirkung“ heiße
und mit der Kategorie der Kausalität apperzipiere, ist
32 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A’ Aiifzählimg d. Fiktionen.
Sache einer analogischen Fiktion, indem zwar
wohl das Verhältnis des Willens zu seiner Handlung
eine reale Analogie mit der unabänderlichen Sukzession
ist, nicht aber kann ich umgekehrt die Glieder der unab-
änderlichen Sukzession mit Namen aus der subjektiven
Sphäre bezeichnen; real-anal.ogisch ist also hier die
Form der Verhältnisse; dagegen eine analogische
Fiktion ist die materielle Gleichstellung der unab-
änderlichen Sukzession mit der Sukzession der Handlung
auf den Willen.
Kapitel V.
Juristische Fiktionen.
Eine speziellere Abart der vorigen sind die juristi-
schen Fiktionen. Der Name der Fiktionen ist bis
jetzt nirgends besser bekannt als in der Rechtswissen-
schaft, wo sie ein beliebtes Kapitel bilden. Sie sind
prinzipiell ganz identisch mit den vorigen. Der psycho-
logische Mechanismus ihrer Anwendung besteht auch
darin, daß ein einzelner Fall unter ein für ihn nicht
eigentlich bestimmtes Vorstellungsgebilde subsumiert
wird, daß also die Apperzeption eine bloß analoge
ist. Der Grund dieser Methode ist folgender: Weil die
Gesetze nicht alle einzelnen Fälle in ihren Formeln um-
fassen können, so werden einzelne besondere Fälle ab-
normer Natur so betrachtet, als ob sie unter jene ge-
hörten.- Oder aus irgendeinem praktischen Interesse wird
ein einzelner Fall einem allgemeinen Begriff subsumiert,
dem er eigentlich nicht angehört. Wer mit der Methode
der Rechtswissenschaft bekannt ist, kann ermessen, wie
ungeheuer wichtig dieser Kunstgriff für die juristi-
sche Praxis ist; er ist für sie ebenso unentbehrlich,
als er es in der Mathematik ist. Freilich haben die
Logiker mit einer verschwindenden Ausnahme sich dieses
Beispiel entgehen lassen, weil sie überhaupt nicht ein-
sahen, daß die Logik ihr Material aus der le-
bendigen Wissenschaft zu entnehmen habe.
Neben der Mathematik gibt es fast kein Gebiet, das zur
Deduktion logischer Gesetze und Illustrierung
öder Entdeckung logischer Methoden passender wäre.
juristische Fiktionen.
'6‘6
als das Jus. Dies beruht auf einer prinzipiellen V^er-
wandtschaft beider Gebiete. Es ist eben der Reiz und
Nutzen solcher methodologischen Betrachtungen, zu beob-
achten, wie die Psyche in ganz verschiedenen Ge-
bieten nach einem gleichen Prinzip verfährt.
Es ist daher nicht merkwürdig, sondern natürlich, daß
auch nur in der Mathematik und im Jus bisher diese
Fiktionen eine ausgedehntere theoretische Behandlung,
aber meist nur von Denkern dieser Wissenschaften selbst,
erfahren haben. Merkwürdig ist nur die Achtlosigkeit
der Logiker, welche diese Gebiete sich entgehen ließen.
Der apriorische Weg zur Feststellung der Kunstregeln
muß notwendig ergänzt werden durch rein induk-
tive Beobachtung des logischen Verfahrens
in den Wissenschaften selbst. Nur die ganz ge-
naue Beschäftigung mit dem Verfahren der einzelnen
Wissenschaften befähigt, fruchtbare logische Regeln
aufzustellen, und die Aufstellungen solcher sind denn
auch nur von solchen ausgegangen, welche mit den
Spezialwissenschaften in ungewöhnlichem Umfange be-
kannt waren, von Aristoteles und Baco. Auch die
Logiker Englands, sowie die Deutschlands im XVIII. Jahr-
hundert haben hierin Bedeutendes geleistet. Nur eine
universalistische Kemitnis des wissenschaftlichen Ver-
fahrens in allen Gebieten ermöglicht, logische Entdeckun-
gen zu machen.
Es ist interessant, zu sehen, wie die scheinbar so ent-
legenen juristischen Fiktionen, prinzipiell ganz identisch
sind mit den in den vorigen Paragraphen behandelten
erkenntnistheoretischen.
Das straffe Band, welches hier die Ordnung bestimmt,
ist einzig und allein die Methode und ihr Prinzip.
Unsere Einteilung, so sehr es scheinen könnte, als wer-
den hier verschiedene Dinge zusammengeworfen, wird so-
fort als eine prinzipielle,' sehr notwendig gebotene und
richtige erscheinen, wenn eben der Maß stab des
methodologischen Prinzip es, auf das es hier
einzig und allein ankommt, angelegt wird. Wir wollen
hier nun beobachten, wie die logische Funktion
in ganz verschiedenen Gebieten immer wieder die-
selben Kunstgriffe anwendet.
Vaihinger, Philosophie.
3
34; Erster Teil: Prinzipielle Gnmdlegang. A. Aufzählung d. Fiktionen.
Die fictiones juris sind ein weites Gebiet. Dafür bieten
sie aber auch methodologisch ein äußerst fruchtbares
Material und enthüllen den wunderbaren Mechanismus
des Denkens und seiner Kunstgriffe. Ein Eingehen auf
juristisches Detail wird hier ebensowenig zu vermeiden
sein, wie bei der Mathematik, Nationalökonomie, Theo-
logie, Erkenntnistheorie usw.; die Logik hat bisher viel
zu Vv'enig sich auf die detailliertere Analyse ganzer wissen-
schaftlicher Gedankenreihen und Methoden eingelassen.
Nur ein liebevolles Eingehen auf die Wege des Denkens
gibt Aufschluß über die Methode der logischen Funktion
und der oft wunderbaren Umwege, welche sie einschlägt.
Auch in der fictio juris wird etwas Nicht-Geschehenes
als geschehen oder umgekehrt betrachtet, oder es wird
ein Fall unter ein analoges Verhältnis gebracht in einer
Weise, die der Wirklichkeit schroff widerspricht. Das
römische Recht ist ganz davon durchzogen; unter den
neueren Völkern hat die juristische Fiktion besonders in
England Fortbildung erfahren.
Ein weiterer, besonders interessanter Punkt hierbei
ist das Verhältnis der fictio juris zur praesumtio juris.
Die letztere ist die juristische Hypothese, die erstere ist
die juristische Fiktion; auch in der juristischen Theorie
und Praxis sind beide oft verwechselt worden, und ihre
Distinktion ist ein beliebtes juristisches Problem. Die
praesumtio ist eine Vermutung, die fictio ist eine
absichtliche, eine bewußte Erfindung.
Die enormen praktischen Vorteile dieser Methode sind
ebenso groß, daß sie stets wieder angewandt wird,
z. B. im neuen deutschen Handelsgesetzbuch § 377 Ab-
satz 2, wo die Bestimmung getroffen ist, daß eine nicht
rechtzeitig dem Absender wieder zur Verfügung gestellte
Ware zu betrachten sei, als ob sie vom Empfänger de-
finitiv genehmigt und akzeptiert sei. An einem solchen
Beispiel ist so recht die prinzipielle Identität der ana-
logischen Fiktionen, z. B. der Kategorien, mit dieser
juristischen Fiktion zu studieren.
Bei dem Falle, wo die Aimahme der Ware durch den
Empfänger genehmigt ist, ist nämlich das Zeit Ver-
hältnis wichtig, in welchem keine Rücksendunng und
Remonstration erfolgt. Dieses Verhältnis wird nun als
Personifikative Fiktionen.
35
das apperzipierende aufgestellt in dem ähnlichen Fall,
wo ein Empfänger eine Ware zwar nicht akzeptieren
will, aber die rechtzeitige Remonstration versäumt; hier
wird also ein reines analoges Zeitverhältnis zwischen
zwei Fällen zum Grund einer sachlichen Identifizierung
des Inhalts. Diese Methode in der Rechtswissenschaft
ist ebenso notwendig zu einer fruchtbaren Praxis, als in
der Erkenntnistheorie: hier wäre die Begreiflichkeit un-
möglich ohne die analoge Apperzeption, dort die prak-
tische Behandlung des Falles. Die formale Handlungs-
weise der Seele in diesen beiden Fällen ist total iden-
tisch; und die Einsicht in diese formale Identität ist
darum wichtig, weil man sich so schwer daran ge-
wöhnt, den Wert der beiden Handlungsweisen auch
gleichzustellen: der praktische Wert ist groß und
oft unberechenbar; theoretisch ist damit nicht bloß
nichts erreicht, sondern es ist auch eine Abweichung
von der Wirklichkeit vorgenommen worden. Ohne
solche Abweichungen kann das Denlcen seine Zwecke
nicht erreichen; und das ist doch auch ganz natürlich:
denn wie sollte denn das Denken das gegebene Material
behandeln können und bearbeiten, ohne solche Ab-
weichung ? Gerade die Abweichung erscheint schließ-
lich als das Naturgemäße; es ist dringend notAvendig,
immer wieder auf diesen Umstand acht zu geben und
aufmerksam zu machen. Gewöhnlich hat man, wie schon
oben bemerkt, die entgegengesetzte Ansicht und schreibt
allen logischen Handlungen so lange Realität zu, bis
ihre Unrealität bewiesen ist. Unser methodisches Prinzip
ist umgekehrt. Das Auge des Philosophen ist geschärft
für die ganz gewaltigen Differenzen, welche zwischen
den formalen Verstandeshandlungen des Denkens und
zwischen dem Sein und Geschehen der Wirklichkeit be-
stehen.
Kapitel VI.
Personifikative Fiktionen.
Eine weitere Abart der analogischen Fiktionen, welche
aber auch eine besondere Behandlung verdient, sind die
personifikativen Fikti onen. Die Analogie, unter der
Erater Teil: Prinzipielle Gnindlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
hier die Erscheinungen erfaßt werden, ist die Vorstel-
lungsgruppe der Person. Die vorige Abart war eine
Anwendung der analogischen Fiktion in einem spe-
ziellen Gebiet; hier ist es eine spezielle Apperzep-
tionsform, welche wir behandeln.
Das gemeinsame Prinzip ist die Hypostase von
Phänomenen in irgendeiner Hinsicht, mag sich diese
Hypostasierung nun mehr oder weniger an das Bild der
Persönlichkeit anschließen. Dieses letztere ist auch der
eigentliche bestimmende Faktor in der Kategorie des
„Dinges“. Hierher gehört ferner eine ganze Pteihe wohl-
bekaimter Begriffe: z. B. Seele, Kraft, Seelenver-
mögen. Während diese Begriffsgebilde früher für den
Ausdruck realer Dinge gegolten haben, sieht man nun
dieselben für bloße Abbreviaturen an, für den zusaminen-
fassendeii Ausdruck einer Reihe von zusammenhängen-
den Phänomenen und Prozessen. Ferner gehören hier-
her alle spezielleren Kräfte, z. B. S c h av e r k r a f t , welche
als Kraft NeAvton selbst nur als Fiktion ansah; die
Phänomene sind natürlich real, aber die Zuschreibung der-
selben an eine Gravitations kraft ist eben nur ein zusam-
menfassender Ausdmck für die gesetzlichen Phänomene.
Ebenso ist es mit der Lebenskraft und einer großen
Reihe anderer Kräfte. Gerade jene galt früher allgemein
als eine relativ sichere Hypothese, jetzt gilt sie fast
ebenso allgemein bis auf einige Theologen und theo-
logische Naturforscher) als Fiktion. So äußert sich
auch Li e big in seinen „Reden und x^bhandlmigen“,
die unbekannten Ursachen seien nur Kinder der Ein-
bildungskraft, so z. B. der spiritus rector, Brennstoff,
Schallstoff, katalytische Kraft der Isomeren; die Lebens-
kraft sei eine Erfindung des Geistes, Gespenst usw.
Indessen wird das Wort als Hilfswort, als summarische
Zusammenfassung noch allgemein gebraucht, und es läßt
sich als Nominalfiktion (= Hilfswort) auch wohl nicht
entbehren. Weiter aber ist die Lebenskraft nicht mehr
zu gebrauchen, darüber hinaus wird sie eine schlechte
Fiktion.
Flier sinkt die Fiktion freilich zu der bloßen Nominal-
fiktion herab, d. h. der Begriff hat Aveiter keinen prak-
tischen Wert als den, der Zusammenfassung des Vielen
Personifikative Fiktionen.
37
und der Erleichterung der Ausdrucksweise zu dienen.
In solchen Worten ist eben nichts anderes gesagt, als was
die einzelnen Phänomene selbst sagen können.
Wenn man durch solche Worte resp. Begriffe etwas be-
griffen zu haben glaubt — eine Naivität, die nicht gar
allzuferne hinter uns liegt — so vergißt man, daß dieses
alles nur Tautologien sind.
Dasselbe ist auch der Fall, wenn man glaubt, die unabänderliche
Sukzession begriffen zu haben, wenn man sie als Kausalität apper-
zipiert: das ist nur eine Tautologie; Kausalität ist eine analogische
Fiktion und schließlich rein nur ein Wort; wenigstens heutzutage
ist dieser Begriff für den Philosophen zu einem bloßen Wort herab-
gesunken, während man früher alles als begriffen ansah, Wenn man
es unter die Kausalität brachte. So ist aber schließlich alles soge-
genannte Beweisen und Begreifen nur Tautologie.
Als solche tautologischen Nominalfiktioueii sind nun
eine Reihe von Begriffen zu betrachten; z. B. faßt die
Chemie eine Reihe von Prozessen unter dem Namen
einer „katalytischen Kraft“ ziisamm.en, der sie
eben einstweilen zugeschrieben werden.
Solcher Begriffe hat besonders das XVllI. Jahrhundert
in allen Wissenschaften viele geschaffen; damals glaubte
man, damit wirklich etwas begriffen zu haben; aber ein
solches Wort ist nur eine Schale, welche den sach-
lichen Kern Zusammenhalten und aufbewahren soll. Und
wie die Schale in allen ihren Formen sich dem Kerne
anschmiegt und ihn einfach verdoppelt äußerlich wieder-
gibt, so sind auch diese Worte oder Begriffe nur Tauto-
logien, welche die eigentliche Sache in einem' anderen
Gewände wiederholen. Das bekannteste Beispiel ist ja
hier die „vis dormdtiva“; überhaupt ist daran zu
eriimern, daß das meiste, was man nicht bloß im ge-
wöhnlichen Leben, sondern auch in der Wissenschaft Er-
kenntnis heißt, in solchen Schalen besteht, in Begriffen,
unter welchen das faktisch Gegebene einfach zusammen-
gefaßt wird, ohne daß sie irgendeine neue Erkenntnis
schüfen. Eine Lösung des sogenannten Welträtsels wird
es nie geben, weil das meiste, was uns rätselhaft er-
scheint, von uns selbst geschaffene Widersprüche sind,
die aus der spielenden Beschäftigung mit den
b 1 o ß e /I Formen und Schalen der Erkenntnis
entstehen.
38 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen,
Kapitel VlI.
Summatorische Fiktionen.
(Die Allgemeinbegiiffe.)
Die eben behandelten Fiktionen führen uns nun zu
den Allgemeinbegriffen, welche im allgemeinen den-
selben Dienst leisten, welchen wir die vorigen Fiktionen
im speziellen leisten sahen.
Der Dienst, den diese Fiktionen der Seele inid ihren logischen
Operationen leisten, nähert sich immer mehr dem Dienste an, den
die Sprache imd ihre Worte dem Denken leisten. — Daß die All-
gemeinbegriffe unter allen Fiktionen zuerst dem gemeinsamen
Schicksal beinahe aller Fiktionen anheimf allen, liypostusiert zu
werden, ist bekannt.
Wir nannten — streng nominalistisch — schon oben
die Allgemeinbilder und Allgemeinbegriffe Fiktionen, da
diese künstlichen Begriffsgebilde dem Denken große
Dienste leisten. Da sie indessen immerhin indirekt
der Wirklichkeit entsprechen und eine Reihe gleichartiger
Phänomene zusammenfassen, so sind sie hier unter den
vorläufigen Vorstellungsgebilden auf gezählt, welche
als zusammenfassende Ausdrücke einer Reihe einzelner
Phänomene substituiert werden. Die Begriffe und sche-
matischen Vorstellungen sind auch solche künstlichen
Bildungen, Vorstellungsknoten, welche das Denken zu
mnemotechnischen Zwecken bildet. Es sind das rein
summatorische Fiktionen, d. h. Ausdrücke, in denen
eine Summe von Phänomenen nach ihren Hauptzügen
zusammengefaßt wird. Insofern diese Ausdrücke zugleich
zu Abbildern real sein sollender Dinge gemacht werden,
sind sie auch unter die personifikatorischen zu rechnen;
oder indem nur das V/esentliche festgehalten. Unwesent-
liches vernachlässigt wird, sind sie auch als abstraktive
zu bezeichnen. Die verschiedenen Klassen gehen in-
einander über.
Kapitel VIII.
Heuristische Fiktionen.
Als eine weitere Gattung sind noch hervorzuheben die
heuristischen Fiktionen. Zwar sind mehrere der
bisherigen Fiktionen auch zugleich von heuristischem
Heuristische Fiktionen.
39
Wert; allein gerade diejenigen Fiktionen, welche wir
speziell unter diesem Namen hier zusammenfassen, sind
ganz besonders heuristischen Zwecken gewidmet. In
den bisherigen Fiktionen bestand die Ab weich ung von
der Wirklichkeit nur in einer mehr oder weniger
willkürlichen Veränderung derselben: in den jetzt zu be-
handelnden Fällen wird direkt ein ganz Unwirkliches
an Stelle des Wirklichen gesetzt. Die wichtigste Bedin-
gung hierbei ist jedoch, daß dieses Vorstellungsgebilde
noch nicht in sich selbst widerspruchsvoll sein
darf, wie dies bei den später aufzuzählenden Fiktionen
der Fall ist: es darf aber ein sich nicht in der Wirklich-
keit findendes Gebilde sein, das, wenn konsequent durch-
geführt, zu Widersprüchen mit der Wirklichkeit führt.
Zur Erklärung eines Wirklichkeitskomplexes werden zu-
nächst unwirkliche Ursachen angenommen, deren syste-
matische Durchführung aber in den Phänomenen nicht
nur bloß Ordnung schafft, sondern auch die richtige
Lösung der Frage vorbereitet und aus diesem Grunde
heuristischen Zwecken dient. Indessen werden solche
Amiahmen, soweit sie nicht unter die bisherigen Metho-
den oder unter die reine Versuchsmethode fallen und
insofern tentativer Natur sind, meistens nicht direkt neu
gemacht, sondern sie entstehen dann, wenn bisherige
Hypothesen sich als unzulänglich und falsch erweisen;
solche abgedankten Hypothesen tun aber doch noch sehr
oft gute praktisch-heuristische Dienste. Die Geschichte
der Wissenschaften enthält mehrere solcher Fälle, welche
sehr belehrender Natur sind. So ist naclizuweiseri, daß
das Ptolemäische Weltsystem schon den Arabern
des Mittelalters nur noch als Fiktion galt, nicht als
Hypothese. Dasselbe ist mit der Kartesianischen Wirbel-
hypothese der Fall, welche noch im XVIII. Jahrhundert
besonders in Frankreich, als Fiktion fesigehalten wurde,
bei welcher Gelegenheit auch interessante theoretische
Eröiterungen über die Methode der Hypothesen und Fik-
tionen angestellt wurden. Dasselbe ist heutzutage der
Fall mit der Äther hypothese, welche zur Erklärung
der Lichterscheinungen dienen soll, und vielen Natur-
forschern nur noch als Fiktion gilt. Alle diese abgedank-
ten Hypothesen tun jetzt als Fiktionen noch ganz gute
40 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
praktische und heuristische Dienste. Hierher gehört auch
ferner die teleologische Hypothese, welche als heu-
ristische Fiktion die besten Dienste leistet, während sie
theoretisch wertlos ist, wenigstens in ihrer früheren
Gestalt.
Die Teleologie, wenn metaphysisch und hypothetisch genommen,
ist allerdings ein „trauriger Behelf“, wie Goethe sich ausdrückt
über die Tendenz, die Dinge nach Endursachen zu erklären;
dagegen ist die Teleologie ein sehr guter Behelf wenn man sie
nur heuristisch anwendet zum Auffindenl Vgl. Kants Kritik der
Urteilskraft. Nach Kant ist die Teleologie nur em modas re-
flexionis (modus dicendi), eine Nothilfe, eine Krücke, bloß regu-
latives Prinzip, subjektives Hilfsprinzip.
Eine heuristische Fiktion ist auch das Ideal einer „aufsteigen-
den Reihe von Lebewesen.“
Die früheren geologischen Perioden werden vielfach nur
noch als künstliche Einteilungen oder „schematische“ Fik-
tionen verwertet. Man sucht auch hier nach einem natürlichen
System der Erdschichten.
Aufsehen hat es gemacht, daß Neumann auch die
Newtonschen Gravitationsgesetze für solche
Fiktionen erklärt hat.
Es besteht überhaupt in der modernen Naturwissenschaft die
Tendenz, bisher als fest geltende Hypothesen zu erschüttern und
zu nützlichen Fiktionen zu degradieren; die Ansicht Neumanns hat
Nachfolger gefunden, indem man sagt, die Newtonschen Gesetze
seien ohne Berücksichtigung des Ätherwüderstandes aufgestellt und
seien nur empirische Gesetze. Sobald nun solche empirischen Ge-
setze als eigentliche Gesetze ausgesprochen und vorgetragen
werden, und man mit ihnen rechnet, als ob sie wirklich objek-
tive Gesetze wären, werden sie zu Fiktionen. Vgl. Wundt, Auf-
gabe der Philosophie, pag. 6 : „So konnte es denn nicht fehlen,
daß man alle Hypothesen über den letzten Grund der physika-
lischen Erscheinungen als bloße Hilfsmittel der Veranschau-
lichung oder Rechnung betrachtete und daher kein Arg
daran fand, wenn in den verschiedenen Teilen der Naturlehre die
Hypothesen über die Konstitution der Materie wechselten.“
Neu mann nannte auch das Gesetz der Erhaltung
der Kraft, sowie eine Reihe mathematischer iVxiome
und Postulate bloße fiktive ilnnahmen. Auch bei
der Bestreitung aufgestellter Hypothesen endigt eine Kritik
solcher oft dahin, diese Annahmen zwar nicht als Hypo-
thesen, wohl aber als heuristische Fiktionen gelten zu
lassen. Besonders ist dies der Fall bei der Bestreitung
des DaiAvinismus.
Heuristische Fiktionen.
41
Es hängt diese theoretische, methodologische Frage
enge zusammen mit einem Problem, das besonders in
England eine sehr lebhafte Bearbeitung gefunden hat.
Newton hat nämlich bekanntlich in seinen methodolo-
gischen Regeln zwischen causa vera und causa ficta
unterschieden; die Erörterungen über diesen nicht ganz
klaren Unterschied haben gerade den von uns aufge-
stellten Unterschied berührt; hierher ist auch der andere
Newtonsche Ausspruch: hypotheses non fingo zu ziehen,
der bis auf unsere Zeit oft Gegenstand von Erörterungen
gewesen ist ; man hat bekanntlich stets gegen diesen
Newtonschen Satz eingewandt, Newton habe ja selbst
Hypothesen aufgestellt. Man hat hierbei merkwürdiger-
weise immer übersehen, daß Newton den Ton auf „fingo''
legt, nicht auf „hypotheses". Selbst Mi 11 und Whe-
well, welche jenen Ausdruck kommentierten, haben nicht
bemerkt, daß Newton nicht davon spricht, daß er keine
Hypothesen machen wolle, sondern daß er keine Hypo-
thesen fingieren wolle.
Newton wendet sich in diesem Satz gegen die zu seiner Zeit
sehr verbreitete Liebhaberei, ganz willkürliche und phantastische
Hypothesen ohne Verifikationsmöglichkeit aufzustellen. Dadurch
entstand jener allbekannte Degoüt vieler Naturforscher tmd Lo-
giker gegen die Hypothesen überhaupt. Allein bekanntlich sind
die Hypothesen unentbehrlich; und daß es auch Fiktionen gibt,
welche ebenso berechtigt als nützlich sind, dies wollen wir eben
zeigen. Freilich 'werden wdr auch hier auf Schritt und Tritt gegen
schlechte Fiktionen ankämpfen müssen, wie man dort gegen
schlechte Hypothesen angekämpft hat.
Die Newtonschen theoretischen, methodologischen Re-
geln sind also nicht unangreifbar; und in unserem Sinne
sind fiktive Annahmen allerdings erlaubt, wenn sie nur
mit dem Bewußtsein aufgestellt werden, daß sie
eben dies sind und nicht mehr; sie können nichtsdesto-
weniger große Dienste leisten. In diese Klasse gehören
nun noch eine Reihe historisch berühmter Beispiele :
z. B. Locke verwertet die Kartesianische Lebensgeister-
Theorie noch als eine propädeutisch-heuristische Fiktion.
Die Spinozistische Annahme eines durchgängigen
Parallelismus der psychischen und physi-
schen Vorgänge, welche jetzt so viele Anhänger zählt,
ist unserer Ansicht nach als Hypothese nicht bloß un-
42 Erster 'feil : Prinzipielle Gnindlegung. A. Aufzählung il. Fiktionen.
haltbar, sondern auch wertlos — wogegen sie als Fiktion
geradezu unschätzbare Dienste leistet.
Neuere Beispiele dieser Art von heuristischen Fik-
tionen lassen sich nicht selten finden: z. ß. hat Zöllner
eine solche Fiktion aufgestellt in seiner bekannten An-
nahme, daß die Atome oder Massenpunkte eines Systems
sich so bewegen, „als ob sie die geringste Unlust-
summe produzieren wollten“. Meistens indessen sind
diese Fiktionen ehemalige Hypothesen, welche so noch
in ihrem invaliden Zustande doch der Wissenscliaft
Dienste leisten. Es ist noch eine Frage, ob nicht auch
manche als Axiome oder Postulate aufgestellten Annah-
men zu Hypothesen und von da sogar zu Fiktionen her-
absinken könnten; solche allmählichen Degradationen
sind ja schon oft da gewesen. Selbst in der Mathematik
und mathematischen Physik wird jetzt an diesen Pfeilern
gerüttelt, und es ist nicht unmöglich, daß auch hier
Elemente als fiktiv entdeckt werden, die bisher als axio-
matisch gegolten haben.
Kapitel IX.
Praktische (ethische) Fiktionen.
An diese eben behandelte Fiktionenklasse schließen
wir nun eine Reihe anderer an, welche wir praktische
Fiktionen nennen. Mit dieser Klasse fallen wir frei-
lich aus unserer Einteilung heraus, die wir im folgenden
auch nicht mehr festhalten können. Es beginnen nun
solche Annahmen, welche nicht nur der Wirklichkeit
widersprechen, sondern auch in sich widersprechend sind.
Diese sind nicht auf eine der bisherigen Klassen zurück-
zuführen, nicht allein auf Abstraktion oder auf Analogie
zu reduzieren — die zwei Hauptmomente bei der Bil-
dung von Fiktionen — sondern bei ihrer ßildmig haben
verschiedene Formen zusammengewirkt. Die hier zu be-
handelnden Begriffe sind so verwickelter Natur, daß sie
nicht unter gleichlautende formale Rubriken zu bringen
sind: ihr psychologischer Bau ist sehr kompliziert. Zur
Bildung dieser verwickelten Begriffe, welche zugleich
Praktische (ethische) Fiktionen. 43
die höchsten Probleme der Wissenschaften darstellen,
haben die mannigfachsten Seelenprozesse beigetragen.
Auf der ScliAvelle dieser Fiktionen begegnet uns so-
gleich einer der wichtigsten Begriffe, den die Menschheit
gebildet hat: es ist der Begriff der Freiheit; die mensch-
lichen Handlungen werden als freie und darum als ver-
antwortliche betrachtet und dein notwendigen Natuiiauf
gegenübergestellt. Wir brauchen die oft aufgeführten
iVntinomien, welche in diesem widerspruchsvollen Be-
griffe liegen, an dieser Stelle nicht nochmals zu wieder-
holen: der Begriff widerspricht nicht nur der beobach-
teten Wirklichkeit, in der alles nach miabänderlichen Ge-
setzen folgt, sondern auch sich selbst: denn eine abso-
lut freie, zufällige Handlung, die also aus nichts erfolgt,
ist sittlich gerade so wmrtlos wie eine absolut notwen-
dige. Aller dieser Widersprüche ungeachtet, wenden wir
diesen Begriff nicht nur im täglichen Leben bei der Be-
urteilung der moralischen Handlungen an, sondern er
bildet auch die Grundlage des ganzen Kriminalrechtes :
ohne jene Annahme wäre eine Strafe für etwas Getanes
undenkbar vom sittlichen Standpunkt aus; dann ist eben
Strafe nur eine Vorsichtsmaßregel, um die anderen vor
dem Verbrechen zu schützen. Aber auch die Beurteilung
unserer Nebenmenschen hängt so vollkommen von diesem
Begriffsgebilde ab, daß wir es nicht mehr entbehren
können: die Menschheit hat dieses Avichtige Begriffs-
gebilde im Laufe der EnUvicklmig mit immanenter psychi-
scher Notwendigkeit gebildet, weil nur auf seiner Grund-
lage höhere Kultur und Sittlichkeit möglich ist: allein das
hindert nicht, einzusehen, daß dieses Begriffsgebilde selbst
eine logische Monstrosität ist, daß es ein Widerspruch
ist, kurz, daß es nur eine Fiktion, keine Flypothese ist. Jahr-
hunderte lang hat die Freiheit nicht bloß als Hyp othese
gegolten, sondern sogar als uniunstößliches Dogma. Dann
sank sie zur bestrittenen Hypothese herab : jetzt wird
sie schon häufig als eine unumgängliche Fiktion ange-
sehen. Es hat viel Kampf gekostet, bis man auf den
heutigen, freilich lange noch nicht allgemein verbreiteten
Standpunkt sich stellte, daß dem Freiheitsbegriff in der
Wirklichkeit nichts entspreche, daß er aber eine für die
Praxis höchst notwendige Fiktion sei.
44 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen
Ähnliche Anschauungen vertritt Hoppe, „die Zurech-
nungsfähigkeit“ (Würzburg 1877). ihm fehlt nur das Wort
„Fiktion“ zu unserer Auffassung, S. 32 sagt er über
die ideale Zurechnungsfähigkeit: iVbsolute Willensfreiheit
und Zurechnungsfähigkeit seien eine Unmöglichkeit;
nichtsdestoweniger müsse man den idealen Wunsch der-
selben jedem gerne gönnen, denn jeder „falsche Begriff“
habe doch den Wert eines Ideals, „in dem Maße mithin,
als jemand diese ideal gedachte Zurechnungsfäiiigkeit
haben sollte, wird man auch bei Vergehungen ihn beur-
teilen“; „die idealgefaßte Zurechnungsfähigkeit bew'ährt
sich nicht, aber trotz alledem: der Mensch will die ideale
Fassung der Zurechnungsfähigkeit, und er soll und
muß sie wollen“. (Damit kann man, wie hier von uns
hinzugefügt ’werden mag, die vollkommenen, idealen
Figuren der Mathematik vergleichen: z. B. ideale Rund-
heit gibt es nicht in der Natur, aber der Mathematiker
verlangt, daß es solche geben soll und rechnet, als
ob es solche geben würde; so ist auch nach Hoppe
doch die ideale Zurechnungsfähigkeit trotz ihrer Un-
möglichkeit eine berechtigte Annahme.)
Daraus ergibt sich also der Schluß: Wie die Wissen-
schaft (speziell die Mathematik) auf Imaginäres führt, so
führt auch das Leben auf Unmögliches, das aber darum
doch berechtigt ist - absolute Zurechnungsfähigkeit, ab-
solute Freiheit, Gutes tun um seiner selbst willen (absolut).
Du bist Mensch und mußt diese edeln Gefühle haben —
so befiehlt der Idealist und mit ihm die Gesellschaft.
Also das Imaginäre (das Abstrakte, Ideelle) hat seine
Berechtigung trotz seiner Unwirklichkeit. Oime solches
Imaginäre sind weder Wissenschaft noch Leben möglich
in höchster Form. Das ist eben die Tragik des Lebens,
daß die weiivollsten Begriffe, realiter genommen, wertlos
sind. So kehrt sich der Wert der Realität um. Auch
F. A. Lange weist darauf hin, daß Ideal und Wirklich-
keit ihre Rolle wechseln; das Ideale, das Unwirkliche ist
das w^ertvollste : man muß „das Unmögliche fordern“;
auch wenn es auf Widersprüche führt.
Daß speziell die Idee der absoluten Zurechnung auf
einen Widerspruch führt, darauf weist auch Hoppe
a. a. 0. hin, S. 52 ff. : „Die absolute Zurechnungsfähig-
Praktische (ethische) Fiktionen.
■4-5
keit, wie die absolute Vollkommenheitsforderung (nebst
dem kategorischen Imperativ) ist nur ein Wunsch, nur
ein ideelles Begehren nach einem Nicht existierenden“,
es ist „eine ideale Schaffung der Menschheit“ ; ib. S. 86 ff. :
„Freiheit ist nur ein Gedankending“, aber die Menschheit
muß an diesem imaginären Ideale festhalten wie die
Mathematiker z. B. an imaginären idealen Punkten trotz
ihres inneren Widerspruches.
Eine ähnliche Stellung nimmt auch Adolf Steudel
ein in seiner „Philosophie im Umriß. II. Praktische
Fragen A: Kritik der Sittenlchre“. (Stuttgart, Bonz 1877.)
Steudel widerlegt ausführlich die Freiheitslehre, meint
aber, daß diese theoretische Widerlegung der Freiheits-
lehre die Sittenlehre nicht alteriere, und sagt ausdrück-
lich S. 589: „Man lebe, denke und handle, als ob man
vollkommen freie Gewalt über seine Willensentschließun-
gen und sein Handeln hätte, das Naturgesetz wird sich
darum nichtsdestoweniger mit Sicherheit vollziehen.“
Es ist wichtig und belehrend, zu zeigen, welche ver-
schiedene Form dieser Streit häufig angenommen hat.
Der bekannte Statistiker Rümelin in Tübingen hat im
Herbst 1876, am 6. November, eine Rede gehalten: Über
einige psychologische Voraussetzungen des
Strafrechts. Er geht davon aus, daß die Freiheit und
Verantwortlichkeit eine notwendige Voraussetzung
des Strafrechts seien und führt das dann weiter so aus:
die Freiheit sei freilich ein angefochtener Begriff; aber
man muß, meint er, bedenken, daß dann, wenn man die
Freiheit theoretisch leugne und doch praktisch zur
Grundlage des Strafrechts mache, ein unerträglicher Zwie-
spalt zwischen Theorie und Praxis entstehe. Ihm
kommt ein solcher Zwiespalt zweifelhaft vor nach beiden
Seiten hin: wenn eine Theorie richtig und die auf sie
gestützte Praxis falsch sei — so müßte es unfruchlt-
bare Wahrheiten, wenn aber die Theorie falsch
und die darauf gestützte Praxis richtig sei — , so müßte
es fruchtbare Irrtümer geben. Ist dies, fragt unser
Redner, ^virklich anzunehmen? In den Naturwissen-
schaften, meint er, wäre diese Frage leicht zu beant-
worten; da gebe es Experimente und empirisch geführte
Beweise, Schwieriger sei die Beantwortung dieser Frage
Erster Teil: Prinzipielle Gnuullegimg. A. Aufzählung fl. Fiktionen-
in anderen Gebieten, und so auch im Rechtsleben. Im
Strafrecht handelt es sich um den Begriff der Zurech-
nung, der Willensfreiheit, als einer notwendigen sitt-
lichen, psychologischen Voraussetzung. Denn wenn Strafe
stattfinden soll, so muß auch eine Schuld stattfinden.
Diese ist aber nicht vorhanden, wo die Zurechnung und
Freiheit geleugnet wird. Der Determinismus in seinen
verschiedenen Formen hebe diesen Begriff auf und suche
die Strafe auf andere Weise zu rechtfertigen; allein die
Abschreckungstheorie sei gegen das sittliche Gefühl, das
im Unrecht eine Schuld erblickt und die Strafe als
Sühne und Vergeltung auf faß t. Der Strafrichter
handle notwendig nach folgenden Voraussetzungen: 1. er
nimmt die Existenz einer Seele an als eines realen,
iimeren Ilerrschaftspunktes, welcher die Triebe und
Handlungen des Älenschen bestimme und also seine Wahl-
freiheit ausmache; 2. dem Strafrichter ist der Charakter
nicht eine objektive Macht, welche den Willen bestimmt,
sondern der Charakter ist ein Produkt des Willens ; 3. er
nehme in jedem die Existenz eines Gewissens, eines
Rechtsgefühls an, das Bewußtsein eines sittlichen Sol-
lens, dessen Nichtbefolgung Sühne und Vergeltung er-
heischt. Dies, sagt Rümelin, sind ganz notwendige
Voraussetzungen des Richters, der sicherlich keinem
Verbrecher die Berufung auf die Notwendigkeit seines
Handelns zugeben wird. Aber, fragt unser Redner, ist
nun aus diesem' Verfahren des Richters in der strafrichter-
lichen Praxis auch auf die Wahrheit jener theoretischen
Sätze ein Schluß zu ziehen? Rümelin bejaht das. Es
gelte die Einheit von Praxis und Theorie zu erweisen
und herzustellen; es gibt, schließt er, keine frucht-
baren Irrtümer.
Unsere Antwort auf diese Frage hätte natürlich mn-
gekehrt gelautet. Wohl mag es bei der Betrachtung des
einzelnen Begriffes dem Denker schwer fallen, einen
so wichtigen Begriff für eine Fiktion zu erklären: allein
in dem großen Zusammenhang unserer Untersuchung
bildet dieser Begriff nur einen kleinen Bruchteil, und wo
andere noch wichtigere Begriffe fallen, da kann es nicht
schwer sein, auch diesen aus einer Hypothese sich in
eine Fiktion verwandeln zu sehen.
Praktische (ethische) Fiktionen.
47
Der oben mitgeteilte Gedankengang ist so recht ein
Typus der bisher gewöhnlichen Betrachtungsweise und
ein Beispiel des logischen Optimismus. Freilich,
das geben wir zu, der Strafrichter darf nicht erst lange
Meditationen über die Freiheit anstellen: für ihn ist sie
ein realgültiger Begriff. Allein wenn wir auch nicht bloß
zugeben, sondern sogar selbst fest darauf bestehen, daß
die Freiheit die notwendige Voraussetzung der Strafe
sei, so müssen wir doch daran festhalten, daß „Voraus-
setzung“ zweierlei Bedeutungen hat. Es kann dies
eine Hypothese, es kann aber auch ein Postulat
oder eine Fiktion sein. Es gibt allerdings einen Wider-
spruch zwischen Theorie und Praxis, es gibt allerdings
fruchtbare Irrt ü me r. Dies will freilich der logische
Optimist nicht zugeben : allein gegen eine Tatsache kann
man sich schließlich nicht sperren. Die Geschichte der
Menschheit ist voll von Beispielen, daß es nicht bloß viele
fruchtbare Irrtümer gegeben hat (man nehme nur die
Religionen), sondern auch schädliche Wahrheiten:
der Redner selbst drückte sich freilich so aus : „unfrucht-
bare Wahrheiten“; dieser parallele Ausdruck mit „frucht-
baren Irrtümem“ verdunkelt aber seinen eigenen Ge-
dankengang : den fruchtbaren Irrtümern entsprechen viel-
mehr schädliche Wahrheiten. Damit ist freilich der
logische Optimist nicht einverstanden, dem es schon in
der Jugend eingepflanzt war, daß das Gute auch das
Wahre sei, und daß die Wahrheit immer gut sei.
Die Einheit von Gut und Wahr — dies hat schon Lange i)
treffend nachgewiesen — ist ein Ideal. Wir sagen statt
Ideal — Fiktion. Denn auch alle Ideale sind für uns
— logisch gesprochen — Fiktionen.
Der logische Optimismus kann sich freilich nicht daran
gewöhnen, daß im Gebiete der Wissenschaften manches
nur ein Rechenpfennig ist, was der gewöhnliche JVIensch
für bare Münze nimmt. Gerade die Grundlagen mancher
Wissenschaften stehen auf schwachen Füßen.
Es sei noch die Bemerkung hier eingeschoben, daß die
Behauptung des Redners, in den Naturwissenschaften
wäre eine solche Frage leichter beantwortbar, uns nicht
Geschichte des Materialismus, 2. A. TI, 498.
Erster Teil: Frliizipielie Gruiidlegiuig. A. Aafzäiiluiig d. Eiktioueii.
richtig erscheint: es werden uns — außer den schon
angefühiien naturwissenschaftlichen Beispielen — noch
mehrere naturwissenschaftliche Begriffsgebilde begegnen,
bei denen wohl auch am Ende die Theorie ebenso faul
ist als die Praxis fruchtbar. Gerade viele der wich-
tigsten und fruchtbarsten Begriffsgebilde sind voller
Widersprüche.
Unter den Neueren hat R. Sey del in seiner Ethik einen
Ansatz dazu gemacht, die Freiheit als eine Fiktion
zu fassen, und zwar eben als eine Fiktion in unserem
Sinne — nämlich als eine zwar widerspruchsvolle, aber
höchst fruchtbare mid notwendige Grundlage der Ethik^
nicht in dem Sinne eines bloßen Irrtums, in welchem
Sinne das Wort Fiktion oft gebraucht wird.
Ein besonderes Interesse wird die Behandlung abgeben,
welche Kant diesem Problem angedeihen ließ.
Kant war vollständig auf dem Weg, die Freiheit als
„Idee“, d. h. als Fiktion anzusehen: auch war die Kon-
zeption der intelligihlen Freiheit zuerst wohl nur als
Fiktion gedacht: allein der reaktionäre Zug, den man auch '
sonst bei Kant findet, bewog ihn, aus der Fiktion doch
wieder eine Hypothese zu machen, welche dann natürlich
von den Epigonen vollends in ein Dogma verwandelt
wird, imd die sie dann als solches mit Begeisterung ver-
breiten. Faktisch hat diese Konzeption aber nur Wert,
wenn sie als eine zweckmäßige Fiktion behandelt wird,
wie denn alle diese Fiktionen Betätigungen der orgaiii-
nischen Zwecktätigkeit der logischen Funktion
sind. Dagegen verbietet die logische Paradoxie, der
Widerspruch, der in diesem Begriffe enthalten ist, ihn
als eine Hypothese gelten zu lassen, der etwas Ob-
jektives entspräche. Hierher gehören auch teilweise jene
schon unter dem Namen „symbolische Fiktionen“ zu-
sammengefaßten BegriffsgelDÜde, so weit sie das prak-
tische Handeln beeinflussen: so soll nach Kant der
Mensch nicht nur in seinem Handeln beurteilt werden,
als ob er frei wäre, sondern er soll auch so handeln,
als ob er einst dafür zur Rechenschaft gezogen würde, ja
Kant zwar nicht selbst, aber Schleiermacher erlaubt
sogar das Gebet als eine praktische Handlung, so lange
nur das Bewußtsein nicht erlischt, daß es so zu be-
Praktische (ethische) Fiktionen.
49
trachten sei, a 1 s o b wirklich ein Gott dasselbe erhören
würde. Bekanntlich enthält aber gerade auch der Gebets-
begriff Antimonien, welche seine Objektivität nicht zii-
lassen. Im Gebet, wenigstens innerhalb des Islams und
des Christentums, ist ein unlösbarer Widerspruch zwi-
schen der Allmacht Gottes, welcher das Gebet erhören
kami, und zwischen seiner alles voraus wissenden Welt-
regierung, abgesehen noch von den Widersprüchen, in
welche sich der gewöhnliche Gebetsbegriff mit den Natur-
gesetzen verwickelt.
Unter diese Kategorie der praktischen Fiktionen sind
noch eine Reihe moralischer Begriffe und Postu-
lat e zu zählen, z. B. der Begriff der Pflicht, der Un-
sterblichkeit usw.
über die Idee der Unsterblichkeit vergleiche man besonders
Biedermann, Christliche Dogmatik § 949 — 973; Biedermann läßt
diese Idee als Fiktion zu, bekämpft sie aber als Hypothese resp.
als Dogma: eine wahrhaft edle Seele brauche sie nicht.
Die großartigste Fiktion dieser Art ist die „moralische Welt-
ordnung“. So auch die unendliche Vervollkommnung, le progres
indMini sowohl beim Individuum (Leibniz) als in der Welt-
’ geschichte.
Richtig urteilt Mi 11 in der Schrift über den Theismus: „Die
Ideen von Gott und Unsterblichkeit sind für Kant „Incitive“ :
Anfeiierungs-, Reiz- oder Erziehungsmittel; das ima-
ginäre gute Wesen“ ist ihm eine Norm, zu der wir aufblicken.
Es hängt dies alles enge zusammen mit der von dem Darwinis-
mus so genannten Ausbildung nützlicher Illusionen durch die
natürliche Zuchtwahl, was besonders Hellwalds Kulturgeschichte
sehr lebhaft betont.
Also gehören hierher alle jene im gewöhnlichen Leben
sogenannten „Ideale“, welche logisch genommen eben
nur Fiktionen sind, dagegen praktisch einen ungeheuren
welthistorischen Wert besitzen. Das Ideal ist eine in sich
widerspruchsvolle und mit der Wirklichkeit in Wider-
spruch stehende Begriffsbildung, welche aber ungeheuren
weltüberwindenden Wert hat.' Das Ideal ist eine
praktische Fiktion.
In diesem Satz liegt das Prinzip dessen klar ausge-
sprochen, was Lange seinen Standpunkt des Ideals
nannte. Ihm mangelte noch die logische Termino-
logie, mit Hilfe deren wir einfach so formulieren: Die
Ideale sind keine Hypothesen; dies wären sie, wenn
Vaihinger, Philosophie. 4
50 Erstei Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
sie erreichbar wären, oder wenn sie in irgendeinem Teil
der Welt erreicht worden wären, sondern sie sind Fik-
tionen.
Wir ziehen in den Kreis der Fiktion nicht nur gleich-
gültige theoretische Operationen herein, sondern Begriff’s-
gebilde, welche die edelsten Menschen ersonnen haben,
an denen das Herz des edleren Teiles der Menschheit
hängt, und welche diese sich nicht entreißen läßt. Wir
wollen das auch gar nicht tun — als praktische
Fiktion lassen wir das alles bestehen, als theore-
tische Wahrheit aber stirbt es dahin.
Der so oft mißverstandene Begriff Langes, der Begriff
der Dichtung, erweist sich von hier aus als ein un-
klarer Ausdruck dessen, was wir Fiktion nennen. Wir
gehen damit auf die eigentliche psychologische Quelle aller
dieser Gebilde der menschlichen Einbildungskraft zurück :
wir haben die gemeinsame logische Vers Landesbehand-
lung gefunden, welche sowohl diesen riesenhaften Kon-
zeptionen der Menschheit zugrunde liegt, als ganz indiffe-
renten logischen und wissenschaftlichen Methoden: aus
jenem kleinen logischen Kunstgriff — Begriffsgebilde zu
formieren, welche praktischen Zwecken dienen, ohne doch
theoretisch weiter weilvoll zu sein — entspringen jene
logischen Methoden ebenso gut als die wichtigsten prak-
tischen Begriffe der Menschheit. Das Gemeinsame ist aber
der ungeheure praktische Wert, den alle diese
Begriffsgebilde haben, während ihnen doch keine ob-
jektive Wirklichkeit entspricht.
Der logische Optimist wird dieses hier in wenige Sätze
gedrängte Programm für niederschlagend erklären: wir
können an dem Ptesnltate deshalb doch nichts ändern. Die
Wissenschaft geld unbarmherzig vorwärts. Wem solche
Erkenntni s f ü r c h t e r 1 i c h erscheint, wem sie eine schäd-
liche Wahrheit ist, wer glaubt, dadurch seine Ideale als
wertlos wegwerfen zu müssen, wer sie gar darum einfach
wegwirft — der hat eben auch nie an jenen Idealen mit
aller Macht seiner Seele gehangen. Wir sprechen hiermit
zugleich in unserer Terminologie das eigentliche Prinzip
der Kantischen Ethik aus : die eigentliche Sittlichkeit
ist nur dann vorhanden, wenn sie auf einer fiktiven
Grundlage ruht ; aber alle h y p o t h e t i s c h e n G r u n d -
Praktische (ethische) Fiktionen.
öl
lagen derselben: Gott, Unsterblichkeit, Lohn,
Strafe usw. — zerstören ihren sittlichen Charakter: d. h.
wir sollen wohl so handeln, als ob es unsere von Gott
auf erlegte Pflicht wäre, als ob wir dafür zur Rechen-
schaft gezogen würden, als ob wir für Unsittlichkeit
bestraft würden: mit derselben Pünktlichkeit und mit
demselben Ernste. Aber sowie dieses Als ob sich in ein
Weil verwandelt, hört der Charakter der reinen Sittlich-
keit auf, und es ist bloßes niederes und gemeines Inter-
esse, bloßer Egoismus.
So erweitert sich vor unseren Blicken jener kleine
Kunstgriff der Psyche zum mächtigen Quell nicht bloß
der ganzen theoretischen Weltanschauung — denn aus
ihm entspringen ja alle Kategorien — , sondern auch zum
Ursprung alles idealen Glaubens und Handelns der
Menschheit. Man schreibt das sonst der Einbildungs-
kraft der Menschen zu: allein dies ist ebenso wertlos,
als die organischen Prozesse einer „Lebenskraft“ zuzu-
schreiben : es handelt sich um den Nachweis der zugrunde
liegenden mechanischen Prozesse. Gemäß rein mechani-
schen Gesetzen des Seelenlebens haben diese Gebilde eine
ungeheuere praktische Wichtigkeit und spielen eine
unersetzliche Vermittlerrolle; ohne sie ist die Lust
des Begreifens unmöglich, ohne sie die Ordnung des
chaotischen Materials, ohne sie ist alle höhere Wissen-
schaft unmöglich, denn sie dienen zur Vermittlung, Be-
rechnung, Vorbereitung; ohne sie ist endlich alle höhere
Sittlichkeit unmöglich. Trotz dieser enormen Wichtigkeit
jener Funktion sind doch ihre Produkte, eben jene Begriffs-
gebilde, immer nur als Fiktionen zu betrachten ohne
eine entsprechende Wirklichkeit, als freie Vorstel-
lungsgebilde, welche aus dem mechanischen Vorstel-
lungsspiel mit immanenter Notwendigkeit entstehen, als
Hilfsmittel und Organe, welche sich die zweck-
tätig funktionierende logische Tätigkeit zur Erleichterung
und Vervollkommnung ihrer Arbeit selbst schafft, mag
sich diese Arbeit auf die Wissenschaft oder auf das
Leben beziehen. Somit ist die Phantasie allerdings „das
Prinzip des Weltprozesses“, aber freilich in einem anderen
Sinn, als Frohschammer, der Verfasser des' gleich-
namigen Buches, meint.
52 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung cl. Fiktionen.
Kapitel X.
Fiktive Grundbegriffe der Mathematik.
Als ein weiteres besonderes Gebiet behandeln wir
ferner die mathematischen Fiktionen. Wir haben
schon bemerkt, daß neben der Jurisprudenz gerade in
der Mathematik bisher die Fiktionen allein zur Geltung
gekommen sind. Es handelt sich in beiden Gebieten oft
darum, einen einzelnen Fall unter ein Allgemeineres
zu sulDSumieren, dessen Bestimmungen nun auf jenes
Einzelne angewendet werden sollen. Nun aber wider-
strebt das Einzelne dieser Subsumtion; denn das All-
gemeine ist nicht so umfassend, um dieses Einzelne
unter sich zu begreifen. In der Mathematik handelt
es sich z. B. darum; die krummen Linien unter
die geraden zu subsumieren; das hat ja den enormen
Vorteil, daim mit denselben rechnen zu können. In der
Jurisprudenz handelt es sich darum, einen einzelnen Fall
unter ein Gesetz zu bringen, um dessen Wohltaten oder
Strafbestimmungen auf jenen Fall anzuwenden, ln beiden
Fällen wird nun dies in Wirklichkeit nicht herzustellende
Verhältnis als hergestellt betrachtet: so ^\drd z. B. die
krumme Linie als gerade betrachtet, so wird der Adoptiv-
sohn als wirklicher Solm betrachtet. Faktisch ist aber
beides geradezu unmöglich. Eine krumme Linie ist nie-
mals gerade, ein Adoptivsohn ist niemals ein wirklicher
Sohn; oder um andere Beispiele zu wählen: der Kreis soll
als eine Ellipse gedacht werden; in der Rechtswissen-
schaft wird der nicht erschienene Beklagte betrachtet,
als ob er die Klage zugestanden habe, wird der ein-
gesetzte Erbe im Falle der Unwürdigkeit betrachtet, als
ob er vor dem Erblasser gestorben sei.
Die Rechtswissenschaft hat es bei ihren Fiktionen in-
dessen viel leichter als die Mathematik: dort sind Fälle,
denen vdllkürliche Gesetzesbestimmungen gegenüber-
stehen; da ist also eine Übertragung leicht möglich. Man
denkt sich die Sache eben einfach so, als ob sie so
wäre. In der Mathematik setzt aber das sprödere i\Iate-
rial der Raumverhältnisse dieser Mißhandlung durch den
Kunstgriff Widerstand entgegen: hier weiß sich nun die
logische Funktion auf eine Weise zu behelfen, die dem
Fiktive Grundbegriffe der Mathematik.
63
logischen Betrachter entzückend erscheint in ihrer Genia-
lität; dieser Kunstgriff ist einer der merkwürdigsten, den
die Psyche erfand. Jeder Kenner der Mathematik und
ihrer bewunderungswürdigen Methodik weiß, daß nun die
Psyche in jenen Fällen so verfährt: der Kreis wird als
eine Ellipse beti’achtet, deren beide Brennpunkte die
Distanz 0 haben (diese ingeniöse Methode ist eine in
der Mathematik sehr beliebte); bei der Subsumtion der
krurmnen Linien unter die geraden wird die krumme
Linie als aus einer unendlichen Anzahl gerader
Linien bestehend betrachtet.
Die Grundbegriffe der Mathematik sind der Raum,
und zwar der leere Raum, die leere Zeit, der
Punkt, die Linie, die Fläche, und zwar Punkte
ohneAusdehnung, Linien ohneBreite, Flächen
ohne Tiefe, Räume ohne Erfüllung. Alle diese
Begriffe s^'nd widerspruchsvolle Fiktionen: die Ma-
thematik ruht auf einer vollständig imaginativen Grund-
lage, sogar auf Widersprüchen.
Aus diesen mathematischen Grundbegriffen hat die
Psyche eine ganze Wissenschaft aufgebaut, die vielbewun-
derte Mathematik. Manchmal kam den Mathematikern
das Bewußtsein, daß sie mit Widersprüchen sich be-
fassen, aber nie oder selten hat dies tiefere, theore-
tische Erörterung gefunden. Die offene Anerkennung die-
ser Widersprüche in der Mathematik in bezug auf die
Gmndlagen ist für den Fortschritt der Wissenschaft abso-
lut notwendig geworden: die oft unternommenen Ver-
tuschungsversuche erwiesen sich als fadenscheinig.
Auch die Vorstellung der leeren Zeit, wie sie der Mechanik zu-
grunde liegt, als eines stehenden, bleibenden Gebildes, einer Form,
wie sie auch Kant auf faßt, ist eine auf abstraktivei* und ein-
seitiger Isolierung beruhende Fiktion. Es ist aber einleuchtend,
daß der leere Ranm, die leere Zeit unentbehrliche Fiktionen
der Mechanik sowie der Erkenntnistheorie sind.
Daß außerdem „die mathematischen Idealkonzeptionen“, welche
„die Wirklichkeit anregt“, .„der sie aber nie völlig exakt ent-
sprechen“ — auch nach dieser Seite hin also fiktiv sind, ist ein
allgemein angenommener Satz : ein reiner Kreis, eine absolut
gerade Linie usw. sind Ideale; d. h. Fiktionen. Laas stellt die
absolute Linie, die konstante Geschwindigkeit, die Un-
bedingtheit, die Totalität, die Unendlichkeit, das Be-
54 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
w’ußtseiii überhaupt, das Ding an sich als Ideale, d. h.
als Fiktionen zusammen.
Speziell sei hingewiesen auf Michele ts Naturphilosophie § 174;
schon Platon nenne den Punkt ein doyixa yiuiutTQtxiv im Sinne einer
Fiktion, Punkt wie „Atom“ sei nur ein „Grenzbegriff“. Die
„Grenze“ selbst ist eine fiktive Annahnie, wenn man sie hypo-
stasiert.
Daß die Linie aus Punkten besteht, ist auch eine mathema-
tische Fiktion.
Die Philosophie der Alathematik, speziell bei Michelet, bietet
hierzu noch viele Beispiele. Wenn der Kreis als Polygon betrachtet
wird, so ist dies eine formale Identifizierung auf Kosten der quali-
tativen Differenz; der Kreis wird so angesehen, als ob er ein Poly-
gon aus unendlich vielen, unendlich kleinen Seiten wäre.
Daß solche Fiktionen auf Widersprüche führen, sieht man an
den Zenonischen Schlüssen, welche darauf beruhen, daß die Fik-
tion der Raum- mid Zeitatome (der unendlich kleinen Raum- und
Zeitteile) ernst genommen und in Wirklichkeit verwandelt wird.
Die Fiktion wird zur Hypothese und daraus folgen die krassesten
AVidersprüche.
Die Mathematiker machen solche Fiktionen gerne, um die Wuk-
lichkeit besser bereclmen zu können; z. B. die Fiktion „einer un-
endlich düimen Schale, ellipsoidisch, von zwei ähnlichen Flächen
begrenzt“; oder die „Fiktion einer unendlich dünnen Schicht“.
Der leere Raum ist eine rein mathematische Fiktion,
und doch geht alle wissenschaftliche Erkenntnis darauf
aus, die Weltprozesse auf AtombeAvegungen im leeren
Ramn zu reduzieren. Daß auch das Atom eine Fiktion
sei, in jeglicher Gestalt, antizipieren wir, um einen wich-
tigen Gedanken hier schon aussprechen zu können: die
Reduktion alles Geschehenden auf Atombewegungen im
Raume, das Ziel aller Wissenschaft, ist faktisch das
Bestreben, alles Geschehen und Sein auf Vorstellungs-
gebilde zu reduzieren, welche rein fiktiver Natur
sind.
Das Begreifen besteht in der Reduktion auf bekannte
Vorstellungsgebilde: der leere Raum und das körper-
lich gedachte Atom sind scheinbar bekannte Vorstel-
lungsgebilde — faktisch sind sie nur Fiktionen. Ist es
aber gelungen, alles hierauf zu reduzieren, so scheint
die Welt begriffen. Sie scheint es!
Denn jene apperzipierenden Vorstellungsgebilde sind
Fiktionen, sind Produkte der Einbildungskraft. Alles Ge-
schehen wird auf diesen uns bekannten Maßstab ge-
bracht, und wie Reduktionen aus einem Maßsystem in das
Fiktive Grutidbegriffe der Mathematik.
55
andere, z. B. in das Metersystem nicht ohne Brüche ab-
gehen, so auch hier nicht diese ungeheure Reduktion auf
das uns bekannt scheinende Vorstellungsgebilde.
Die ungeheure Arbeit der modernen Wissenschaft redu-
ziert also alles Geschehen, das in letzter Linie absolut
unbegreiflich ist, auf einen ganz subjektiven Maßstab,
der eine reine Fiktion ist.
Jetzt erscheint uns erst das Verständnis für die volle
Bedeutung ICants aufzugehen. Nach ihm ist ja der Raum
subjektiv und alles v/irkliche Sein unbekannt. Die Kan--
tischen Beweise hierfür sind unzulänglich: der einzig
richtige Beweis, der stichhaltig ist, ist folgender: Der
Raum ist ein subjektives Vorstellungsgebilde, weil er
voller Widersprüche ist: es ist ein Merkmal aller
echten Fiktionen, Widersprüche zu enthalten: der Begriff
des Raumes ist ein Nest von Widersprüchen. Das Vor-
stellungsgebilde des Raumes hat die Psyche erfunden,
formiert, um in ihn das ihr gegebene Geschehen — die
chaotische und widerspruchsvolle Masse der Empfindun-
gen — zu ordnen. Der Raum ist ein uns allmählich
ganz bekannt und vertraut gewordenes Vorstellungs-
gebilde, das uns durch Gewohnheit wirklich und ganz
harmlos erscheint: faktisch ist dieser Begriff voller Wider-
sprüche. Das kosmische Geschehen hat in der
Psyche diesen Begriff des tr idirnen si o nären
Raums b e r v o r g e t r i e b e n , um den Schein des
Begreifens zu erzeugen. Das wirkliche Geschehen
ist uns mifaßbar: aber dasselbe wird in diesen Raum
hineinprojiziert.
Man hat nun neuerdings versucht, jene Wider-
sprüche durch Erfindung künstlicher Ptäume zu lösen:
allein das führt immer zu denselben Widersprüchen:
übrigens beruht die Vorstellung solcher Räume mit n-Di-
mensionen auf einem neuen Kunstgriff des Denkens,
indem einfach viel allgemeinere Gebilde erdacht werden,
als wirklich gegeben sind.
56 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
Kapitel XL
Die Methode der abstrakten Verallgemeinerung.
Die Methode der abstrakten Verallgemeinern ng
ist ein weiterer genialer Kunstgriff des Denkens, der aber
auch nicht ohne Widersprüche abgeht. Sein Wert be-
steht darin, daß die Erdichtung viel allgemeinerer Ver-
hältnisse die Durcharbeitung der speziellen wirklich ge-
gebenen erleichtert.
In der Mathematik wird der Raum mit drei Dimen-
sionen als ein Spezial fall gedacht, da ja auch
mehr als drei Dimensionen abstrakt denkbar sind:
durch die Bildung solcher Räume, solcher Begriffsgebilde,
die aber widerspruchsvoll sind, ist es nun ermöglicht,
das einzelne schärfer in seinen Verhältnissen zu er-
fassen.
Diese Fiktion hat viele Gegner, u. a. Dühriiig, der diese Vor-
stellung mystisch nennt. (Der Vorwurf des Mystizismus kehrt
wieder bekanntlich beim Atom, Differential , Ding an sich, Kraft,- —
kurz bei allen Fiktionen.) Mystisch sind solche Vorstellungen nur,
wemi man in ihnen Hypothesen sieht; aber als bewußte Fik-
tionen sind sie wertvoll. Wir haben also die Fiktion nicht bloß
von der Hypothese zu unterscheiden, sondern auch gegen ihre Ver-
ächter zu schützen. Allein die Verachtung rührt doch teilweise oder
meistens nur daher, daß man solche Fiktionen für Hypothesen hält.
Laas wirft solchen Fiktionen vor, sie seien gewaltsam und gefähr-
lich. Gewaltsamkeit und Gefährlichkeit ist das gemeinsame Merk-
mal aller Fiktionen; auch die Unanschaulichkeit, welche hier sich
zum Widerspruch steigert, ist Merkmal solcher Fiktionen; mit
Recht fügt aber Laas die Rechnungsergiebigkeit zu. Mit die-
sem treffenden Ausdruck ist das Wesen der Fiktion gut bezeichnet.
Eine andere Frage ist, ob die Fiktion eines Raumes mit mehr als
drei Dimensionen wirklich w^ertvoll sei? Das Kriterium einer guten
Fiktion ist bloß die praktische ,, Rechnungsergiebigkeit“. Die fiktive
Möglichkeit von Räumen mit mehr als 3 Dimensionen ist nim-
meimehr zu verwechseln mit der hypothetischen Möglichkeit.
Die abstrakte Verallgemeinernng ist ein Produkt der viel
freieren Stellung, welche die jetzige Menschheit den Din-
gen gegenüber einnimmt; sie beruht aber einzig und
allein darauf, daß die gegebenen Spezialfälle selbst nur
Produkte der Einbildungskraft sind, und sie ist auch nur
da anwendbar, wo dies der Fall ist. Alle diese Spezial-
fälle sind von der vorwissenschaftlichen Periode instink-
tiv hervorgebracht worden: nun denkt sich das wissen-
Die Methode der abstrakten Verallgemeinerung. 57
schaftliche Denken vermöge derselben Einbildungskraft,
durch welche jene primären Produkte geschaffen worden
sind, andere allgemeinere Fälle, welche abstrakt denk-
bar sind; also z. B. einen Raum mit n-Dimensionen. In-
dem man nun erforscht, warum der Spezialfall, den
man vor sich hat, also z. B, der Raum mit drei Dimen-
sionen übrig geblieben und gewählt worden ist, findet
man die Ursachen und Motive, welche das Denken hei
seiner Bildung geleitet haben: er ist den Gegenständen
am besten angepaßt, kurz, er ist der einzig übrig ge-
bliebene Fall aus einer Reihe anderer möglicher und ist
durch Selektion als der passendste erwiesen worden.
Nun erst sehen wir den Nutzen der Verallgemeinerung
vollständig ein. Diese Verallgemeinerung nimmt die Be-
standteile des Seienden selbst auseinander und legt
sie in viel allgemeinerer Weise wieder zu-
sammen und findet die vielen Möglichkeiten, welche
noch — möglich gewesen wären: nun werden die Ge-
setze der ' compossibilitas (im Sinne von Leibniz) stu-
diert, und dadurch wird das Einzelne viel tiefer erkannt.
Ein Beispiel dieser abstrakten Verallgemeinerung ist
etwa die Idee eines Weltgeistes, dem alle kosmischen
Bewegungen bekannt wären.
Diese Methode der abstrakten Verallgemeinerung ist
einer der genialsten Kunstgriffe des Denkens : man wendet
ihn in allen Gebieten an und denkt das Bestehende, Ein-
zelne, allgemein genommen als Spezialfall vieler anderer
Möglichkeiten. Dieser Kunstgriff ist nicht nur das Prinzip
des wissenschaftlichen Fortschrittes, sondern auch des
ganzen praktischen Fortschrittes der Menschheit. Die
großen Reformatoren des sozialen Lebens denken sich
stets das Bestehende als einen Spezialfall unter vielen
Möglichkeiten.
Auf dieseWeise entstehen leicht chimärischeVorstellungs-
gebilde. Aber andererseits ist die Einsicht, daß auch in
der Wissenschaft die Imagination eine große Rolle spiele,
einer der Hauptforl schritte der modernen Erkenntnis-
theorie: in diesem Sinne hat Kant mit Recht und mit
Bedacht von der „transzendentalen Einbildungskraft“
gesprochen. Diese Einsicht hat man neuerdings von der
der Philosophie auch auf andere Wissenschaften über-
58 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktioiißßr^ '
tragen, freilich niemals in dem Maßstabe, in weichein
es hier geschehen ist, wo so viele Grundbegriffe für
fiktiv erklärt werden^ d. h. für Produkte der Einbildungs-
kraft, des freien Schaffens der Psyche, welche dabei
indessen immerhin an die gegebenen Sukzessionen und
Koexistenzen des Empfindungsmaterials gebunden ist.
Wenn die Bildung von Fiktionen wertvoll sein soll, so
muß man eben stets wieder von ihnen aus zum Ge-
gebenen den Weg hinabfinden können.
Kapitel XIL
Die Methode der unberechtigten Übertragung.
Mit den bisher aufgeführten sind die mathenmtischen
Fiktionen resp. die darauf bezüglichen Methoden nicht
erschöpft. Insbesondere die Methode der unberech-
tigten Übertragung, wie ich sie nennen möchte,
von der wir oben Beispiele hatten (Subsumtion des Krum-
men unter das Gerade, des Kreises unter die Ellijiseii-
formel), ist in der Mathematik sehr beliebt, und sic
wird mit großem Erfolg zu einer Verallgemeine-
rung der Formeln angewandt.
Insbesondere sind die sog. Nullfälle hier von Wert,
wie wir dies oben beim Kreise sahen (um ihn unter die
Ellipsenformel bringen zu können, wird bekanntlich der
Kreis als eine Ellipse betrachtet, deren beide Brenn-
punkte die Distanz = 0 haben). Ähnlich wird diese Me-
thode der Nullfälle z. B. angewandt, um die gerade
Linie unter den Begriff der krummen zu bringen, in-
dem sie als eine krumme Linie mit einem Krümmungs-
halbmesser = 0 betrachtet wird. Diese Methode ist ver-
wandt mit der Methode der abstrakten Verallgemeinerung.
Sie beruht darauf, der Null, einem ganz fiktiven Vorstel-
lungsgebilde, eine Existenz zuzugestehen.
Dieselbe Methode ist beteiligt bei der Bildung der
negativen Zahlen, der Bruchzahlen, der irratio-
nalen und imaginären Zahlen; schon die Bezeich-
nung dieser Gebilde deutet ihre logische Bedeutung an:
Die Methode der unberechtigten Übertragung.
59
es sind fiktive Vorstellungsgebilde, welche für die Er-
weiterung der Wissenschaft und Verallgemeinerung ihrer
Resultate einen hohen Wert haben trotz der klaffenden
Widersprüche, welche in diesen Begriffen enthalten sind.
Diese Begriffe sind auch zugleich Belege für unsere obi<?e
Behauptung, daß solche irregulären Bildungen und Be-
griffe meist mit einem gewissen mystischen Schimmer
umgeben werden : die Geschichte der Mathematik weiß da-
von zu erzählen, mit welcher abergläubischen Ehrfurcht
diese Zahlbildungen noch im XVIII. Jahrhundert be-
trachtet wurden. Jetzt gelten sie allgemein als fiktive, aber
sehr wertvolle und fruchtbare Zahlgebilde. Das Grund-
prinzip ist eben auch hier eine unberechtigte Anwendung
und Übertragung einer logischen Methode auf Fälle, die
strenggenoimnen nicht darunter zu subsmnieren sind, oder
die Betrachtung solcher Gebilde als Zahlen, welche gar
keine rechten Zahlen sind. Negative Zahlen sind ein
Selbstwiderspruch, wie alle Mathematiker zugeben; es ist
eine Ausdehnung der Subtraktion über das Maß der
logischen Anwendungsmöglichkeit derselben hinaus :
die Bruchzahlen sind das Produkt 'derselben Methode
bei der Division und die irrationalen Zahlen bei der Radi-
zierung; das monströseste Zahlgebilde dagegen sind die
imaginären Zahlen, denen die Konstruktion durch
Gauss, Drobisch und andere nichts von ihrer fiktiven und
widerspruchsvollen Natur genommen hat.
Überhaupt beruht die ganze Mathematik, auch die Arith-
metik, auf rein imaginativer Basis, ebenso das
Messen und ähnliche mathematische Methoden. Die ganze
Mathematik ist das klassische Beispiel eines ingeniösen
Instrumentes, eines Denk mittels zur Erleicht ermig
der Denkrechnung.
Daß die ganze Zahlenbildung imaginativ sei, lehrt
nicht bloß die Möglichkeit der unendlich vielen denk-
baren Zahlensysteme, sondern auch die Tatsache der
Unendlichkeit der Zahl selbst; von dem Begriff der Un-
endlichkeit aber wird noch die Rede sein.
Eine ingeniöse mathematische Methode ist ferner, die
Linien und Flächen als zusammengesetzt aus Linien- und
Flächen el e menten von unendlich kleiner Ausdehnung
zu betrachten. Man wendet diese Methode in zweierlei
00 Erster Teil: Prii)ziplelle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
Hinsicht an : erstens, wie wir sehen werden, um den
Gebrauch der Maßzahlen überhaupt theoretisch zu be-
gründen — eine Notwendigkeit, welche erst neuere Mathe-
matiker erkannt haben — sodann um sämtlichen Linien
den Vorteil einer identischen Maßweise zukommen zu
lassen, besonders um die krummen Linien ebenfalls be-
messen und berechnen zu können. Schon die versuchte
Subsumtion dieser unter die geraden Linien, d. h. der Be-
griff der Länge einer Kurve ist, wie Lotze richtig
bemerkt, eine Fiktion. Um aber diese Fiktion brauchbar
zu machen, wird eine neue Fiktion gemacht.
Kaum bietet einer der in unser Gebiet hereinfallenden
Gegenstände ein so umfassendes Interesse, einen so hohen
wissenschaftlichen Reiz, als derjenige, bei dem wir nun
angelangt sind. Es sind dies die Versuche, das Krumme
unter den Begriff und die Gesetze des Geraden zu brin-
gen. In zwei aufeinander folgenden Etappen wurde dies
Ziel genial erreicht, einmal durch die K a r t e s i anischo
Reform der Analysis, sodann durch die Infinitcsimal-
methode Leibnizens und die Fluxionsrechnung New-
tons. Was den eisteren Punkt betrifft, so galt es einmal,
überhaupt das Bildungsgesetz krummer Linien auf das
der geraden zu reduzieren: dies gelang dem Descartes
durch eine äußerst sinnreiche Methode, welche auf den
mathematischen Schüler zum erstenmal in ihrer ein-
fachen Genialität denselben großartigen Eindruck zu
machen pflegt, wie die erste Einführung in den Kanti-
schen Grundgedanken auf den jungen Philosophen. Beide-
mal geht uns plötzlich ein wunderbar, erhellendes strahlen-
des Licht auf.
Die zweite Etappe in der Methode, das Krumme unter
den Begriff des Geraden zu bringen, geschah durch
Leibniz und Newton. Einen besonderen Reiz bieten
hier die Untersuchungen der merkwürdigen Tastversuche
des logischen Triebes dar, welche dieser in den Vor-
gängern jener beiden, besonders in der Person des Eng-
länders Wallis und des Italieners Cavalieri zur Er-
reichung dieses Zieles machte. Die eigentliche Vollendung
dieser merkwürdigen Methode geschah durch Ausbildung
eines Vorstellungsgebildes, das helfend und vermittelnd
einspringt und das eigentliche Standardbeispiel einer Fik-
Die Methode der unberechtigten Übertragung.
61
tion ist: es ist die Fiktion der Differentiale resp.
Fluxionen. Dies sind rein fiktive, widerspruchsvolle
Vorstellungsgebilde, vermittels welcher aber jene Sub-
sumtion des Krummen unter das allgemeine Vorstellungs-
gebilde des Geraden und seiner Gesetze gelingt. Diese
über alle Maßen bewmnderungswmrdige Methode ist das
beste Beispiel jener zum Teil unbewußten Zwecktätig-
keit der logischen Fimktion, die wdr oben ausführlich
geschildert haben. Weder Newton noch Leibniz waren
sich vollständig und konsequent klar darüber, w^as sie
eigentlich logisch taten, als sie jene Vorstellungsgebilde
erfanden. Es bildet ein bekanntes und ungemein viel
behandeltes Thema, wie denn eigentlich Newton und
Leibniz ihre Konzeptionen ursprünglich verstanden haben
wollten. Nirgends erscheint die zwecktätige Funktion des
logischen Triebes glänzender und erfinderischer als in
diesem Teile der Mathematik : die ganze nachfolgende, nun
zw^ei Jahrhunderte dauernde Kontroverse drehte sich
dämm, ob die Differentiale resp. Fluxionen
Hypothesen oder Fiktionen seien. Alle die scharf-
sinnigen Einw^endungen, welche später gegen diese Me-
thode gemacht worden sind, beriefen sich sowohl auf
die Unmöglichkeit, daß solche Gebilde objektiv existieren
könnten, als auch auf die Widersprüche, in welche sich
diese Methode verwd ekele. Daß jenes kein Einwand sei,
davon sind wir nun endlich überzeugt, nachdem wir
im vorhergehenden eine Reihe von Vorstellungsgebilden
entdeckt haben, welche trotz ihrer Unrealität doch dem
Denken die größten Dienste leisten. Daß aber Wider-
sprüche dadurch entstehen, ist ebenfalls kein Einwand,
sobald man sich an unsere neue Betrachtungsw^eise ge-
wöhnt, welche das alte Vomrteil ablegt, als ob das
Denken nur durch widerspruchslose Operationen fort-
schreite und Ergebnisse erreiche. Im Gegenteil haben
wir im vorhergehenden unsere neue xA.nsicht zu begründen
versucht, welche ebensowohl von Hegel als Lotze ge-
ahnt worden ist.
Man ist heute weit entfernt, die Widersprüche gelöst
zu haben, w^elche die Infinitesimalmethode enthält. Zwei
Jahrhunderte lang haben sich die Mathematiker bemüht,
samt den Philosophen, zu zeigen, daß in derselben keine
62 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
solchen Widersprüche seien; wir kehren den
Gesichtspunkt um und stellen die Sache ge-
radezu auf den Kopf; jene Widersprüche sind nicht
bloß nicht wegzu leugnen, sondern sie selbst
sind gerade das Mittel, durch welches der
.Fortschritt erreicht worden ist.
Unter den Gegnern der Inifinitesimaltheorie ragt, was
selbst Mathematikern und Philosophen nicht mehr be-
kannt ist, Berkeley sehr hervor. Er hat die in dieser
Methode enthaltenen Widersprüche mit einer bewunde-
rungswürdigen Klarheit und Eleganz aufgedeckt, und
merkwürdigerweise hat er auch zugleich gezeigt, wie
das Denken trotz dieser Widersprüche sein Ziel erreicht;
allein er hat diese Entdeckung gar nicht verwertet, son-
dern im Gegenteil trotz derselben die Infinitesimalmethode
als widerspruchsvoll verworfen. Erst im XIX. Jahrhun-
dert ist diese Entdeckung neu gemacht worden, in Frank-
reich durch Carnot; in Deutschland durch Drobisch,
ohne daß diese Entdeckung das Aufsehen gemacht hätte,
welches sie verdient. Freilich mangelte bei beiden die
Ausdehnung auf die allgemeine Methode des Denkens,
welche im folgenden und vorhergehenden versucht ist.
Diese Entdeckung besteht darin, daß das Denken^ die
Fehler, welche es begeht, wieder korrigiert:
in diesem einfachen Satze ist das ganze Prinzip der Fik-
tionen ausgesprochen, was noch unten weiter ausgeführt
werden wird.
Kapitel XIII.
Der Begriff des Unendlichen.
Im engsten Zusammenhang mit den im vorigen Ab-
schnitt besprochenen Erscheinungen steht ein Vorstel-
lungsgebilde, welches nicht bloß die crux aller Mathe-
matiker bis auf den heutigen Tag ist, sondern auch
den Philosophen viel Kopfzerbrechen gemacht hat: durch
Einreihung in unser allgemeines Prinzip wird dieser
Begriff, der Begriff des Unendlichen, \delleicht geklärt
und erklärt.
Der Begriff des Unendlichen.
63
Der Begriff des Unendlichen zeigt sich als ein Hilfs-
begriffj den das Denken zur Erleichterung seiner Ope-
rationen eingeführt hat, und der gerade durch seinen
immanenten Widerspruch ein erfolgreiches Denken ermög-
licht. Dies ist zunächst in der Mathematik der Fall, wo
das Symbol oo, weiches hier für „Unendlich“ ge-
braucht wird, einfach eine Fiktion ist, durch welche
das mathematische Denken seine Zwecke viel leichter
erreicht. Die allmähliche Ausbildung dieses Begriffs (die
Griechen haben mit einer merkwürdigen, aber leicht er-
klärlichen Scheu alle Fiktionen und so auch diese ver-
mieden und sich ohne die Beihilfe dieser fiktiven Vor-
stellungsgebilde fortzuhelfen gesucht) bietet eines der
reizendsten und belehrendsten Themata der Wissen-
schaftsgeschichte dar. Überhaupt ist die allmähliche histo-
rische Ausbildung aller dieser fiktiven Begriffe eines der
merkwürdigsten Schauspiele, welches die Geschichte des
menschlichen Geistes darbietet. Man sieht hier so recht,
wie die logische Funktion anfänglich im Dunkeln tappend
allmählich tatonnierend vorgeht und mit Vorsicht diese
Gebilde formiert, welche dann so nützliche und unschätz-
bare Dienste leisten.
Von hier aus fällt denn auch ein belehrendes Licht
auf den philosophischen Begriff des Unendlichen. Auch
dieser ist ein Hilfsbegriff, der freilich oft eine schäd-
liche Mißanwendung fand, der aber doch dem Denken ge-
wisse Hilfe leistet.
Dieses wichtige Vorstellungsgebilde entsteht rein durch
die Einbildungskraft und hat absolut keinen objektiven
Wert. Gerade die Widersprüche, welche in diesem Vor-
stellungsgebilde liegen, zeigen, daß es rein fiktiv ist, und
daß seine Anwendung auf die wahre Welt ein Mißbrauch
ist. Der stärkste Beweis für die Subjektivität von Raum
und Zeit liegt in ihrer Unendlichkeit: die gewöhnlichen
Begriffe von Raum imd Zeit sind dadurch als fiktiv de-
maskiert, als bloße Hilfshegriffe, Hilfsbilder, welche die
logische Funktion entwickelt, um das Gegebene zu ordnen
und zu begreifen. Gerade die subjektiven Operationen
gestatten solche Mißanwendungen, wie diese Begriffe sie
erfahren haben. Nur eine subjektive Operation läßt sich
fortgesetzt denken, als oh sie ohne Ende wäre und doch
64 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
vollendet. Demnach sind alle diese Produkte reine
Formen des Denkens, rein subjektive Operationen. Es
wäre ja doch auch wunderbar, wenn diese Begriffe oder
Vorstellungen Bilder des Objektiven sein sollten: Man
mache sich nur einmal klar, was denn dieser Begriff:
Bild, Abbild heißen soll; wie überhaupt die logischen
Funktionen Abbilder des Geschehenden sein sollten.
Nein! Alle diese Vorstellungen sind nicht Bilder des
Geschehens, sondern selbst ein Geschehen, ein Teil
des kosmischen Geschehens; dieses Geschehen tritt auf
einer gewissen Stufe der organischen Entwicklung mit
Notwendigkeit ein: das kosmische Geschehen setzt
sich in diesen Vorstellungen selbst fort; sie
sind ja psychische Produkte, psychische Prozesse, und
‘ das psychische Geschehen ist doch sicherlich ein Teil
^ des kosmischen Geschehens überhaupt; die Welt, so
wie wir sie worstellen, ist erst ein sekundäres oder ter-
tiäres Gebilde, das im Spiel des kosmischen Geschehens
in unseren Köpfen entsteht, und das nur zur Vermittlung
des Geschehens selbst entsteht. Nicht ein Bild der
wahren Welt ist diese Vorstellungswelt, sondern ein In-
strument, um jene zu erfassen und subjektiv zu be-
greifen.
Sie ist nur ein Hilfsgebilde, welches die logische Funk-
tion allmählich formiert, um sich zu orientieren. Man
kann dieses Vorstellungsgebilde der wirklichen Welt sub-
stituieren, und das tun wir alle praktisch; allein es ist
kein Bild des wahren Seins, nicht einmal ein Symbol
im gewöhnlichen Sinne, sondern nur ein Zeichen, um
das Wirkliche zu berechnen, ein logisches Hilfsgebilde,
um uns in dieser wahren Welt zu bewegen und in ihr zu
handeln. Praktisch können v/ir die Vorstellungswelt
an die Stelle der wahren Welt setzen, allein theore-i
tisch sind beide streng zu unterscheiden: die Vor-
stellungswelt ist erst ein sekundäres Produkt der wahren
Welt selbst, ein Gebilde, welches organische Wesen dieser
Welt aus sich heraus treiben.
Die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt.
65
Kapitel XIV.
Die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt.
Die Materi(3 ist ebenfalls eine solche Fiktion. In
diesem Vorstei] unijsgebilde sind widerspruchsvolle
Elemente verbunden; allein dieses Vorstellungsgebilde
tut uns ebensc' gute Dienste wie die Fiktion der Kraft.
Daß die Materie eine solche Fiktion sei, ist heutzutage
eine allgemeine Überzeugung der denkenden Köpfe. Die
Widersprüche in derselben hat besonders Berkeley
überzeugend nachgewiesen, der überhaupt merkwürdig
tief in das Wesen der logischen Funktion hineinblickte.
Die mannigfachen Kämpfe, welche um diesen Begriff
stattgefunden haben, drehen sich um denselben Punkt,
wie er uns schon mehrfach begegnet ist: ob die Ma-
terie eine Hypothese oder eine Fiktion sei.
Der Begriff der ^laterie mag umgearbeitet werden wie er
will: es bleiben an ihm in jedem Fall alle Widersprüche
kleben, welche schon sooft aufgedeckt worden sind.
Nicht das Unbekannte, was der Materie zugrunde liegt,
wird damit weggeleugnet: v>^ohl aber, daß dieses Un-
bekannte identisch sei mit dem Begriffsgebilde, das wir
Materie nennen.
Dieses Begriffsgebilde Materie ist aus ganz wider-
sprechenden Elementen zusammengesetzt, tut aber als
Fiktion die besten Dienste für das wissenschaftliche Den-
ken. Es ist daher ganz falsch, wenn man mit Berkeley,
sobald man die objektive Unmöglichkeit dieser Be-
griffe eingesehen hat, sie sofort sQs unnütz wegwirft:
diese Tat beruht auf. demselben Vorurteil, das die Philo-
sophie bis heute beherrscht: als ob logisch Wider-
spruchsvolles we.rtlos sei: gerade umgekehrt, logisch
widerspruchsvolle Begriffe sind die wertvollsten. Viele
Grundbegriffe, mit denen die sämtlichen Wissenschaften
operieren, sind Fiktionen: es handelt sich nicht darum,
diese Widersprüche aus ihnen wegzuschaffen — das ist
ein vergebliches Untijrnehmen — , sondern zu zeigen, daß
sie trotzdem dem Denken nützlich und förderlich sind.
Mail darf nicht das Vorurteil hegen, daß nur das logisch
Widerspruchslose auch logisch fruchtbar sei: dieDurch-
führung dieser Ansicht würde — da ja so viele Grund-
Vaihinger, Philosophie. 5
6ß Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
begriffe aller Wissenschaften widerspruchsvoll sind —
zu der Konsequenz des Agrippa von Nettesheim führen,
alle Wissenschaften für nichtig zu halten. Dieses Resultat
ist sehr zu unterscheiden von demjenigen, das wir er-
halten haben. Allerdings sind viele wissenschaftliche
Grundbegriffe fiktiv und widerspruchsvoll, und kein Ab-
druck des Wirklichen, das uns überhaupt unzugänglich
ist, aber darum sind sie doch nicht wertlos. Sie sind
psychische Gebilde, welche nicht nur die Illusion des Be-
greifens hervorbringen, sondern es uns auch ermög-
lichen, uns in der wahren Welt praktisch zu orientieren.
Eben weil unsere Vorstellungswelt selbst ein Produkt
der Welt der Wirklichkeit ist, kann sie nicht ein Abbild
des Seins sein: dagegen kann sie wohl ein Instrument
innerhalb derselben sein, mit Hilfe dessen sich höher
organisierte Wesen in der wirklichen Welt bewegen.
Sie ist ein Symbol, mit Hilfe dessen wir uns bewegen.
Die Wissenschaft hat das Interesse, dieses Symbol
immer adäquater und brauchbarer zu machen;
aber es bleibt doch ein Symbol. Gegen den Beweis aber,
daß, weil die Vorstellungswelt ein Produkt der wirklichen
Welt sei, sie nicht identisch mit derselben sein könne:
gegen diesen Beweis gibt es keine Instanz mehr. — Es
gibt keine Identität von Denken und Sein: die „Welt“ ist
nur ein Denk mittel; darum ist die Vorstellungswelt
eben auch nicht das letzte Ziel des Denkens; der
eigentliche Zweck des Denkens ist nicht das Denken und
seine Produkte selbst, sondern das Handeln und in letzter
Linie das ethische Handeln. Das Mittel dazu ist
die objektive Welt als Vorstellungswelt. Mit
Fichte kann man also sagen: die Welt sei das Mate-
rial des sittlichen Handelns. Fichte fehlte nur darin,
nun auch dies Material selbst vom Ich produzieren
zu lassen; nur die Form ist Produkt der Psyche. Die Vor-
stellungswelt ist lediglich ein Denk mittel, ein Instru-
ment, um das Handeln in der wirklichen AVelt zu
ermöglichen.
Der letzte und eigentliche Zweck des Denkens ist das
Handeln und die Ermöglichung des Handelns.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet, erscheint die
Vorstellungswelt im großen und ganzen eben als ein
Die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt.
67
bloßes Mittel; ihre einzelnen Bestandteile sind eben-
falls nur Mittel, Es ist dies ein System von Denk-
mitteln, welche sich gegenseitig fordern und unter-
stützen, und deren Schlußprodukt die wissenschaftlich
gereinigte Vorstellungswelt ist; diese ist nur eine unend-
lich feine Maschine, welche sich der logische Trieb
baut, lind sie verhält sich zur sinnlichen, vorwissen-
schaftlich geschaffenen Vorstellungswelt wie ein modernes
Eisenhammerwerk zum primitiven Steinhammer des Tertiär-
menschen, wie eine Dampfmaschine und eine Eisenbalm
zum plumpen Wagen des Heidebewohners. Beide aber
sind nur Instrumente, die sich zwar dem Grade
der Feinheit und Eleganz nach sehr weit unterscheiden,
die aber der Aid nach identisch sind: es sind auch In-
strumente, Produkte des logischen Triebes,
der logischen Tätigkeit. Die ganze Vorstellungswelt liegt
zwischen den beiden Polen: Empfindung — Bewegung
mitten darinnen. Die Psyche schiebt immer wei-
tere Mittelglieder zwischen diese beiden
Punkte ein, und die Feinheit und Ausbildung dieser
eingeschobenen Mittelglieder, Bilder und Hilfsbegriffe
wächst mit der Zunahme der Nervenmasse und der zu-
nehmenden Isolierung des Gehirns vom Rückenmark.
Zwischen den Empfindungs- und Bewegungsnerven liegt
unsere Vorstellungswelt, diese unendliche Welt, mitten
darin, und sie dient nur dazu, die Venuittlung zwischen
diesen beiden Elementen immer reicher, feiner, zweck-
mäßiger und leichter zu machen. Mit der Ausbildung
dieser Vorstellungswelt, mit der Anpassung dieses Instru-
mentes an die sich bemerkbar machenden objektiven
Sukzessions- und Koexistenzverhältnisse ist die Wissen-
schaft beschäftigt. Die Wissenschaft macht diese Kon-
struktionen weiterhin zum Selbstzweck und ist, wo sie
dies tut, wo sie nicht mehr bloß der Ausbildung des
Instrumentes dient, streng genommen, ein Luxus, eine
Leidenschaft. Alles Edle im Menschen hat aber einen
ähnlichen Ursprung.
Wenn wir sagen, daß unsere Vor stellungs weit zwischen den Ner-
ven der Empfindung und Bewegung liege, so müssen wir uns selbst
hier einer fiktiven Sprache bedienen: Faktisch haben wir ja nur
Empfindungen sowohl die Bewegungsvorslellungen, als die Vor-
stellungen von Nerven, also von Materie, sind schon Gebilde der
68 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
produktiven Phantasie, der Fiktion: es heißt das also mit anderen
Worten, daß die ganze Vorstellungswelt zwischen die Empfindun-
gen eingeschoben sei; diese sind ja einzig und allein das schließ-
lich Gegebene: nur gewisse Empfindungssukzessionen sind uns
gegeben. Also ist die Vorstellungswelt ein aus elementaren Emp-
findungen, resp. ihren Resten aufgebautes Gebilde, welches dazu
dient, zwischen verschiedenen Empfindungszentren eine leichtere
Vermittlung zu schaffen; die Vorstellungswelt entsteht durch
alle Vorgänge, durch welche die elementaren Empfindungen verän-
dert werden, selbst wieder nach elementaren Gesetzen. Durch diese
Verdichtung und Verbindung usw. der Empfindungen, welche in dem
Gehirne vor sich gehen, d. h. in demjenigen Teil der Wirklichkeit,
den wir als Gehirn anschauen, wird nun ein höheres, entwickel-
teres Gebilde erzeugt, welches den Dienst leistet, daß durch das-
selbe das menschliche Handeln bereichert und vervollkommnet
wird. Es ist hierbei prinzipiell irrelevant, ob man die fiktve Tätig-
keit schon bei der Bildung der Raumvorstellung beginnen läßt,
oder erst später; prinzipiell wichtig ist die Einsicht, daß alle
höheren Vorstellungsgebilde nur Mittel zum Zweck der
Erleichterung des Verkehrs empfindender „Wesen“ sind. Die Theorie
der Fiktionen aber lehrt eben, daß die Brauchbarkeit solcher
Fiktionen kein Beweis ist für ihre objektive Wahrheit:
die logische Theorie der Fiktionen hat den Mechanismus aiif-
zudecken, durch den jene Gebilde ihre Dienste leisten.
Man kann es daher nur als verzeihliche Schwäche
bezeichnen, wenn die Wissenschaft meint, es in ihren
Begriffen mit dem Wirklichen selbst zu tun haben:
sie hat es mit dem Wirklichen nur insofern zu tun, als
sie die unabänderlichen Sukzessionen und Koexistenzen
feststellt; dagegen die dasselbe umspielenden, umfassen-
den Begriffe sind fiktiver Natur, Zutaten der Menschen,
bilden bloß die Einfassung, mit der der Mensch den
Edelstein der Wirkliehkeit umgibt, um diese besser
handhaben zu können. Die Wissenschaft hat also zwei
Aufgaben: 1. die wirklichen Sukzessionen und Ko-
existenzen festzustellen, 2. die Begriffe, mit denen
wir das Wirkliche umspinnen, immer knapper, adäquater,
unschädlicher und nützlicher zu gestalten. So ist
die Umspinnung der Wirklichkeit mit Begriffen, wie sie
Aristoteles und das Mittelalter liebten, ungemein
schädlich, weil sie das Wirkliche verdeckt und den
Blick von der Wirklichkeit auf die schimmernde, aber
hohle Umfassung der Begriffe lenkt: freilich ohne sie
können wir mit der Welt nichts anfangen, nicht in ihr
handeln; sie sind ein notwendiges Übel; als solches haben
Die Materie und die sinnliche Vorstellungswelt.
69
denn auch große Denker die Begriffe und das diskursive
Denken selbst betrachtet — als ein notwendiges Übel,
ohne welches Hilfsmittel aber die Wirklichkeit nicht zu
erfassen ist. Die Entblößung des Wirklichen von allen
Begriffen, von allen diskursiven Handhaben, führt zu
jenem Zustand, den die griechischen Sophisten und Skep-
tiker dai stellen: man enthält sich jedes Urteils. Indessen
gingen diese darin zu weit, daß sie die materielle
Richtigkeit der allgemeinen Urteile bezweifelten: denn die
Feststellung einer unabänderlichen (oder wenigstens
innerhalb unseres Betrachtungsfeldes noch nie abgeän-
derten) Sukzession und Koexistenz ist ein sicheres Wis-
sen: nur die formelle Fassung im Urteil ist falsch
und fiktiv: demi das Urteil trennt immer in Subjekt
und Prädikat, in Substantiv und Verbum'; also
in Ding und Eigenschaft, Ursache und Wirkung.
Die Aussprechung jener beobachteten Sukzession ist uns
also unmöglich ohne die Handhaben des diskursiven
Denkens ; diese selbst aber für Ausdruck des Wirklichen
zu halten, ist ein veralteter Standpunkt.
Als eigentlich Wirkliches würden wir also nur gewisse Emp-
findungssnkzessionen setzen, aus denen sich nach bestimmten
Gesetzen Gebilde erzeugen, welche wir als Fiktionen betrachten,
und welche sich aus jenen Empfindungen in gewissen Empfindungs-
zentreu entwickeln, und Hilfsmittel einer reicheren Empfindungs-
verknüpfung sind.
Es ist nun aber nicht möglich, ohne die Hilfsmittel
des diskursiven Denkens sich anderen verständlich zu
machen oder auch nur zu denken, zu rechnen. Ohne die
diskursiven Hilfsmittel sind wir wehrlos, uns bleibt dann
nur übrig, zu schweigen und hinzustarren, wie es gewisse
Skeptiker wollen: wir ergreifen das uns dargebotene
Mittel, um die Wirklichkeit zu berechnen, aber wir billi-
gen die subjektiven Zu- und Ansätze nachher wieder
in Abrechnung, wie man in der Rechnung eine fiktive
Größe, welche man eingeführt hat, wieder fallen läßt.
Aber eine reinliche Scheidung ist nur möglich, wemi
wir ein für allemal die dis kursiven Hilfsmittel
als subjektive Handhaben betrachten.
Somit werden wir allmählich immer tiefer geführt und
veranlaßt, ganz allmählich von oben herab das Ge-
70 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
rüste, das der iMenscli um die Wirklichkeit
her umstellt, abzubrechen; lun dies zu tun, muß-
ten wir uns immer auf die vorhergehenden
Sprossen und Etagen dieses Gerüstes setzen:
brachen aber immer Avieder diese selbst ab, bis wir nun
auf die Grundpfeiler jenes Gerüstes gekommen sind:
Raum und Stoff. Dieser sukzessive Abbruch des
Denkgerüstes ist charakteristisch für den Aufbau selbst
und seine allmähliche Aufführung im Laufe der Zeit in
der historischen Entwicklung der Menschheit.
Die logische Funktion dankt sich am Ende und Ziele
i hrer Tätigkeit selbst ab: das Gerüste wird abge-
schlagen, wenn es seinen Zweck erfüllt hat.
Die Wichtigkeit der logischen Funktion schützt sie
nicht von der Selbsterkenntnis ihrer Nichtigkeit: denn
das ist der historisch großartige Trugschluß der Mensch-
heit gewesen, aus der Wichtigkeit auf die Richtig-
keit zu schließen.
Es ist dies derselbe Triigscliluß, den v/ir schon mehrfach dar-
gestellt haben: es darf eben aus der Zweckmäßigkeit eines psy-
chischen, logischen Gebildes nicht auf seine Richtigkeit geschlossen
werden: auch die Differentiale sind zweckmäßige Gebilde, und
doch wird niemand behaupten wollen, es gebe Differentiale. So wie
der Mechanismus aufgedeckt wird, durch den diese Begriffe so
Zweckmäßiges leisten, verschwindet der Schein ihrer Wahrheit,
den sie so lange haben, als dieser Mechanismus nicht aufgedeckt
wird.
Die logische Funktion begiimt ihre Arbeit schon bei
der Produktion der elementaren Grundbegriffe: die Psy-
chologie zeigt, wie die Gebilde von Raum, Stoff usw.
aus elementaren Empfindmigen entstehen: schon hier
beginnt die Arbeit des diskursiven Denkens, und darum
eben sind schon diese Produkte der Psyche Fiktionen,
welche der logische Trieb macht, mn sein Ziel zu er-
reichen. So baut der logische Trieb auf, um
schließlich seine Produkte selbst zu zerstö-
ren. Das braucht aber nicht zum Pessimismus zu führen:
auch der Gießer zerbricht die Form, weim der Glocken-
guß fertig ist. So bricht die logische Funktion ihr zer-
brechliches Gerüste selbst ab, wenn sie ihr Ziel erreicht
hat: Feststellung der unabänderlichen Verhältnisse und
Zusammenhänge.
Das Atom als Fiktion.
71
Diese Betrachtungsweise allein kann uns von dem
Druck der logischen Widersprüche befreien, welche in den
wissenschaftlichen Grundbegriffen und Grundprozessen
sich immer mehr enthüllen: nicht diese selbst sind die
Hauptsache, sondern sie sind Mittel. Das diskursive
Denken schafft sich selbst immer feinere Mittel, um mit
diesen die Wirklichkeit zu bearbeiten, zu umspannen, zu
umfassen: es ist ein logischer Fehler, das Mittel, das
Instrument mit dem Gegenstände selbst zu verwechseln,
zu dessen Bearbeitung allein es berufen ist.
Wenn der logische Mechanismus anfgedeckt ist, so verschwindet der
Anspruch auf sogenannte objektive Wahrheit; denn dann ist ja eben
die Frage beantwortet, wie es komme, daß wir mit fiktiven Ge-
bilden doch das Wirkliche berechnen können; das muß
schließlich auf einigen wenigen mechanischen Grundprozessen des
psychischen Lebens beruhen. Wenn man nach der Aufdeckung die-
ses Mechanismus noch behauptet, diese Gebilde seien doch real,
so gleicht man jenem bekannten Bauern, welcher, nachdem man
ihm den Mechanismus der Dampfmaschine gezeigt hatte, nach
dem Pferde fragte, welches in der Lokomotive stecke.
Nmi ist aber allerdings der Mechanismus der Lokomotive ohne
den Zweck, den er erfüllt, nicht zu begreifen : so ist auch der Mecha-
nismus des Denkens nicht zu begreifen ohne den Zweck, den er
erfüllen soll: als solchen können wir aber nur eine Erleichterung
und Beschleunigung der Vorstellung sbewegimg, eine rasche und
sichere Verbindung und Vermittlimg der Empfindimgen bezeichnen.
Es gilt also zu zeigen, wie die fiktiven Methoden und
Gebilde dies ermöglichen: darin besteht aber eben der Me-
chanismus des Denkens, der scldießlich einzig und allein zum Ziele
haben kann, Empfindungsvermittlungen zu ermöglichen, d. h. das
Handeln zu erleichtern. Es ist also zu zeigen, wie das Handeln
dadurch erleichtert werde; dabei ist festzuhalten, daß der ganze
]\Iechanismus des Denkens ein gegliedertes System
von sich gegenseitig unterstützenden Hilfsmitteln
ist, so daß die Einen Fiktionen zunächst nur das Instrument selbst
vervollkommnen, und selbst wdeder Hilfsmittel des Instruments sind.
Kapitel XV.
Das Atom als Fiktion.
Unsere Aufgabe, die letzten Fundamente des logischen
Denkgerüstes aufzudecken, ist noch nicht ganz erfüllt:
Avir müssen unserer Übersicht noch einige solcher fiktiver
Denkbegritfe, Denkmittel hinzufügen, zunächst das Atom.
72 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufxählung d. Fiktionen.
Dies ist eine Modifikation des allgemeinen Begriffes der
Materie und verhält sich zu ihr seihst wie die Diffe-
rentialfiktion zu der Fiktion einer Länge der Kurven
überhaupt ; die Materie wird als aus unendlichkleinen
Teilen bestehend betrachtet. Es ist ein wahrer Kampf
ums Atom entstanden, der sich eben auch wieder darum
dreht, ob es Hypothese oder Fiktion sei: freilich
legen erst wir diesem Kampf diesen Namen bei: die
Streitenden selbst waren sich ihrer Sache meist nicht
klar. Meistens wiesen die Gegner des Atoms seine Wider-
sprüche nach und verwarfen es darum als unbrauchbar
für die Wissenschaft. Die unvorsichtigen Vorsichtigen!
Ohne das Atom fällt die Wissenschaft; aber allerdings
— wahres Wissen und Erkennen ist m it demselben nicht
möglich. Es ist ein widerspruchsvoller Vorstellungs-
knoten, der aber notwendig ist zur Berechnung der
Wirklichkeit. Man hat erst neuerdings eingesehen, daß
das Atom eine Fiktion, eine fiktive Rechenmarke sei, und
u. a. hat Lieb mann dies klar ausgesprochen.
Diese Erkenntnis gewinnt aber erst Wert in dem Zu-
sammenhang unserer systematischen Betrachtung, Avelche
noch vieles andere seiner AVürdi; als Hypothese beraubt
und dessen Fiktivität und Subjektivität nachweiat. Die
Streitigkeiten um das Atom werden ebenfalls ein belehren-
des und höchst interessantes Thema unserer weiteren
Behandlung abgeben: in diesem Kampf konzentriert sich
ja die ganze moderne Naturphilosophie. Die SLeitenden
griffen die Sache meist falsch an. Die Verteidiger sol-
cher Begriffe wollten immer nachwoisen, daß die ent-
deckten Widersprüche nur scheinbare seien, und daß
darum der Begriff objektivii Gültigkeit liabe und
also auch angewendet werden dürfe. Die Gegner wiesen
immer richtig die Widersprüche nach und wollten darum
dem Begriff das Bürgerrecht in d(ir Wissenschaft ver-
sagen, schütteten aber das Kind mit dem Bade aus, wäh-
rend jene es — ungewaschen annahmen. Das Besultat
Avar dabei immer, daß der Begriff trotz aller .Anfeindung
stehen blieb, aber auch seine Widersprüche stets neuen
Widerspruch herausforder len.
Nachträglich erst pflegt die Einsicht zu kommen, daß
beide Teile Unrecht und Recht hatten: der Begriff ist
Fiktionen der Mechanik und mathematischen Physik. 73
zwar widersprucb s voll, aber doch nötig: denn die
meisten Grundbegriffe sind dieser Art. Dabei ist be-
merkenswert, daß im Laufe der Zeit das Gefühl dieser
Widersprüche durch den Gebrauch dieser Begriffe sich
abstumpft : Wie haben sich unsere heutigen Mathematiker
und Physiker an Differentiale und Atome gewöhnt imd
keiner merkt mehr die Widersprüche, mit denen diese
Begriffe behaftet sind. Während man die Widersprüche
in den bisher gewöhnten Begriffen nicht sieht, sieht man
sie bei den neuen Gebilden: so erregte einst die Ein-
führung des Unendlichen, der Differentiale denselben
Widerspruch, den jetzt die Einführung des Raumes mit
n-Dimensionen selbst von hochgebildeten Denkern erfährt :
so ging es auch dem Irrationalen, Imaginären in
der Mathematik.
Kapitel XVI.
Fiktionen der Mechanik und mathematischen Physik.
Genau wie die Mathematik ihren großartigen Auf-
schwung in der Neuzeit einzig und allein der Ein-
führung passender Fiktionen und darauf ba-
sierter ingeniöser Methoden verdankt, so haben
auch die Mechanik und mathematische Physik ihre Fort-
schritte in den letzten Jahrhunderten neben der Be-
obachtung großenteils der Einführung von Fik-
tionen zu verdanken. Solche fiktiven Begriffe: die
starre Linie, der Körper Alpha (als der unbeweg-
liche Mittelpunkt des absoluten Raumes), der Schwer-
punkt, die actio in distans, die Kräfte überhaupt usw.
sind geradezu die Grundlagen der modernen Mechanik.
Um die theoretische Darstellung dieser physikalischen
Grundbegriffe hat sich am meisten Duhamel verdient
gemacht, der in seinen methodologischen Werken diese
Seite der theoretischen Mechanik, freilich noch ziemlich
mangelhaft, behandelt. Überhaupt wenn sich die Logiker
nur die Mühe geben würden, bei den logischen Denk-
bewegungen der Physiker in die Schule zu gehen und hier
zuzusehen, wie die logische Arbeit gemacht wird, könn-
ten sie sehen, wie willkürlich in diesen Gebieten fiktive
74 Erster Teil : Prinzipielle Grimdlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
Begriffsgebilde formieid werden. Die theoretische Me-
chanik besteht zum größten Teil aus solchen rein will-
kürlichen Begriffen, welche aber auch von den Physikern
dafür nur als Rechnungsmittel, Hilfsbegriffe,
Angriffspunkte, theoretische Ansätze -- kurz
als Fiktionen behandelt werden. Überhaupt hat die mo-
derne Logik viel zu wenig von der Mathematik und
ihren bewunderungswürdigen Methoden gelernt. Die Logik
muß mehr von den Methoden der Mathematik und Me-
chanik lernen, um hier zu beobachten, wie denn eigent-
lich die logische Funktion verfährt, um das Wirkliche
zu berechnen : in diesen Gebieten wimmelt es von
K u n s t g r i f f e n. Übrigens ist die ganze Mathematik selbst
nur ein Kunstgriff: über das Seiende selbst gibt sie
kaum einen Aufschluß : sie ist ni clit Selbstzweck,
sondern hat ihren Hauptzweck darin, eine Methode und
ein Hilfsmittel zu sein. Die Mathematik ist die eigent-
lich genialste Methode selbst, um das Wirkliche zu be-
rechnen, und sie dient zur Ausbildung des Maßstabes,
auf den wir die ganze Welt zurückführen: des Raumes
und der Bewegung im Raum. Daß auch der Begriff der
Bewegung eine Fiktion sei, das konnten schon die
eleatischen Widersprüche lehren: diese sind so wenig
gelöst, daß sie vielmehr so schroff wie damals dastehen.
Die Bewegung ist nur ein Begriffsgebilde, eine Vorstellung,
mit welcher wir die objektiven Veränderungen (die aber
für uns zuletzt nur als Empfindungsveränderungen ge-
geben sind) in ein geordnetes System zu bringen ver-
suchen. Daß aber dieses System der räumlichen Be-
wegung samt allen seinen Unterbegriffen nur ein fik-
tives Begriffsgebilde sei, folgt sowohl aus den
Widersprüchen des Bewegungsbegriffes selbst, als aus
den Widersprüchen des Raumbegriffes, auf dem jener
basiert. Das ist eben ein zusammenhängendes Gev/ebe,
ein zusammengeflochteiies Netz von subjektiven, fiktiven
Vorstellungen, mit denen wir das Wirkliche umspannen.
Das Vorhaben gelingt denn auch leidlich; aber damit ist
noch nicht gesagt, daß der Inhalt auch die Form des
Netzes haben muß, das wir über ihn ausspannen.
Auch die Begriffe eines absoluten, unendlichen
Raumes beruhen auf Fiktionen, ebenso wie die einer
Das Ding an sich.
75
absoluten Bewegung — wie überhaupt die Absolut-
erklärung eines Elementes eine Form der Fiktion
ist, welche mit der Verunendlichung ziisarnmenhängt.
Kapitel XVlf.
Das Ding an sich.
Ehe wir uns zum Begriff des Absoluten wenden,
haben wir noch einen anderen Begriff zu besprechen;
das Ding an sich. Nach allem Vorhergegangenen kann
unsere Stellung zu diesem Begriffe nicht unklar sein:
das Ding an sich ist keine Hypothese, sondern
eine Fiktion. Mit dieser Formel haben wir viele bis-
herigen Schwierigkeiten auf einmal gelöst. Kant ist der
.Urheber dieses Begriffes, der ein Produkt der logischen
Funktion in ihrer imaginativen Tätigkeit ist. Der erste
Punkt, der dadurch erledigt wird, ist da.s historische
Verständnis Kants selbst. Die ganze Zweideutigkeit, welche
Kant bei diesem Begriffsgebilde entwickelt, staanrnt ledig-
lich von der Unentschlossenheit, von dem Schwanken
zwischen Ding an sich als Hypothese oder Fiktion: so
nennt Kant in der ersten Aufl. der Kr. d. r. V. einmal
das Ding an sich eine „bloße Idee“ = Fiktion. Kant war
von Anfang an bei der Bildung dieses Begriffes nicht viel
klarer gewesen, als einst Leibniz bei der der Differentiale.
Zweitens erhält die Bezeichnung Grenz begriff eine
wichtige Beleuchtung : als Fiktion ist der Begriff des
Dinges an sich Grenzbegriff in demselben Simre, in
welchem von der Methode der Grenzen in der
Mathematik gesprochen wird: die Grenze wird durch
eine Fiktion zu etwas Realem gemacht, als Reales be-
handelt. Auch wird der ganze Kampf um das Ding an
sich, wie er von Reinhold, Schulze, Maimon,
Jacobi, Fichte u. a. in der erstmaligen Blüte der
Kant j sehen Philosophie geführt worden ist, und wie er
neuerdings in der zweiten Periode dieser Philosophie
von neuem zum Ausbruch gekommen ist, dadurch mit
einem Male viel klarer: es handelt sich einfach darum,
ob das Ding an sich eine Fiktion sei oder eine
76 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
Hypothese. Derjenige, der dies klar eingesehen hat,
ist Maimon. Schulze sah die Widersprüche des Be-
griffs und verwarf ihn: Maimon sah die Widersprüche und
behielt den Begriff als Fiktion hei. Ohne Zweifel
müssen wir seinem Beispiel folgen. Durch Maimon ist
auch der Vergleich des Dinges an sich mit dem Imagi-
nären, also mit |/ — a aufgekommen, und zwar ist dieser
Vergleich sehr genial: j/" — « ist das Symbol einer mathe-
matischen Fiktion: es ist die unberechtigte Aus-
dehnung und Übertragung einer mathemati-
schen Operation auf einen Fall, wo das Material
diese Anwendung verbietet und zu einer Sinnlosigkeit
macht: nichtsdestoweniger führt die mathematische Rech-
nung häufig genug auf diesen Begriff, mit dem dann
einstweilen gerechnet wird, als ob er eine Realität, eine
darstellbare Zahl bezeichnete, und der aber, wohlgemerkt,
am Ende der Rechnung stets als wertlos wieder
herausfällt.
Genau derselbe Fall liegt vor beim Ding an sich.
Das Ding an sich entsteht durch eine unberechtigte An-
wendung einer logischen Operation; jene widerrechtlich
ausgedehnte mathematische Operation in der Formel
(/■ — a ist die Radizierung. diese logische Operation ist
die Anwendung der Kategorien von Ding und Eigen-
schaft (und von Kausalität) auf ein Etwas, wo seine
Anwendung sinnlos wird, nämlich auf das eigentliche
und letzte Wirkliche. Wenn eimnal feststeht, daß alle
Kategorien nur subjektiv sind, so kann auch diese Kate-
gorie nicht auf das eigentliche Wirkliche angewandt
werden. Indessen spielt bekanntlich hauptsächlich noch
eine andere Kategorie herein: die Kategorie der Ur-
sächlichkeit; diese wird ebenfalls unberechtigt ange-
wandt auf ein Etwas, wo seine Anwendung unbefugt ist,
auf das eigentlich Wirkliche. Ist nämlich, wie Kant das
tut, festgestellt, daß diese Kategorie subjektiv ist, so
ist es ein Widerspruch, dem eigentlich Wirklichen
diese Kategorie zuzuschreiben. Diese Anwen-
dung fällt also unter die oben sogenannten unberechtigten
Übertragungen oder Ausdehnungen, wo ein ganz anderer
Fall unter ein gewisses Begriffsgebilde gebracht wird,
Das Ding an sich.
77
der nicht für dasselbe geeignet ist. Speziell ist die Ana-
logie jener unberechtigten Ausdehnung der
mathematischen Operationen hier aufklärend —
es ist ja auch hier eine unberechtigte Anwendung auf ein
ungeeignetes Gebiet, auf das eigentlich Wirkliche. Nur
innerhalb des Rahmens unseres diskursiven Denkens
haben diese Kategorien Sinn und Berechtigung, hier
dienen sie zur Einleitung der logischen Operationen.
Nur in unserer Vorstellungswelt gibt es Dinge, gibt es
verursachende Dinge; in der wahren Welt sind diese
Begriffe ein leerer Schall.
Indessen ist dieser Begriff des Dinges an sich trotz
seiner Widerspruchsfülle nicht zu entbehren für die
Philosophie, ebensowenig als das Imaginäre für die
Mathematik. Wenn man überhaupt vom Wirklichen
sprechen will, so muß man es mit einer Kategorie be-
zeichnen: sonst ist es nicht bloß undenkbar, sondern auch
gar nicht einmal ausdrückbar.
Unsere ganze Erörterung läuft aber schließlich darauf
hinaus, daß mit dem Ding an sich die subjektive,
fiktive Methode ihren Abschluß findet. Um näm-
lich die Vorstellungswelt in uns selbst erklären zu können,
nahm Kant an, die wahre Welt bestehe aus Dingen an
sich, welche in gegenseitiger Einwirkung begriffen seien,
um aus dieser Einwirkung die Genesis der Empfindun-
gen zu erklären; nun aber ist zu bemerken, daß eigentlich
Kant nur sagen durfte und zuerst auch nur sagen wollte :
man muß (wir sind vermöge unseres diskursiven Denkens
dazu gezwungen) das wirkliche Sein so betrachten, als
ob es Dinge an sich gebe, welche auf uns wirken, und
dann die Vorstellung der Welt in uns hervorbringen. Fak-
tisch hatte er nach seinem eigenen System auch nur
hierzu das Recht: und dann war eben das Ding an
sich eine notwendige Fiktion, indem wir nur so die
wahre Wirklichkeit uns vorstellen, überhaupt denken und
davon sprechen konnten. Kant hat aber diesen reinen
Standpunkt nicht festgehalteii, sondern ihm hat sich das
Ding an sich in eine Realität, kurz in eine Hypo-
these verwandelt: daher sein Schwanken in der Er-
örterung des Begriffes.
78 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. A. Aufzählung d. Fiktionen.
Kapitel XVIIJ.
Das Absolute.
Als letzte und höchste Fiktion haben wir noch eine
Modifikation zu betrachten, welche mit dem Ding an
sich vorgenomnien worden ist, indem es zum Abso-
luten oder zur absoluten S u b s t a n z enveitert wird,
oder zur absoluten Weltkraft usw. Insofern Ding,
Substanz, Ursache, Kraft — selbst nur Vorstellungs-
gebilde voller Widersprüche sind, sind sie schon behan-
delt und auf gezählt: allein der Zusatz des Absoluten
verschärft die Fiktion. Die Widersprüche im Begriff des
Absoluten sind so eklatant, daß sie schon häufig dar-
gestellt worden sind; besonders der englische ]\letaphy-
siker Man sei hat sich durch den Nachweis dieser Wider-
sprüche Verdienste erworben.
Das Absolute ist eine metaphysische Wendung des
mathematischen Unendlichen. Diese beiden Begriffs
gebilde sind gleichwertige Fiktionen. Insofern das Abso-
lute ein Ding neben oder über der Welt sein soll, verfällt
es den Widersprüchen des Dinges überhaupt; es als
Kraft zu denken, führt auf andere Widersprüche ; ob diese
Fiktion dagegen eine wertvolle Begriffsbildung sei, ist
noch die Frage; indessen steht ihr enormer prakti-
scher Wert außer -Frage. Wir kennen nur Relatives, wir .
kennen nur unabänderliche Beziehungen und Gesetze der |
Phänomene : alles andere ist subjektive Zutat. Die Scheidung ;
der Welt in Dinge an sich = Objekte und Dinge an
^ s i c h = Subjekte ist die Urfiktion, von der alle anderen
schließlich abhängen. Auf dem Standpunkt des kritischen
Positivismus gibt es also kein Absolutes, kein Ding
an sich, kein Subjekt, kein Objekt; es bleiben
also einzig und allein die Empfindungen übrig, welche da
sind, welche gegeben sind, aus denen die ganze subjek-
tive Welt auf gebaut ist in ihrer Scheidung in eine Welt
physischer und in eine Welt psychischer Komplexe: der i
kritische Positivismus erklärt jede andere und weitere j
Behauptung für fiktiv, subjektiv und unbegründet : für ihn i
existieren nur die beobachteten Sukzessionen und Ko- j
existenzen der Phänomene; an diese allein hält er sich.
Jede Erklärung, welche weitergeht, kann nur mit den i
Das Absolute. Stellung der Fiktionen.
79
Hilfsmitteln des diskursiven Denkens sich weiter behelfen,
also mit Fiktionen. Die einzige fiktionsfreie Behauptung
in der Welt ist die des kritischen Positivismus. Jede
nähere, eingehendere Behauptung über das Seiende als
solches ist fiktiv. Insbesondere ist jedes weitere, darauf
gebaute System wertlos, insofern es sich nur im Kreise
der Hilfsmittel, Hilfsbegriffe und Instrumente des diskur-
siven Denkens bewegen kann.
B. Logische Theorie der wissenschaftlichen
Fiktionen.
Kapitel XIX.
Einleitende Vorbemerkungen
über die Stellung der Fiktionen und Semifiktionen
im Ganzen des logischen Systems.
Wir haben nunmehr die Aufstellung der Semifiktionen
und eigentlichen Fiktionen vollendet und unsere Bemer-
kung bestätigt gefunden, daß ein stetiger und allmäh-
licher Übergang zwischen jenen beiden logisch immer-
hin noch streng zu trennenden Fiktionen besteht. Als eine
Semifiktion begegnete uns zuerst die künstliche Ein-
teilung und die abstraktive Methode, und zu-
letzt schlossen wir mit den eigentlichen Fiktionen des
Atoms, des Unendlichen, des Dinges an sich.
Den Übergang zwischen beiden machten etwa die prak-
tischen Fiktionen (IX), von wo an die reinen Fiktionen
begannen. Bei jenen Semifiktionen fanden wir das oben
angegebene Prinzip bestätigt, daß sie Methoden und Be-
griffe sind, welche auf einer einfachen Abweichung
von der Wirklichkeit beruhen; diese Abweichung
ist indessen hier eine mehr materiale; dagegen die Ab-
weichung der Fiktionen im engeren Sinn ist dazu noch eine
f Ol male, indem in ihnen nicht nur dem Wirklichkeits-
inhalt widersprechende Begriffe gebildet werden, son-
dern indem bei diesen sogar die neugebildeten Begriffe
dem formalen Grundgesetz der Wirklichkeit, dem Ge-
setz der Identität und des Widerspruchs, widersprechen
und also selbstwidersprechend sind.
80 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
Wenn wir den großen Umfang dieser Methoden betrach-
ten, so mag es uns wohl wundern, warum diese Metho-
den bisher nicht in der Logik behandelt worden seien. —
Die Behandlung derselben in der bisherigen Logik be-
stand meistens entweder in einer falschen Sub-
sumtion dieser Erscheinungen unter ähnliche, aber nicht
identische Fälle, oder einfach in — Ignorierung. Man
behandelte die fiktiven Annahmen meistens unter der
Kategorie der Hypothesen^ und doch geht aus unserer
obigen Unterscheidung deutlich hervor, daß beide himmel-
weit verschieden sind trotz der Ähnlichkeit ihrer Er-
scheinung: Soweit die oben aufgezählten Fiktionen mehr
in Begriffen sich darstellen, welche eingeschoben wer-
den, in Annahmen, welche den Hypothesen äußerlich
ähnlich sind, behandelte man die Fiktionen als Hypo-
thesen; soweit sie aber mehr Methoden sind, stellte
man sie, wenn sie überhaupt berücksichtigt wurden,
mit diesen oder jenen induktiven oder deduktiven Metho-
den zusammen. Tatsächlich aber hat man sie meistens
übergangen; dieses Stillschweigen rührte ebensosehr von
der Scheu vor den Schwierigkeiten her, welche hier zu
liegen scheinen, als von der Unkenntnis im methodo-
logischen Detail der Wissenschaften.
Nach dem bisher Gesagten kann es nicht wiinder-
nehmen, wenn wir die Fiktion im weitesten Sinn, als
fiktive Tätigkeit gefaßt, der Deduktion und In-
duktion als ein gleichberechtigtes drittes Glied im
System der logischen Wissenschaft hinzufügen. Es
scheint uns unstatthaft, diese oben auf gezählten Metho-
den einfach der Induktion zuzuzählen, eben weil sie
nicht bloß den induktiven Wissenschaften angehören, und
außerdem ihre ganze Einrichtung, ihr Verfahren durchaus
den Kunstregeln der Induktion widerspricht.
Demnach betrachten wir es als eine Notwendigkeit, die
Fiktion mindestens als selbständigen Anhang zu
der bisherigen Logik der Induktion hinzuzufügen, glauben
aber doch, daß sie den Rang eines gleichberechtigten
Teiles beanspruchen darf.
Die Induktion zeigt die direkten Wege, auf denen man
sich dem Ziele nähert und die Schwierigkeiten über-
windet, die Fiktion die indirekten, die Umwege.
Stellimg der Fiktioneu
81
Die Induktion ist eine Methodologie der beschreibenden
Naturwissenschaften; die Fiktion ist eine Methode der
exakten, mathematischen Wissenschaften, sowie der
moral-politischen Disziplinen: wogegen sie im Gebiet der
beschreibenden sowie der historischen Wissenschaften
beinahe nicht zur Verwendung kommen kann. Es han-
delt sich hier nämlich bei den zuletzt aufgezählten Wissen-
schaften gar nicht um ein theoretisches Begreifen wie bei
den obigen, sondern um Feststellung kausaler Zu-
sammenhänge, welche hier nur durch treue Beob-
achtung und sachliche Schilderung zu erreichen sind. Es
ist eben auch eine Hauptaufgabe der Logik, resp. der
Methodologie, die Verschiedenheit der Methoden der
verschiedenen Wissenschaften aufzuweisen und zu
erklären.
Die Deduktion hängt allerdings enge mit der Fiktion
zusammen, aber nicht enger als die Induktion: und die
Fiktion ist, besonders in einigen Beispielen, mit dem
Axiom ebenso nahe verwandt als mit der Hypothese,
unterscheidet sich aber doch himmelweit von beiden. Beide,
Axiom und Hypothese, wollen Ausdruck einer Wirk-
lichkeit sein. Da.s ist die Fiktion nicht und will es nicht sein.
Dies hängt jedoch mit einem Punkte zusammen, den
wir schon mehrfach berührten, und den wir hier beson-
ders betonen: die wahre, echte, streng wissenschaftlich
aufgestellte Fiktion ist stets von dem Bewußtsein
begleitet, daß der fingierte Begriff, die fingierte Annahme
keine reale Gültigkeit habe: die bedeutendsten histori-
schen Fiktionen, z. B. Linnes System, Smiths Theorie,
teilweise auch die Atomistik und Differentialrech-
nung zeigen das.
Zu bemerken ist, daß das Bewußtsein, mit dem die
wissenschaftlichen Fiktionen aufgestellt werden, sich auch
darauf erstreckt, daß sie entweder nur provisorische,
zu späterem Ersatz oder Korrektur bestimmte Begriffe
sind, oder daß sie nur den logischen Verkehr ver-
mitteln sollen. Das erste trifft mehr ^ei den Semifiktionen,
das letztere mehr bei den eigentlichen Fiktionen zu:
die ersteren sind historisch-, diese logisch- provi-
sorisch. Jene fallen einmal im Laufe der Zeit weg, diese
fallen im Laufe der Rechnung aus.
Vaihinger, Philosophie
6
82 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. H. Theorie der Fiktionen.
Wenn wir mit Fehler eine Abweichung von der
Wirklichkeit, mit Irrtum einen widersprechenden
Begriff bezeichnen, so können wir die Semifiktionen „be-
wußte Fehler“, die echten Fiktionen „bewußte Irr-
tum er“ oder „bewußte Widersprüche“ nennen.
Jene dienen mehr nur zu praktischen Zwecken, diese mehr
zu theoretischen, jene mehr zum „Berechnen“, diese mehr
zum „Begreifen“, jene führen sich auf methodologische,
diese auf erkenntnistheoretische Motive zurück; jene sind
mehr indirekte Methoden, diese mehr inkorrekte Begriffe ;
jene sind mehr kunstreich, diese mehr künstlich. Jene
setzen ein Gedachtes an Stelle des Gegebenen,
diese durchsetzten das letztere mit Undenkbarem.
Jene nehmen Unwirkliches, diese Unmögliches an. Jene,
indem sie von der Wirklichkeit abweichen, weichen
den Schwierigkeiten aus. Diese schaffen dagegen neue
Schwierigkeiten; diese schalten also auch viel freier
mit dem Gegebenen als jene; jene verfälschen nur die
gegebene Wirklichkeit, um die wahre Wirklichkeit zu
finden, diese machen sie unbegreiflich, um sie — be-
greiflich zu machen. Jene sind nur Umwege, bewegen
sich aber auf demselben Terrain, diese verlassen ganz
den Boden der Wirklichkeit und bewegen sich in' der I^nft.
J ene verha Iten sich konträr, diese kontradiktorisch
zum Gegebenen. Jene substituieren dem Wirklichen ein
Verändertes, diese schieben unmögliche Glieder ein; jene
sind also Substitutionen, diese Interkalati onen.
Die Semifiktionen sind meist einfacher als die Wirk-
lichkeit sich darstellt, die echten Fiktionen kompli-
zierter. Die Fehler, welche durch jene gemacht werden,
müssen korrigiert werden, damit der Gewinn sich rein
herausstelle; hier werden Irrtümer nur vermieden, wenn
die Begriffe wieder aus der Rechnung wegfallen. Wenn
durch jene Methoden F ehler gegen den objektiven
Tatbestand der Wirklichkeit begangen werden, so wer-
den hier eigentlich formale Denkfehler begangen, lo-
gische Fehler. Jene wandeln auf Umwegen und Fuß-
wegen, diese aber auf verbotenen Wegen. Jene modi-
fizieren das Gegebene, diese infizieren es gewisser-
maßen mit Elementen, die nicht zu ihm gehören und doch
dazu dienen, es zu erfassen.
Abgreuzuüg der wisseaschaftlicheii Fiktion.
83
Kapitel XX.
Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion
von anderen Fiktionen, besonders von der ästhetischen.
Nachdem wir so innerhalb der Fiktionen selbst die
Unterschiede normiert haben, müssen wir auch die Gren-
zen der wissenschaftlichen Fiktion demgegenüber
abstecken, was man sonst noch mit dem Ausdrucke
„Fiktion“ zu bezeichnen pflegt.
Fictio heißt zunächst die Tätigkeit des fingere ^ also des
Bildens, Formens, Gestaltens, Bearbeitens,
Dar stelle ns, künstlerischen Formiere ns; das
Sich- Vor stellen, Denken, Ein bilden^ Anneh-
men, Entwerfen, Ersinnen, Erfinden. Zweitens
bezeichnet es das Produkt dieser Tätigkeiten, die
fingierte Annahme, die Erdichtung, Dichtung, den erdich-
teten Fall. Das freigestaltende Moment ist dabei
das hervortretendste Merkmal.
Ich schlage vor, künftighin alle wissenschaftlichen Fiktionen —
Fiktionen zu nennen, dagegen alle anderen, so die mythologischen,
ästhetischen usw. Figmente. Also z. B. Pegasus ist ein Figment,
Atom ist eine Fiktion. Das wird jedenfalls zur leichteren Unter-
scheidung beitragen. Die Gegner der Fiktion, verkennen sie also
insofern, als sie sie für ein bloßes Figment halten; ^^Fictio^^ hat
schon juristisch den Nebenbegriff praktischer Zweckmäßigkeit.
.Insofern die Mythologie als gemeinsame Mutter von
Religion, Poesie, Kunst und Wissenschaft zu betrachten
ist, tritt in ihr zuerst die freigestaltende Tätigkeit der Ein-
bildungskraft hervor, der Imagination, der Phantasie. Tn
ihr zuerst entstehen Produkte der Phantasie, denen kein
Wirkliches entspricht. Indessen ist die psychologische
Genesis aller Fiktionen aus allen Gebieten dieselbe;
Steinthal hat das hinreichend hervorgehoben. Als
solche mythologischen Fiktionen bezeichnet man nicht
nur allgemein alle Göttergestalten, sondern speziell auch
solche Gebilde, welche aus empirischen Elementen frei
zusammengesetzt sind. Die beliebtesten Beispiele sind
hier der Pegasus, die Sphinx, der^Zentaur, der
Greif — auch hier bemerken wir die freigestaltende
Tätigkeit der Seele wirksam in willkürlicher Verbindung
und Veränderung gegebener Wirklichkeitselemente. So
sehr diese und andere Fiktionen, also Engel, Teufel,
84 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie d, Fiktionen.
Nixen, Geister usw. für die logische Theorie der
Existenzialsälze interessant sein mögen, so sind sie
doch für unser Thema hier unwichtiger. Höchstens
insofern als das Urteil : „Die Materie besteht aus Atomen“
oder „die krumme Linie besteht aus Infinitesimalen“
eben nicht anders vers landen werden darf, denn als ein
fiktives Urteil, in welchem keine Existenz
ausgesagt werden soll. Wird dies aber doch hinein-
gelegt (d. h. wird das Urteil nicht so ausgelegt: die
Materie ist so zu betrachten, als ob sie aus Atomen
bestünde); so verwandelt sich eben die richtige Fik-
tion in ein unrichtiges Urteil, also in einen Irr-
tum. Die erste Bedeutung von Fiktion = mythologisches
Wesen ist also hiermit von der wissenschaftlichen Fiktion
abgegrenzt; ebenso alle spezielleren religiösen Fiktionen.
Indessen sahen wir doch oben, wie bestimmte theolo-
gische Fiktionen für die wissenschaftliche Betrachtung
der Fiktion von Wert sein können. Es ist eben auch hier
ein allmählicher Übergang von Dichtung und Wissenschaft.
An die mythologischen und religiösen Fiktionen
schließen sich enge die ästhetischen Fiktionen an,
die zum Teil einfach poetische Verwertungen jener sind,
zum Teil aber neugebildet werden. Die ästhetische Fik-
tion begreift nicht bloß alle Gleichnisse, Bilder, Ver-
gleichungen in sich, sondern auch diejenigen Vorstel-
lungsformationen, welche noch viel freier schalten mit
der Wirklichkeit. Hierzu sind nicht bloß alle Personi-
fikationen zu rechnen, sondern auch Allegorien und kurz
alle idealisierenden Vorstellungsformen. Die ästhetische
Fiktion, resp. eine Theorie derselben schließt sich zum
Teil sehr enge an die wissenschaftliche Fiktion an; und
das ist ganz natürlich, wenn man bedenkt, daß in der
Bildung beider dieselben elementaren, psychischen
Grundprozesse mitwirken. Die ästhetische Fik-
tion dient dem Zwecke, gewisse erhebende oder sonst
wichtige Empfindungen in uns zu wecken. Auch ist die
ästhetische Fiktion wie die wissenschaftliche nicht Selbst-
zweck, sondern Mittel zur Erreichung höherer Zwecke.
Diese Parallele läßt sich noch weiter aüsführen, und
sie ist äußerst belehrend. Ähnlich wie gegen die Einfüh-
rung wissenschaftlicher Fiktionen ein erbitterter Kampf
Abgrenzung der wissenschaftlichen Fiktion. 85
sowohl irn allgemeinen als jedesmal bei dem speziellen
Begriff sich erhoben hat, so wogte auch um die ästhe-
tische Fiktion — wie dies dem Kenner der Geschichte
der ästhetischen Theorie wohl bekannt ist — ein hart-
näckiger Kampf. Es ist der noch jetzt naohzuckende
Kampf um den Grad, in dem die Einbildungs-
kraft abweichen darf von der Natur, inwiefern
sie sich nachahmend verhalten soll, und wieweit -sie frei
gestaltend verfahren darf. Und wie in der Wissenschaft,
so ist auch in der Poesie, von der wir hier speziell
sprechen, mit den Fiktionen ein großer Unfug getrieben
worden, der häufig eine Reaktion zur Folge hatte, welche
aus ganz ähnlichen Gründen erfolgte, wie die Re-
aktion gegen den Mißbrauch der wissenschaftlichen Fik-
tionen. Der eigentliche Maßstab, inwieweit solche
Fiktionen in beiden Gebieten zuzulassen seien, und den
dort der gute Geschmack, hier der logische Takt
stets innegehalten hat, ist einfach der praktischeWert
solcher Fiktionen.
Eine weitere Art von Fiktionen sind die Fiktionen der kon-
ventionellen Umgangsformen. Die meisten Phrasen des
Umganges sind Fiktionen, v. Hartmann in seinem Aufsatz;
„Über die Verlogenheit des modernen Lebens“ hat zwar wohl ge-
zeigt, daß die meisten Wendungen im Umgang sowie auch die
Phrasen in der Politik usw. „Lügen“ seien, er hat aber vergessen,
darauf aufmerksam zu machen, daß das nicht bloß erlaubte,
sondern notwendige Fiktionen sind, ohne vrelche der feinere
Verkehr unmöglich wird, tmd die es daher auch immer schon ge-
geben hat. Diese Art kann man die höfliche Fiktion nennen.
Also auch hier ist dasselbe Prinzip, daß gewisse Rede- und
Vorstellungsformen, welche an sich rein erfunden und unwirklich
sind, den Verkehr erleichtern. Die höflichen Fiktionen nennt
man wohl auch konventionelle Fiktionen. Wemi ich sage:
„Ihr Diener“, so heißt das nicht: ich bin Ihr Diener, sondern:
Betrachten Sie mich so, als ob ich es wäi’e. Das Ais ob ist
also auch im praktischen Leben unentbehrlich : ohne solche Fik-
tionen ist kein feineres Leben möglich.
Dies führt weiter zu der etwa „offizielle Fiktionen“ zu
nennenden Form: so kann es z. B. im Interesse eines Staates
liegen, eine offizielle Fiktion zu machen; auch solche Formen
tadelt E. v Hartmann ganz ungerechtfertigt; nur wenn sie ausarten,
ist jener Tadel am Platz; hier muß der moralische Takt ent-
scheiden, wie sonst der ästhetische Geschmack und der lo-
gische Takt über die Anwendung von Fiktionen entscheidet.
So greift die Fiktion tief ins praktische Leben hinein. Auch
hier ist häufig der Fall, daß ursprüngliche Hypothesen zu Fik-
88 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
tionen werden. Solche Fälle können enorm prnktibch werden: z. B.
die Eidfrage: bei der gegenwärtigen Eidformel macht jeder, der
auf sie schwört, ohne an Gott zu glauben, eine erlaubte Fik-
tion. Die Wendung: Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen —
heißt dann: Ich schwöre, als ob es ein Gott hörte. Solche Fik-
tionen sind nicht nur erlaubt, sondern ge bo ten in gewissen Fällen
und ein Sträuben dagegen ist lächerlich.
Allerdings birgt diese unsere Theorie der praktischen Fik-
tionen — sie ist nur eine Konsequenz der kritischen Weltan-
schauung — viele Gefahren in sich, welche z. B. E. v. Hartmann
richtig aufzeigte. Allein Faktum ist, das solche Fiktionen notwen-
dig sind: sie sind eine Folge der menschlichen Unvollkommenheit,
genau wie auch die diskursiven Hilfsmittel durchaus kein Vorzug
sind (wie z. B. Nicolai richtig hervorhob). Ob sie aber bloß Folgen
der Unvollkommenheit seien, ist noch eine Frage. Man sieht
hieraus, wie unsere Theorie auch für die praktische Philosophie
wichtig wird. Unser ganzes höheres Leben beruht auf Fiktionen:
wir haben schon oben gezeigt, daß unseres Erachtens eine reine
Ethik nur auf Grund der Anerkennung ihrer fiktiven Grundlage
aufgebaut werden kann. Wie nahe dadurch Täuschung und „Wahr-
heit“ gerückt werden, liegt auf der Hand. Wir werden noch unten
darauf hinweisen, daß „Wahrheit“ nur der zweckmäßigste Irrtum
sei. Es ist ein Irrtum, zu meinen, daß eine absolute Wahrheit zu
finden sei, oder ein absoluter Maßstab von Wissen und Handeln;
das höhere Leben beruht auf edelenTäuschungeii. So zeigt
sich, daß unsere Theorie also auch eine ganz andere praktische
Weltanschauung mit sich führt, als die gewöhnliche.
Kapitel XXL
Der Unterschied der Fiktion von der Hypothese.
Daß die Fiktion meist als Hypothese behandelt wurde
(während sie doch methodologisch ganz davon ver-
schieden ist), dieses Faktum haben wir schon erwähnt:
es findet seine Erklärung darin, daß Fiktion und Hypo-
these sich äußerlich sehr ähnlich sehen, daß beide fak-
tisch nicht streng immer zu trermen sind, und endlich
dariri, daß die logische Theorie überhaupt immer erst
einige Zeit nach der Ausbildung einer wissenschaftlichen
Praxis zu kommen imstande und im Rechte ist.
Die Hypothese geht stets auf die Wirklichkeit^) :
d. h. das in ihr enthaltene Vorstellungsgebilde macht
h Bei mehreren gleichmöglichen Hypothesen wählt man darum die
wahrscheinhehere aus ; dagegen bei mehreren gleichmöglichen Fiktionen
wählt man die zweckmäßigste aus — darin zeigt sich der Unter-
schied beider Gebilde sehr deutlich.
Der Unterschied der Fiktion von der Hypothese.
87
den Anspruch oder hat die Hoffnung, sich mit einer einst
zu gebenden Wahrnehmung zu decken: sie unterwirft
sich der Probe auf ihre Wirklichkeit mid verlangt
schließlich Verifikation, d. h. sie will als wahr, als
wirklich, als realer Ausdruck eines Realen nachge-
wiesen werden. Ausnahmslos will die Hypothese ein
Wirkliches statuieren; sind wir auch über das fak-
tische Vorkommen des hypothetisch Angenommenen
noch nicht sicher und gewiß, so hoffen wir doch, daß dies
Angenommene sich eines Tages erweisen werde. Also
wenn wir die Hypothese aufstellen, daß der Mensch
aus niederen Säugetieren hervorgegangen sei, so wollen
wir damit strikte das wirkliche Vorhanden-
gewesensein der unmittelbaren und mittelbaren Vor-
fahren des Menschen behaupten, wir wollen sagen, daß
wir glauben, hätten wir damals gelebt — eine praktisch
unmögliche, aber logisch notwendige Fiktion — so wären
diese Formen auch in unsere Wahrnehmung getreten,
und daß Avir hoffen, die Reste dieser nun verschwun-
denen Mittelglieder aufzufinden. Wir werden zur Auf-
stellung dieser Hypothese genötigt durch die Konsequenz
des Kausalgesetzes. Nach diesem bis jetzt als unab-
änderlich beobachteten Gesetz ist jedes Phänomen aus
anderen zu erklären, außer es sei ein Elementarphänomen.
Da nun der menschliche Organismus alle Spuren davon
trägt, .daß er kein Eiementarphänomen sei, so müssen
andere Phänomene seine Entstehung verursacht haben.
Danach schließen wir auf das uns nicht bekannte Glied —
the missing link - dieses notwendigen Kausal Verhält-
nisses nach Analogie der mis sonst bekannten Zusairnneii-
hänge: Avas Avir erschließen und hypothetisch annehmen,
ist dies Vorhandengewesensein von Mittelformen, aus
denen die jetzigen Menschen unmittelbar entstanden sind
nach unabänderlichen Gesetzen der Sukzession. Dies
ist eine Hypothese.
Nun können Avir gleich hieran die Fiktion Verdeut-
lichen. Wenn Goethe das Vorstellungsgebilde eines
Urtieres einführt, nach dessen Analogie alle Tiere zu
behandeln und zu erklären, als dessen Modifikationen
alle bekannten Tierarten zu betrachten seien, so ist die
Erdichtung eines solchen Urtieres eine schematische
88 Erster Teil: Prinzipielle Gnindlegung. B. Theorie der Fiktionen.
Fiktion. Denn Goethe will damit wohl nicht das fak-
tische Vorhandensein eines Urtieres behaupten, er will
nicht sagen, daß ein solches jemals in die Wahrnehmung
fallen könnte oder irgendwo existieren könnte oder
existiert hätte: sondern er will sagen, daß alle Tiere so
zu betrachten seien, als ob sie Abkömmlinge eines Ur-
tieres, als ob sie Modifikationen eines solchen seien.
Das Fiktive an dieser Fiktion ist die Betrachtung,
als ob es ein solches Tier geben könnte: das
Hypothetische daran — es ist eine Semifiktion — ist
die Behauptmig, daß alle tierischen Formen reduzierbar
seien auf einen Typus : dies ist eine auf Beobachtung be-
ruhende Behauptung, deren Richtigkeit induktiv zu
erweisen ist: daß nämlich alle tierischen Formen im
ganzen und einzelnen als Modifikationen eines solchen
idealen Typus- zu betrachten seien.
Welchen Wert diese Go et besehe Fiktion habe, liegt
auf der Hand : sie gibt Anlaß zu einer ganz neuen Klassi-
fikation der tierischen Formen und bereitet außerdem heu-
ristisch die Wahrheit vor. Nun hat sich im- Laufe der
Zeit diese Goethe sehe Fiktion als eine heuristische
bewährt, ist aber jetzt weggefallen, weil die wahre Be-
trachtung in Gestalt des Darwinismus an ihre Stelle
getreten ist, nämlich, daß alle tierischen Formen von-
einander wirklich abstammen, und daß ein Urtier höch-
stens als Monere gedacht werden könne. Die Goethe-
sche Fiktion hat also heuristisch die Darwinsche Hypo-
these vorbereitet. Während der Darwinismus das wirk-
licheVorhandensein solcher Urtiere behauptet, leug-
net sie gerade Goethe.
Goethe will seine Idee nur als Fiktion betrachtet
wissen. Nun ist aber das nicht ein Irrtum' gewesen, wie
man etwa meinen könnte, sondern das Goethesche
Urtier war eine brauchbare Fiktion, indem es mit Ein-
schluß jener Moneren für alle Formen eine Urform,
einen Urtypus aufstellt, als - dessen Modifikationen alle
zu betrachten sind. Ob jedoch diese Fiktion noch brauch-
bar sei, ist eine andere Frage. Die heutigen Urtiere
(Moneren, Bathybien) sind keineswegs das Urtier
Goethes, der darunter weder so formlose Wesen ver-
stand, wie jene Urtiere sind, noch ein wirkliches Vor-
Der Unterschied der Fiktion von der Hypothese.
89
korruTien des Urtieres behauptete, das für ihn nur als
Singular, also als Typus bestand (nicht Urtiere, son-
dern das Urtier, sagte Goethe). Demnach geht die
Fiktion keineswegs darauf aus, etwas Wirkliches zu
behaupten, sondern etwas, nach dem sich die Wirklich-
keit berechnen und begreifen läßt, was in dem
eben angegebenen Beispiel wirklich der Fall ist. Zu-
gleich ist dieses Beispiel auch Zeuge davon, wie leicht
Fiktion und Hypothese zu verwechseln sind,
imd wie notwendig und wohltätig hier eine scharfe,
logische Distinktion ist.
Die Bestimmung der Hypothese ist freilich auch nur
eine provisorische — aber das Ziel, dem sie zu-
steuert, ist ihre theoretische Durchführung und
die Bestätigung durch die Tatsachen der Er-
fahrung. Auch die Hypothese soll also aufgehoben
werden, aber dadurch, daß die hypothetische Vor-
stellung als vollberechtigt unter den Kreis des
als wirklich Angenommenen tritt. Die provisorische Be-
stimmung der Fiktion dagegen ist eine ganz andere:
die Fiktion, soweit wir sie als provisorisches Hilfs-
gebilde bezeichnet haben, soll im Laufe der Zeit weg-
fallen und der wirklichen Bestimmung Platz machen;
soweit sie aber echte Fiktion ist, soll sie wenigstens
logisch wieder ausfallen, sobald sie ihre Dienste ge-
tan hat.
Nun ist aber in dem Gesagten auch angegeben, inwie-
fern in einzelnen Fällen ein Zweifel darüber bestehen
kann, ob eine bestimmte Annahme Fiktion oder Hypo-
these sei: wenn die Hypothese so allgemein ist, daß
sie sich schließlich unmöglich mit der gegebenen Wirk-
lichkeit decken kann, und wenn man dann eine Modi-
fikation dieser Hypothese zugleich mit der Verifikation
ihres allgemeinen Teiles erwartet. Also z. B. die Smith-
sche Annahme kann man noch etwa eine Hypothese
nennen, insofern ja die betreffende Annahme wirk-
lich zum Teil Faktisches ausdrückt, und man die
Modifikation dieser allgemeinen Annahme durch andere
hinzutretende Bedingungen erwartet: nichtsdestoweniger
ist es in solchen Fällen immer besser, um allen Irrtum
zu vermeiden, eine solche Annahme Fiktion zu nennen.
90 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
Andererseits möchte es sich doch auch manchmal emp-
fehlen, eine bestimmte Annahme nicht sofort unter
die Fiktionen zu versetzen, wenn man noch zweifelhaft
sein kann, ob nicht die Annahme doch vielleicht einem
Wirklichen entspräche. Man muß sich durch die Bezeich-
nung Fiktion nicht den Weg zur Verifikation versperren,
oder gar noch weniger darf man den naheliegenden
Fehler begehen, aus Faidheit einfach jede Annahme zur
Fiktion zu stempeln, um sich der mühsamen Arbeit
der Verifikation zu entziehen. Es kann im einzelnen
Falle sehr fraglich sein, ob eine bestimmte Amiahme
Fiktion oder Hypothese sei, und man kann über eine
bestimmte Annahme die Hypothese aufs teilen,
daß sie nur eine Fiktion sei. Die Möglichkeit dieser
Verflechtung ist aber der beste Beweis, daß Fiktion und
Hypothese zu unterscheiden sind. Wenn es also zweifel-
haft ist, ob man eine bestimmte Annahme als Fiktion
oder Hypothese betrachten soll, so muß hierüber erst
immer eine sorgfältige spezielle Untersuchung
entscheiden.
Der eigentliche Unterschied zwischen beiden also ist,
daß die Fiktion bloßes Hilfsgebilde ist, bloßer
Umweg, bloßes Gerüst, welches wieder abgeschlagen
werden soll, die Hypothese dagegen einer definitiven
Fixierung entgegensieht. Jene ist künstlich, diese
natürlich. Oft kann etwas, was ds Hypothese unhaltbar
ist, als Fiktion recht gute Dienste leisten, wovon wir
oben viele Beispiele hatten. Freilich kann auch
andererseits eine Fiktion im Laiiife der Zeit
entbehrlich werden, und das Denken wirft seine
Krücken immer gerne weg; indessen werden die haupt-
sächlichsten der echten Fiktionen doch niemals aus dem
Denken herausgestoßen werden, da ohne sie eben
diskursives Denken gar nicht möglich ist.
Die Hypothese hat schließlich nur theoretischen Zweck,
um das Gegebene in Zusammenhang zu bringen, um die
Lücken dieses Zusammenhanges, welche unsere Erfah-
rung uns reichlich darbietet, zu schließen, sowie um die
letzten und eigentlich primären Unabänderlichkeiten fest-
zustellen : dagegen hat jede Fiktion streng genommen
nur einen praktischen Zweck in der Wissenschaft, denn
Der Unterschied der Fiktion von der Hypothese.
91
ein eigentliches Wissen schafft sie nicht. Die Hypo-
these will faktisch beobachtete Widersprüche wegschaffen,
die Fiktion schafft logische Widersprüche herbei. Dem-
nach ist die Tendenz und darum auch natürlich die Me-
thode der Anwendung bei beiden eine ganz andere. Die
Hypothese will entdecken, die Fiktion erfinden.
Darum heißt jene oft auch decouverte; dagegen nennt
man allgemein (z. B. d’Alembert) die Differentialrechnung
eine „Invention“. So entdeckt man Naturgesetz e,
aber man erfindet Maschinen: insofern die Fik-
tionen wissenschaftliche Denkinstrumente sind, ohne
welche eine höhere Ausbildung des Denkens immögiich
ist, werden sie erfunden. Bekanntlich sind indessen
Entdeckung und Erfindung nicht immer in jedem
Fall scharf zu unterscheiden, so auch nicht Hypothese
und Fiktion. Das Atom ist keine naturwissenschaftliche
Entdeckung, sondern eine Erfindung.
Wir haben oben davon gesprochen, daß jede Hypo-
these durch Verifizierung bestätigt werden muß.
Aber soll denn nicht auch bei der Fiktion etwas Ähn-
liches stattfinden?
Der Verifizierung der Hypothese entspricht die
Justifizierung der Fiktion. Muß jene durch Erfahrung
bestätigt werden, so muß diese gerechtfertigt
werden durch die Dienste, welche sie der Erfahrungs-
wissenschaft schließlich leistet. Wenn ein fiktives Vor-
stellnhgsgebilde aufgestellt wird, so muß die Berech-
tigung und Entschuldigung hierfür davon ab-
geleitet werden, daß dieses fiktive Gebilde dem dis-
kursiven Denken Dienste leistet und sich als ein nütz-
liches Hilfsmittel desselben erweist. Diese Rechtferti-
gung ist immer also Sache eines speziellen Nachweises,
wie die Verifikation. Fiktionen, welche sich nicht
justifizieren, d. h. als nützlich und notwen-
dig rechtfertigen lassen, sind ebenso zu elimi-^
nieren, wie Hypothesen, denen die Verifikation fehlt.
Wie die Hypothesenbildung ein ebenso berechtigtes als
unentbehrliches Mittel der wissenschaftlichen Forschung
ist, so ist es auch die Fiktion. Was A. Lange von den
Hypothesen sagt, gilt mutatis mutandis auch von der
Fiktion: „Der Verständige ist nicht der, welcher die
- 92 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
Hypothesen vermeidet, sondern der, welcher die wahr-
scheinlichsten stellt, und den Grad ihrer Wahrscheinlich-
keit am besten abzu schätzen weiß.“ Setzen wir hier
statt: Hypothesen Fiktionen und statt: Wahrscheinlich-
keit Zweckmäßigkeit, so gilt dies ganz von den
Fiktionen. Auch dasjenige, was man den Verächtern
der Hypothesen mit R.echt einzuwenden pflegt, daß näm-
lich selbst die gewöhnlichsten Annahmen der Menschen
auf Hypothesen beruhen, welche nur einen hohen Grad
von Wahrscheinlichkeit (und oft noch nicht einmal diesj
erreicht haben, kann und muß man den Gegnern der
Fiktionen, z. B. Dühring, einwenden : daß sie nämlich
sogar nicht den gewöhnlichsten Satz aussprechen können,
ohne Fiktionen zu machen. Solche sind ja schon die Kate-
gorien und Allgemeinbegriffe, ohne welche kein Satz
entstehen kann. Diese sind nur im Laufe der Zeit so
gang und gäbe geworden, daß man ihnen die Fiktivität
gar m*cht mehr anmerkt. Faktisch sind es Fiktionen,
welche tagtäglich aufs neue durch die zweckmäßigen
Dienste, welche sie dem Menschen leisten, justifiziert
werden.
Es ist natürlich, daß die Fiktion eine ganz andere
Methodologie haben muß als die Hypothese. Die Metho-
dologie dieser besteht wesentlich darin, daß die An-
nahme nicht bloß denk möglich, sondern auch fak-
tisch möglich sei, sowie daß alle Erfahrungstatsachen
damit stimmen : eine einzige damit unvereinbare Tatsache
kann die Hypothese stürzen. Von solchen Dingen ist nun
bei der Fiktion nicht die Rede: der Widerspruch der
Erfahrung und selbst der Einspruch der Logik kümmern
sie nicht oder wenigstens nur in ganz anderer Weise als
die Hypothese. Das Prinzip der methodischen
Regeln der Hypothese ist die Wahrscheinlichkeit,
das der Fiktionsregeln die Zweckmäßigkeit der Begriffs-
gebilde. Aus diesem allgemeinen Prinzip lassen sie sich
ableiten ; aber sie werden besser induktiv festgestellt, aus
der Beobachtung der einzelnen Fiktionen und des Ver-
fahrens, welches bei ihrer Anwendung zum Ziele führt.
Die Zweckmäßigkeit bestimmt nicht nur die An-
nahme oder Verwerfung einer einzelnen Fiktion, sondern
auch die iViiswahl luiter mehreren. Ist einmal eine Fik-
Der Unterschied der Fiktion von der Hypothese*
03
tion dann angenommen, so ist die Hauptforderung, sich
zu hüten, aus der Fiktion eine Hypothese oder gar
ein Dogma zu machen, und das aus der Fiktion Ab-
geleitete an Stelle der Wirklichkeit zu setzen, ohne zuvor
die nötige Korrektur gemacht zu haben. Eine viel
wichtigere Forderung aber ist noch, sich durch die Wider-
sprüche der Fiktion mit der Erfahrungswirkliclikeit und
durch die Widersprüche der Fiktion in sich selbst nicht
beirren und stören zu lassen und nicht aus diesen Wider-
sprüchen sogenannte Weiträtsel herauszuklauben; also
nicht an den Fiktionen, als ob sie der Kern wären, hängen
zu bleiben, sondern sie als Fiktionen zu durchschauen,
und darum auch mit dieser Erkenntnis sich zu begnügen,
ohne sich durch die aus ihr ergebenden Scheinfragen und
Scheinprobleme locken und verwirren zu lassen.
Grübeleien über jene Widersprüche führen mitten in
die tiefsten Irrgänge des Denkens hinein, und man muß
sich hüten, in diesen Umwegen des Denkens, in diesem
Irrgarten sich zu verlieren. Das sind also ganz andere
Regeln als bei der Hypotliese: Lotze sagt darum richtig
(Logik, S. 399), „daß jede Hypothese nicht bloß Denk-
figur oder Veranschaulichungsmittel sein wolle, son-
dern Angabe einer Tatsache; wer eine Hypothese
aufstellt, glaubt die Reihe der wirklichen, beobachtbaren
Tatsachen durch glückliches Erraten nicht minder wirk-
licher, aber unbeobachtbarer verlängert zu haben“. „Die
betreffende Tatsache muß als eine bestehende Wirk-
lichkeit vorgestellt werden.“ Fiktionen dagegen, sagt
er S. 400, „sind Annahmen, die man mit dem
vollständigen Bewußtsein ihrer Unmöglichkeit
macht, sei es, daß sie innerlich widersprechend sind, oder
aus äußeren Gründen nicht als Bestandteile der Wirklich-
keit gelten können“. Lotze gibt hiermit sehr richtig nicht
nur den Unterschied der Fiktion von der Hypothese an,
sondern auch der innere Unterschied der beiden Arten
der Fiktionen wird wenigstens angedentet.
94 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. H. Theorie der Fiktionen.
Kapitel XXII.
Die sprachliche Form der Fiktion. Analyse des „als ob“.
Wir müssen nun auch im Zusammenhang das be-
sprechen, v/as uns bisher schon hin und wieder als
bemerkenswert auf stieß — die sprachliche Form
u n d A u s d r u ck s w e i s e der Fiktion. Auch aus dieser
wird sich der tiefe Unterschied ergeben, der zwischen
Fiktion und Flypothese prinzipiell besteht: schon die
verschiedene und ganz auffallende sprachliche Ausdrucks-
weise hätte von der Vermischung mit den Hypothesen ab-
halten sollen. Überhaupt ist ja die Grammatik ein
Feld, auf dem die Logik ihre Materie zu sammeln hat;
denn wenn Denken und Sprechen auch nicht eins sind,
so ist doch die -Sprache ein Mittel, mit dem das Denken
sich hilft; und die Untersuchung der feineren Ausbildung
dieses Denkmittels ist also eine höchst wichtige Aufgabe
und zugleich ein fruchtbares Feld für die logische Theorie.
Wenn auch keine Identität von Sprechen und Denken, so
besteht doch ein Zusammenhang zwischen beiden. Darmn
hat Aristoteles ganz richtig seine Logik an die Grammatik
angeknüpft. Unter den Neueren hat nur Lambert hier
originelle Ideen gehabt: indem er die logische Bedeutung,
den logischen Wert der einzelnen Partikeln eingehend
untersucht. Die Verbindungen der Sätze durch Partikeln
sind ja doch eigentlich die logischen Scharniere, durch
welche die einzelnen Glieder Zusammenhängen; in den
Partikeln ist oft eine ganz logische Gedankenreihe zu-
sammengepreßt. Die logische Analyse eines gegebenen
Gedankenzusammenhanges hat darum insbesondere die
Verbindungspartikeln ins Auge zu fassen.
Wir haben die Ausdruoksformen der Fiktion schon
mehrfach kennengelernt: z. B. jede krumme Linie ist
zu betrachten (läßt sich betrachten, muß betrachtet
werden), als ob sie aus unendlich vielen, unendlich
kleinen geraden Linien bestünde. Hier haben wir also
eine seltsame Kombination. Wir legen zunächst nicht
den Wert darauf, daß der erste Satz sowohl problema-
tisch, als assertorisch, als apodiktisch ausge-
sprochen werden kann: wir konzentrieren unsere Auf-
Sprachliche Form der Fiktion. Analyse des „als ob“.
95
merksamkeit auf die seltsame Partikelkomplikation, „als
ob“ oder „wie wenn“.
Unsere Behauptung, daß alle Fiktionen schließlich auf
die komparative Apperzeption zurückzuführen
seien, wird unterstützt durch ihre sprachliche Form.
Denn was liegt in der Partikelkomplikation: als ob, wie
wenn usw.? Offenbar erstens eine Vergleichung; das
liegt ja auf der Hand; als, wie sind vergleichende
Partikeln. Es wird also, urii den speziellen Fall zu
wählen, die krumme Linie betrachtet einmal wie eine
Reihe von Infinitesimalen; hier ist also die erste ver-
gleichende Apperzeption: die krumme Linie wird
apperzipiert von dem Vorstellungsgebilde des Infinitesi-
malen. Allein diese Vergleichung wird dann doch
noch modifiziert durch das Wenu, das Ob. Es ist eben
keine einfache Vergleichung, kein bloßer Tropus,
aber auch keine reale Analogie; die Vergleichung liegt
also zwischen dem Tropus und der realen Analogie mitten
inne, also zwischen der rhetorischen Vergleichung und
der wirklichen Gleichheit und Gleichsetzung. Es ist ja
doch eine andere Vergleichung, als wenn z. B. die ver-
gleichende Anatomie den Organismus des Menschen
mit dem des Gorilla vergleicht, oder wenn die ver-
gleichende Sprachwissenschaft den Organismus der ger-
manischen Sprachen etwa mit dem der romanischen
vergleicht: das sind ja reale Analogien, Vergleichungen
auf Grund gemeinsamer Abstammimg, gemeinsamer Bil-
dungsgesetze. Es ist aber doch auch wieder eine andere
Vergleichung als ein bloßer Tropus, wenn man z. B. die
krumme Linie mit den krummen Wegen eines Verbrechers
oder umgekehrt vergleicht. Dies ist ein, Tropus; eine reale
Analogie aber wäre es, wenn man die vier Kegel-
schnitte unter sich vergleicht. Wenn ich aber
die krumme Linie als eine gerade betrachte? Ist
das ein Tropus? Sicher ist es mehrl Ist es eine reale
Analogie? Sicherlich ist es weniger! Es ist eine Fik-
tion. Die V ergleichung ist nur indirekt möglichdurch
den Mittelbegriff des Inf inite s i m als. Wäre es
eine Analogie, wäre es ein Tropus, so genügte das ein-
fache Wie. Da es aber keines von beiden ist, so bekommt
das Wie den Zusatz des Wenu, das Als den des Ob. Was
yfi Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung, b. Theorie der Fiktionen,
liegt denn nun in diesem Zusatz enthalten? Im Wenn
liegt die Annahme einer Bedingung, und zwar hier
eines unmöglichen Falles. In dieser Partikelkomplikation
liegt eben der ganze Gedankeiigang einer Fiktion. Analy-
sieren wir also weiter: Legen wir nun einmal das Wenn
zugrunde, dann hieße der Satz : Wenn es Infinitesimale
gäbe, so wäre die krumme Linie als aus ihnen zusammen-
gesetzt zu betrachten; oder: Wenn es Atome gäbe, so
wäre die Materie als aus ihnen zusammengesetzt zu be-
trachten. Oder noch ein anderes Beispiel: Wenn der
Egoismus die einzige Triebfeder des menschlichen Han-
delns w^äre, so müßten sich die sozialen Verhältnisse
einzig und allein aus ihm deduzieren lassen.
In dem Konditionalsatz würd hier ein Unwirk-
liches oder Unmögliches gesetzt: nichtsdestoweniger las-
sen sich aus diesem Unwirklichen oder Unmöglichen
diese oder jene Folgerungen ableiten. Trotz der Unwirk-
lichkeit oder Unmöglichkeit wird die Annahme aber doch
formal aufrecht erhalten; sie wird als ein Apperzeptions-
gebilde betrachtet, dem sich etwas subsumieren, aus
dem sich etwas deduzieren läßt.
Was liegt nun in dem Wie wenn? in dem Als ob? Es
muß doch wohl außer der Unwirklichkeit und Un-
möglichkeit der gemachten Annalime, welche der
Konditionalsatz enthält, noch etwas darin stecken;
die Partikel enthält offenbar noch den Entschluß, trotz
dieser Schwierigkeiten die Annahme formal
aufrecht zu erhalten. Zwischen dem Wie und dem
Wenn, dem Als und dem Ob liegt also ein ganzer sub-
intelligierter Satz. Was heißt nun also: Die Materie
muß betrachtet werden, wie wenn sie aus Atomen be-
stünde, als ob sie aus Atomen bestünde? — Das kann
nichts anderes heißen als: die empirisch uns gegebene
Materie muß so betrachtet werden, wie sie zu behan-
deln wäre, wenn sie aus Atomen bestehen
würde. Oder: die krumme Linie muß so behandelt
werden, wie sie zu behandeln wäre, wenn sie aus
Infinitesimalen bestünde. Oder: die sozialen Ver-
hältnisse müssen so betrachtet werden, wie sie zu be-
trachten wären, wenn der Egoismus die einzige Triebfeder
der menschlichen Handlungen wäre. Damit ist also
i
sprachliche Form der Fiktion. Analyse des „als ol)“. 97
die Notwendigkeit (oder Möglichkeit oder Wirklichkeit)
einer Subsiimtiou unter eine unmögliche oder unwirk-
liche Annahme klar ausgesprochen.
Dasselbe Resultat ergibt natürlich auch die andere
Form: als ob. Ob heißt im Mittelhochdeutschen wenn.
Also : die Materie ist so zu betrachten, als sie zu be-
trachten wäre, „ob“ sie usw.
Demnach wird in dieser Formel ausgesprochen, daß
das gegebene Wirkliche, daß ein Einzelnes verglichen
werde mit einem Anderen, dessen Unmöglich-
keit oder Unwirklichkeit zugleich ausge-
sprochen wird. Auf die Art des Konditionalsatzes
kommt es nun an, was für eine Fiktion hier speziell
jedesmal stattfinde. Z. B. in der juristischen Fiktion
lautet die Formel so: Dieser Erbei) ist so zu behandeln,
wie er zu behandeln wäre, wenn er vor seinem Vater,
dem Erblasser gestorben wäre, d. h. er ist zu enterben.
Oder ausgehend von wenn: Wenn die betreffende Person
vor ihrem Vater gestorben wäi’e, so würde sie behandelt
wie alle solche: sie würde nichts erben. Die betreffende
Person ist gleich einer solchen, ganz wie eine solche
zu behandeln, als solche zu behandeln. Es wird also hier
zunächst eine Vergleichung ausgesprochen, d. h. die
Aufforderung, eine vergleichende oder subsumierende
Apperzeption zu vollziehen; ein solcher Satz sagt
zunächst nichts anderes aus, als z. B. der Satz: der
Mensch ist wie ein Gorilla zu betrachten, und warum?
weil er eben ihm ähnlich ist. Ebenso in allen jenen
Fällen: es wird die Aufforderung zu einer vergleichen-
den Apperzeption ausgesprochen; allein zugleich mit
dieser Aufforderung wird nun in diesem Falle ausge-
sprochen, daß diese Vergleichung auf einer unmög-
lichen Bedingung beruht; anstatt sie aber nun
zu unterlassen, wird sie aus anderen Grün-
den doch vollzogen.
Nun erhellt auch zugleich die sprachliche Ähnlichkeit
der Fiktion mit dem Irrtum und der Hypothese.
Bekanntlich ist die grammatische Formel für den
Irrtum genau dieselbe. Darum eben wird die Fiktion mü
1) Nach römischem Recht mrd ein tmwürdiger Sohn oder Erbe so
behandelt, selbst wenn das Testament gar nichts davon sagt.
Vaihingrer, Philosophie. 7
98 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
dem Irrtum so oft verwechselt. Man sagt z. B. ; Des-
cartes betrachtete die Vorstellungen Gottes und des Ab-
soluten, als ob sie angeboren seien: allein dies ist ein
Irrtum usw. Hier ist also in derselben Formel
der Irrtum markiert, der ja eben psychologisch auch
ganz dieselbe Formation hat wie die Fiktion: die Fiktion
ist ja nur ein bewußter, praktischer, frucht-
barer Irrtum. Hier wird dann aber freilich etwas
anderes subintelligiert. Plier wird nicht ausgespro-
chen, daß die Vergleichung doch aufrecht zu erhalten sei,
sondern sie wird als unbrauchbar zurückgewiesen.
Man sieht, wie viele feine Wendungen des Gedankens
in dieser Partikelkomplexion gemacht werden, und wie
sie zu verschiedenen Zwecken dienen kann.
Aus der oben gegebenen Analyse geht aber auch
wiederum die Verwandtschaft mit der Hypothese her-
vor. Die Form der Fiktion der Atome heißt also: die
Materie muß so betrachtet werden, wie sie betrachtet
werden würde, wenn es Atome gäbe, aus denen sie
zusammengesetzt gedacht wird. Die Form der Hypo-
these in bezug auf dieselbe Annahme aber hiebe: Nur
unter der Voraussetzung, daß und wenn es
Atome gibt, ist die empirische Erscheinung
der materiellen Phänomene erklärbar. In die-
ser weitläufigeren Ausdrucksweise sieht man nun, wie
w e i t b e i d e V o r s t e 1 1 u n g s f o r m e n s i c li doch auch
sprachlich unterscheiden.
Trotz dieser gelegentlichen Zweideutigkeit der Sprache
ist der grammatische Unterschied zwischen Fiktion und
Hypothese sehr bemerkenswert; Linne sagte nicht: die
Pflanzenwelt ist objektiv eingeteilt nach meinen Arten ;
L e i b n i z sagte nicht : die krumme Linie besteht aus
Infinitesimalen, und unsere modernen Naturforscher
sagen auch nicht, soweit sie wenigstens einigermaßen
philosophisch geschult sind: Die Materie ist aus Atomen
zusammengesetzt. Auch Kant hat niemals direkt ge-
sagt: Die wahre Welt besteht aus einer Mehrheit freier
intelligibler Wesen — sondern alle haben jenes „Als ob“
eingeschoben, mochte dies nun wörtlich gebraucht sein,
oder mit einer Umschreibung, wie z. B. Leibniz sagt,
das Infinitesimale sei ein modus dicendi, Kant dagegen
sprachliche Fonii der Filttion. Analyse des „als ob“.
99
von einer Idee spricht; unsere Naturforscher sprechen
von Hilfsbegriffen, Hilfsvorstellungen usw. In
all diesen Ausdrücken, die sich durch Sammlung noch
vermehren lassen, liegt eben das „Als ob“ auf irgend-
eine Weise versteckt, und alle sind nur andere Formen
der Fiktion und ihrer Ausdrücke. S p r a c h 1 i c h ist cs also
nicht leicht möglich, Fiktion und Hypothese zu ver-
wechseln; und wenn jemals hier statt „dies muß oder
kann betrachtet werden, als ob“ — steht, so ist
dies eben entweder nur eine kompendiari sehe Aus-
druck sw eise oder schlechthin ein Irrtum. Meistens
bedienen sich aber alle Wissenschaften des genaueren
Ausdruckes. Kein Mathematiker sagt: Jede Fläche ist aus
Dreiecken zusammengesetzt, sondern bei seinen trigono-
metrischen Grundlinien sagt er: Durch Ziehung
von Hilfslinien kann jede Fläche als aus meh-
reren, vielen Dreiecken bestehend vorgestelit
und behandelt werden. Auch der vorsichtige Psycho-
loge oder Jurist sagt nicht, der Mensch ist frei, sondern er
sagt: Der Mensch muß, wenigstens im Rechtsleben und
in der moralischen Beurteilung, so behandelt und
betrachtet werden, als ob er frei Aväre.
Beim fiktiven Urteil, wie wir dieses zusammengesetzte
Urteil nennen können, wird also die Möglichkeit oder
Notwendigkeit einer Vergleichung, eines Ur-
teils ausgesprochen, mit der gleichzeitigen Bemer-
kung, daß dieses Urteil aber nur subjektive Gül-,
tigkeit, keine objektive Bedeutung besitze; es
ist leicht zu sehen, daß in den oben mitgeteilten sprach-
lichen Ausdrucksweisen wirklich das ausgedrückt ist:
1. die Leugnung objektiver Gültigkeit, d. h. die Behaup-
tung der Unwirklichkeit oder Unmöglichkeit des
im Konditionalsatze Gesagten; 2. eben die subjek-
tive Gültigkeit, die Behauptung, daß dieses Urteil
doch subjektiv, für den menschlichen Betrach-
ter zulässig oder gar notwendig sei.
Daraus geht denn auch hervor, daß das Avissensciiait-
liche fiktive Urteil (im Unterschied von der ästhetischen
Fiktion) erst auf einer hohen Stufe der menschlichen
Geistesentwicklung auftreten konnte. Das fiktive Urteil hat
sich im Avesentlichen erst in der modernen Zeit ent-
100 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Tliet>rie der Fiktionen.
wickelt, zugleich einerseits mit dem Fortschritt der Mathe-
matik und Mechanik und Jurisprudenz, andererseits zu-
gleich mit der Einsicht in den Tatbestand, daß nämlich
objektives Geschehen oder Sein und subjek-
tive Betrachtungsweise zwar häufig am Ende Zusammen-
treffen im Resultate, aber doch nicht identisch sind,
während das Altertum trotz seiner Skepsis in erkenntnis-
theoretischer Naivität befangen ^var. Eine solch ver-
wickelte Urteilskomplikation ist also erst in einer fort-
geschrittenen Periode des Menschengeistes
möglich.
Kapitel XXIII.
Sammlung anderer Ausdrücke für „Fiktion“.
Nachdem wir die verschiedenen spraclilichen Aus-
drucksweisen für die Fiktionen kennengelernt haben, wird
es auch zweckdienlich sein, die verschiedenen Be-
zeichnungen zusammenzustellen, unter denen bisher
die Fiktion behandelt worden ist, und mit denen sie mehr
oder minder richtig und treffend getauft worden ist. Es
ist eine recht ansehnliche Anzahl solcher Bezeichnungen,
unter denen uns mehrere schon begegnet sind. Häufig
nennt man sie, mit einfacher Übersetzung des lateinischen
Terminus, Erdichtungen, Einbildungen, Hirnge-
spinnste, Phantasien, phantastische Begriffe,
Imagination, imaginäre Begriffe. Man spricht
auch von Quasidingen oder auch von Quasibegrif-
fen. So hat man schon Kants Ding an sich ein Quasiding
genannt = ein fingiertes, fiktives Ding. Indessen versteht
man darunter bald einen irrtümlichen Begriff oder eine
irrtümliche Bezeichnung, bald eine wissenschaftlich wert-
volle Fiktion. Im letzteren Sinne gebraucht besonders die
Jurisprudenz gelegentlich die Zusammensetzung m\i quasi;
so spricht man von einem Quasikontrakt. Solche
Kontrakte beziehen sich auf Rechtsverhältnisse, die zwar
wegen einer gewissen Ähnlichkeit nach Analogie von Ver-
trägen beurteilt werden, aber doch im Grunde auf
keinem wirklichen Vertrag beruhen, z. B. Vormundschaf-
ten oder Geschäftsführungen ohne eigentlichen Auftrag.
Sammlung anderer Ausdrücke für Fiktion.
101
Man spricht in der Jurisprudenz auch von Quasi- Affi-
nität, Quasi-Delictum^ Quasi -Possession. An-
dere Bezeichnungen sind von dem Merkmal der Hilfe
hergeholt, die sie dem Denken leisten: Hilfs-
begriffe, Hilfsworte, Hilf s Operationen, Not-
behelfe, Hilfsmittel; speziell: Hilfslinien,
Hilfseinteilungen, Hilfsmethoden, Hilfsvor-
stellungen, Hilfssätze; andere Benennungen sind
hergenommen von dem Merkmal des kunstreichen, inge-
niösen Verfahrens : Handhaben, Kunstgriffe, Kniffe
(besonders in der Mathematik), künstliche Begriffe,
Kunstbegriffe, künstliche Methoden, ‘erkün-
stelte Begriffe, Kriegslisten, listige Umgeh-
ung,Umwege, Schleichwege, Laufgräben, Fuß-
wege usw. Andere Bezeichnungen stammen von der
Funktion derselben: so Vermittlungen, Mittelbe-
griffe, Brücken, Stützen, Leitern, Krücken,
Surrogate,Substitutionen,Suppositionen, Ge-
rüste usw. Außerdem noch eine Reihe anderer Bezeich-
nungen: Chimären, Mißbegriffe (Dühring), Aus-
hilfsbegriffe,Auxiliär- Begriffeund- Methoden,
Durchgangspunkte für das Denken, Mittel (zu theo-
retischen oder praktischen Zwecken), willkürliche Be-
griffe, Spielbegriffe (so v. Kirchmann), Lügen-
begriffe, zweifelhafte Begriffe, unberechtigte
Methoden, Schemata, provisorische Begriffe,
heuristische Begriffe, vikariierende, substi-
tutive Begriffe, Vorläufigkeiten (Dühring), tech-
nische Begriffe und Methoden, regulative Be-
griffe, Regeln, Hilfshypothesen usw. Ferner:
Scheinbegriffe (Lambert)
Denkfiguren (Lotze)
Modus d i c e n d i (Leibniz)
„bloße Idee“ (Kant)
Interimsbegriff j /r • u ^
Rechenmarke } (Liebmann)
Grenzbegriffe
tbeoretiscbe Begriffe
Umwege
Seitenwege
Anbaltspimkte der Forschung ]
Provisoriscbe Annabmen j-
Mittel zur Orientierung]
(Lange)
102 Erster Teil: Prinzipielle Gmndlegung. P. Theorie der Piktioiien.
Diese annähernd vollständige Sammlung von Bezeich-
nungen für die Fiktionen beweist, wie wichtig sie doch
stets gegolten haben, und wie bisher eine eigentlich
zentrale Benennung gefehlt hat, welche hiermit mit dem
Worte: Fiktion einzuführen gesucht wird.
Kapitel XXIV.
Die Hauptmerkmale der Fiktionen.
Ehe wir einen vorläufigen Versuch einer logischen
Theorie der Fiktionen selbst geben wollen, sind noch die
allgemeinen Merkmale jeder Fiktion festzustellen;
aus diesen Merkmalen wird sich die logische Theorie teil-
w’eise ableiten lassen. Die meisten Merkmale sind schon
gelegentlich zur Sprache gekommen.
In den Semifiktionen ist stets eine willkürliche
Abweichung von der Wirklichkeit, also ein Wi-
derspruch mit derselben auffallend, der bei den
echten Fiktionen sich zum Selbst Widerspruche
steigert. Der Widerspruch mit der Wirklichkeit zeigt sich
soAvohl in der Fassung der bezüglichen Begriffe oder Ur-
teile selbst, also in den Prämissen, die mit anderwärts
bekannten Tatsachen, Gesetzen und Erscheinungen dis-
harmonieren, als auch in den aus diesen Begriffen und
Urteilen abgeleiteten weiteren Konsequenzen; diese
stehen mit der unmittelbaren Wirklichkeit stets im Wider-
spruch, der zwar häufig latent ist, aber bei tiefergehender
Analyse zutage kommen muß. Bei den echten Fiktionen
zeigt sich der Selbstwiderspruch besonders in Antino-
mien, welche aus denselben entstehen (vgl. Kants
Antinomien über das Unendliche; Kant wies eben daraus
nach, daß der unendliche Raum subjektiv, in unserer
Sprache also fiktiv sei). Wo also in der Geschichte der
Wissenschaften gegen hervorragende Leistungen der Vor-
wurf, daß sie sich selbst widersprechen, erhoben worden
ist, darf man stets hoffen, in der Hälfte der Fälle auf
wertvolle Fiktionen zu stoßen: so bei Leibniz
und NeAvton, bei der Atomistik usw. Wo aber mehr
der Widers p r u c h m i t der E r f a h r u n g betont ist.
Die Hauptmerkmale der Fiktionen,
103
hat man es in vielen Fällen eben mit iSemifiktionen zu
tun, z. B. bei Linne, bei Adam Smith u. a.
Ein zweites Hauptmerkmal ist, daß diese Begriffe, sei
es historisch, wegfallen, sei es logisch, wieder aus-
fallen. Jenes gilt für die Semifiktionen, dies für die
echten; natürlich: ist ein Widerspruch gegen die Wirklich-
keit da, so kann die Fiktion eben nur Wert haben, wenn
sie provisorisch gebraucht ist, bis die Erfahrungen
bereichert sind, oder bis die Denkmethoden so geschärft
sind, daß jene provisorischen Methoden durch definitive
ersetzt werden können. Ebenso folgt der Ausfall der
echten Fiktionen im Laufe der Denkrechuiiiig not-
wendig aus dem Merkmal des AViderspruchs — denn
schließlich wollen wir zu widerspruchslosen Resul-
taten gelangen: widerspruchsvolle Begriffe können also
schließlich nur zur Elimination da sein; außerdem
ergibt ja auch die Tatsache, daß trotz dieser widerspruchs-
vollen Begriffe richtige Resultate im Rechnen und
Denken erreicht werden, daß jene Fiktionen auf irgendeine
Weise beseitigt und die in ihnen begangenen Wider-
sprüche rückgängig gemacht werden müssen.
Das dritte Hauptmerkmal einer normalen Fiktion ist
dasausdrücklichausgesprocheneBewußtsein,
daß die Fiktion eben eine Fiktion sei, also das Bewußt-
sein der Fiktivität, ohne den Anspruch auf Faktizi-
tät. Ich sage indessen: einer „normalen“; dies Merk-
mal trifft nur zu bei solchen Fiktionen, wie sie sein sollen.
Wir sahen aber schon, daß in der historischen Entwick-
lung der Wissenschaften dieser Fall relativ selten ist, so
daß bei den ersten Urhebern einer Fiktion immer ein
Schwanken zwischen Fiktion und Hypothese stattfindet;
das erklärt sich einfach daraus, daß der natürliche Mensch
das Gesagte unmittelbar für natürlich und wirklich nimmt;
und anfänglich nimmt er nicht nur die Begriffe des
Denkens für Repräsentanten der Wirklichkeit,
für wirklich an, sondern ursprünglich hält er auch die
Methoden und Wege des Denkens für identisch mit
den Wegen und Gesetzen des Seins -- ein Irrtum, den
große Philosophen dann kanonisiert haben. Im Laufe
der Zeit aber merkt man zuerst, daß die subjektiven
Methoden doch ganz verschieden sind vom objek-
104 Erster Teil : Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
tiven Geschehen. Aus diesen Gründen schwanken
also häufig die ersten Urheber solcher Fiktionen. Bei
Linne und bei vielen Mathematikern ist das Be-
wußtsein der Fiktivität solcher Begriffe und Methoden
sehr lebhaft. Schwanken dagegen war bei Newton und
Leibniz. Bei einer großen Anzahl von Fiktionen aber
tritt der oben geschilderte Fall ein, daß sie zuerst als
Hypothesen aufgestellt werden, und daß sich erst allmäh-
lich das Bewußtsein ihrer fiktiven Bedeutung herausbildet.
Ein weiteres wesentliches Merkmal der Fiktionen, d. h.
der wissenschaftlichen, ist, daß sie Mittel zu be-
stimmten Zwecken sind; also ihre Zweckmäßigkeit.
Wo eine solche nicht zu sehen ist, da ist die Fiktion eben
unwissenschaftlich. Wenn also Hurne die Kategorien
Fiktionen nennt, so hat er damit zwar faktisch das
Richtige erkannt, allein sein Begriff der Fiktion war ein
ganz anderer als der unsrige. Sein Begriff der y^fiction
of thought“ ist, daß diese Gebilde bloß subjektive Einbil-
dungen seien; unser Begriff (entlehnt aus dem' Ge-
brauch der Mathematik und Rechtswissenschaft) schließt
ein, daß sie zweckmäßige Einbildungen seien.
Hierin liegt eigentlich der Schwerpunkt unserer Auf-
fassung, durch den sie sich von den bisherigen Auf-
fassungen wesentlich unterscheidet. Das Wesentliche
an der Fiktion nach unserer Auffassung ist nicht etwa,
daß sie eine bewußte Abweichung von der Wirklichkeit,
eine bloße Einbildung sei, — sondern wir betonen die
Zweckmäßigkeit dieser Abweichung. Die Zweck-
mäßigkeit bildet auch den Übergang von dem reinen
Subjektivismus eines Kant zu dem modernen Positivis-
mus. Wenn man lediglich sagt: Die ganze Welt ist
unsere Vorstellung, alle Formen sind subjektiv, —
so wird dadurch ein haltloser Subjektivismus erzeugt.
Sagt man aber: Die Vorstellungsformen und Fik-
tionen sind zweckmäßige psychische Gebilde,
so werden diese selbst enge mit den „kosmischen Agentien
und Konstituentien“ (Laas) verbunden, indem ja diese
selbst jene zweckmäßigen Formen in den organischen
Wesen hervoiireiben.
Diese vier Hauptmerkmale genügen vollständig, um
die Fiktionen von den Hypothesen zu unterscheiden. Mit
Versuch einer allgemeinen Theorie d. fiktiven Vorstellungsgebilde. 105
diesem „Steckbrief“ wird man sofort jedes Fiktion erkennen
und rekognoszieren können, und wenn man das weite Ge-
biet der Wissenschaft durchstreift, wird man voraussicht-
lich noch manche Fiktion entdecken, welche wir nicht auf-
gezählt haben.
Kapitel XXV.
Versuch einer allgemeinen Theorie der fiktiven
Vorstellungsgebilde.
Das Denken macht Umwege: dieser Satz enthält
das eigentliche Geheimnis aller Fiktionen; und
es handelt sich für die logische Betrachtung vor allem
darum, diese Umwege streng zu trennen von den eigent-
lichen Ausgangs- und Zielpunkten des Denkens,
während die Fiktionen eben nur Durchgangspunkte
des Denkens, keineswegs des Seins, sind. Wir haben
schon mehrfach darauf hingewiesen, daß zwischen den
beiden Punkten der Empfindung und Bewegung (die aber
auch schließlich auf Empfindung zu reduzieren ist) die
ganze Vorstellungswelt, das ganze subjektive
Begriffsgebäude des Menschen mitten drinnen
liegt.
Die eigentlich letzte logische Erkenntnis in bezug auf
die Fiktionen ist und bleibt die Betrachtung derselben
als Durchgangspunkte des Denkens. Wir haben aber
auch das ganze Denken selbst mit all seinen
Hilfsapparaten, Instrumenten und Denkmitteln, also das
ganze theoretische Tun des Menschen für einen
bloßen Durchgangspunkt erklärt, dessen endliches
Ziel die Praxis ist, sei es nun das ordinäre Handeln
oder ideal gefaßt die ethische Handlungsweise. Wir mo-
difizieren also hier den Grundgedanken der Ficht eschen
Philosophie zu unserem vorliegenden Zwecke. Die Be-
griffe sind als Durchgangspunkte gleichsam die Schar-
niere, durch welche die Verbindung der Empfin-
dungen hergestellt wird; die ganze Begrifi'swelt ist
ein System solcher Scharniere, solcher mechanischen
Vorrichtungen, um die Empfindungen passend in
Verbindung zu setzen. Man muß nur energisch mit dem
106 Erster Teil: Prinzipielle (Irundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
Vergleich der psychischen Vorgänge mit mechanischen
Vorgängen Ernst machen, nicht nur mit mechanischen
Vorgängen in dem Sinn rein physikalischer Phänomene,
sondern auch in dem Sinn, in welchem die Mechanik
die mechanischen Vorrichtungen zur x\usnützung und
Kraftsteigerung, also z. ß. Hebel, Rolle, Schraube,
schiefe Ebene usw. betrachtet. In der Mechanik des
Geistes finden ähnliche Vorgänge statt. Die psychischen
Vorgänge sind nicht bloß in dem Sinne mechanisch,
daß sie mit gesetzlicher Notwendigkeit erfolgen,
daß die Verbindungen, Verschmelzungen und Apperzep-
tionen mechanisch vor sich gehen, sondern sie folgen
auch in dem Sinne den Gesetzen ihrer eigenen, spezi-
fischen Mechanik, als durch solche mechanischen Vor-
richtungen, wie sie auch die physische Mechanik kennt,
die elementaren, von der Natur dargebotenen Kräfte ver-
arbeitet und verwertet werden. Die Psyche ist also
nicht allein in dem Sinne eine Maschine, als in ihr
alles nach psychomechanischen und psycho che-
mischen Gesetzen vor sich geht, sondern auch in dem
Sinn, daß durch diese mechanischen Vorgänge die natür-
lichen Kräfte gesteigert werden. Eine M a s c h i n e
ist eine solche Vorrichtung des praktischen Mechanikers,
durch welche eine verlangte Bewegung mit dem
geringsten Kraf taufwande ausgeführt wird.
Dies Erfordernis erfüllt die menschliche Psyche,
unter dem Gesichtspunkt einer psychischen Ma-
schine betrachtet, in hohem Grade; darum eben ist sie
zweckmäßig. Die verlangte Leistung der menschlichen
Psyche ist die Bewegung im weitesten Sinne des Wortes:
zunächst die rein äußerliche Bewegung, zunächst in erster
Linie die Reflexbewegung, sodann die willkürlichen
Bewegungen zum Zwecke der Erhaltung des Organismus.
Die ganze psychische Maschine nun ist zu betrachten als
eine in denOrganismushineingesetztekraft er spar ende
Maschine, als eine Vorrichtung, Avelche den Organis-
' mus befähigt, seine Bewegungen möglichst zweck-
mäßig, d. h. rasch, elegant und mit geringstem
Kraftaufwand zu vollziehen.
Wie nun aber eine Gesamtmaschine wiederum aus
einzelnen Teilmechanismen zusammengesetzt ist.
Versuch einer allgemeinen Theorie d. fiktiven Vorstellungsgebilde, 107
welche innerhalb dieser Maschine dieselbe Aufgabe haben,
wie die ganze Maschine im Zusammenhang eines Kom-
plexes von Erscheinungen, so ist dies ähnlich auch der
Fall in der Psyche. Die einzelnen Handlungen der
Psyche sind wieder ebenfalls unter demselben Gesichts-
punkt zu betrachten, als kraftsparende Mechanis-
men, welche die abverlangte Leistung möglichst
r ja sch und zweckmäßig vollziehen. Und auch
dies ist endlich zu berücksichtigen, daß wie der Mensch
seine Maschinen immer mehr vervollkommnet, so daß
sie die ab verlangte Leistung immer rascher, besser, zweck-
mäßiger und immer mit größerer Kraftersparnis voll-
ziehen — man denke nur an die Geschichte der Ent-
wicklung der Dampfmaschine — , daß so auch die Psyche
ihre Mechanismen immer mehr vervollkommnet.
Also die Psyche ist eine stets sich selbst vervoll-
kommnende Maschine, welche den Zweck erfüllt,
möglichst sicher und rasch und mit geringstem Kraft-
aufwand die lebenerhaltenden Bewegungen des
Organismus a u s z u f ü h r e n : Bewegungen im weite-
sten Sinn, als schließliche Zielpunkte aller Handlungen,
ln Empfindungen wurzelt all unser geistiges Leben
und in Bewegungen gipfelt es; was dazwischen ist, ist
reiner Durchgangspunkt. Die allmähliche Vervoll-
kommnung der Denkmaschine ist z. B. klar ausgedrückt
in dem Gesetz der Verdichtung der Ideen, durch
welchen psychomecha irischen Vorgang die Rasch-
heit und Sicherheit und Leistungsfähigkeit der Vorstel-
lungen wesentlich erhöht wird. Dieser Vorgang läßt sich
vergleichen z. B. mit der Leistungsfähigkeit eines zu-
sammengepreßten Dampfes, dessen Leistung um so größer
ist, je größer die sogenannte „Tension“, Spannung des-
selben, ist. Die Kondensation ist in der psychischen
Vlaschine von derselben Wichtigkeit wie in den Maschinen
der körperlichen Mechanik. Auf einen Kondensa-
tionsvorgang ist die ganze B egrif f sbildung zu-
rückzuführen, durch welche Verdichtung eben die Lei-
stungsfähigkeit wesentlich erhöht wird. Man darf
hierbei nur nicht vergessen, daß nicht die Maschine selbst
die Hauptsache ist, sondern ihre Leistung. So auch
l)ei der Psyche und ihren einzelnen Maschinen : die letzte
108 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
Tendenz ist die Erreichung zv/eckmäßiger Bewegungen
oder idealer ausgedrückt: ethischer Handlungen.
Die Begriffe als Selbstzweck hinzustellen, ist ein
Irrtum, eine theoretische Leidenschaft, und schließlich
dient eben alles Theoretische nur als Mittel dem
Praktischen. Sobald man mit dieser von Kant und
Fichte gefundenen Einsicht einmal wirklich Ernst macht,
erhellen sich auf einmal eine ganze Reihe von Dunkel-
heiten und Problemen.
Unsere bisher ausgeführte Betrachtungsweise, so fremd-
artig und vielleicht gezwungen sie erscheinen mag, über-
trägt übrigens bloß eine Anschauungsweise in das Psy-
chische, welche den Physiologen schon seit geraumer
Zeit in bezug auf die organischen Leistungen des
Gehirns geläufig ist, insbesondere seit der durch das
Gesetz der Erhaltung der Kraft ermöglichten tiefe-
ren und richtigeren Einsicht in die Vorgänge des Organis-
mus. Und außerdem führt unsere Betrachtungsweise nur
dasjenige speziell aus und macht Ernst mit einem Ge-
danken, der sich schon bei Kant, Herbart, Fichte,
Schopenhauer findet.
Wir können die ordinäre Ansicht nicht beibehalten, daß
das Denken Selbstzweck sei; das Denken dient
einemanderen, und alle seine einzelnen V errichtungen
sind unter dem Gesichtspunkt mechanischer Denk-
mittel zu betrachten. Die Auflösung der ganzen Vor-
stellungswelt in solche Denkmittel ist die eigentliche Auf-
gabe der Erkenntnistheorie, und die Methodologie
dieser Mittel diejenige der Logik: alle logischen
Methoden und darunter auch die fiktiven sind nur
Hilfsmittel und Hilfsverrichtungen an dieser Maschine,
deren Bau und Leistungen wir in unserer bisherigen Aus-
führung als mechanisch nachzuweisen versucht haben.
Die eigentliche Aufgabe der Methodologie ist, dieHand-
habung dieser Denkmaschine und Denk mittel
zu lehren. Wir haben schon früher gesagt, daß eine
solche Methodologie zunächst sich mit äußerlich, empi-
risch zusammengerafften Regeln der Routine begnügen
könne, daß aber eine wissenschaftliche Methodologie sich
schließlich auf eine theoretische Analyse derdenk-
mechanischen Vorgänge stützen müsse. Eine solche
Vf'.isacli eiiicj allgemeinen Theorie d. fiktiven Voistelliingsgebilde, 109
Analyse der denkmeclianisclien Verrichtungen wird denn
auch schließlich das ganze komplizierte Verfahren des
Denkens auf einfache Grundprinzipien zurück-
lühren, die ebenso einfach mid ebenso folgenreich sind,
als z. B. das Prinzip des Hebels. Als die elemen-
taren Hilfsmittel des Denkens zur Erleichterung der Denk-
bewegung, der Bewegung größerer Vorstellungsmassen
zum Zweck einer mechanischen Denkleistung haben wir
im allgemeinen die Fiktionen erkannt, welche eine
ähnliche Rolle spielen im Denkmechanismus, wie jene
elementaren Hilfsmittel der Mechanik in der physikali-
schen Maschinentheorie. Die verschiedenen Arten der
Fiktion entsprechen jenen verschiedenen Hilfsmitteln der
Bewegung. Und die kompliziertesten Hilfsmittel dieser Be-
wegung, also z. B. der Begriff des Unendlichen, müs-
sen reduziert werden auf solche einfachen mechani-
,schen Prinzipien des Denkens.
Als die elementaren psychomechanischen Prinzipien
fallen uns bei der psychologischen Analyse besonders
zwei auf : einmal die Bildung fester Kernpunkte durch die
Kategorien und sodann fester Mittelpunkte durch iVll-
ge meinbegriffe. Durch die Reduktion aller Phäno-
mene und ihrer Verhältnisse auf einige wenige, immer
mehr verminderte, primitive Analogien, die Kate-
gorien, wird der Denkbewegung eine bestimmte, fixierte
Richtung gegeben. Dadurch werden gleichsam psy-
chische Hebel geschaffen, durch welche die freie Be-
wegung der Vorstellungsmassen erst möglich wird. Die
Begriffsbildung schafft gleichsam Rollen, durch
welche die einzelnen Empfindungskomplexe verbunden
werden und eine Gegeneinanderbewegung derselben mög-
lich ist. Das Hauptinteresse bei all diesen Vorgängen
liegt in der Frage, warum denn durch diese Vorrichtun-
gen des Denkens eine Erleichterung der Denkbewegung
geschaffen werde, und wie es komme, daß trotz dieser
fiktiven Mittelglieder die Denkbewegung doch das Ziel
ihrer logischen Arbeitsleistung erreiche? Wenn ganze
Komplexe von gleichem geschaffen werden, Gleich-
heitszentren, wie dies in den als Analogien zu
betrachtenden Kategorien und in den Begriffen
geschieht, so wird dadurch die psychische Bewegimg der
110 Erster Teil: lOinzipielle Gnmdloguiig. 0. Theorie der Fiktionen.
V'orstellnngeii naturgemäß vermehrt, erleichtert, erhöht.
Rin Gleichheitszentrum hat eine viel stärkere Attrak-
tionskraft als ein einzelnes Moment. Vermittels
dieser Gleichheits Zentren isl nun die Vergleichung der
einzelnen Phänomene erleichtert, und sie wird be-
schleunigt: sobald z. B. eine einzelne Erscheinung herein-
tritt, braucht sie nicht erst von jeder einzelnen ähn-
lichen Empfindung attrahiert zu werden, sondern das
mächtige Gleichheits Zentrum zieht sie mit starker
Gewalt an, daß sie mit rascher Bewegung sich ihm
nähert: Dadurch nun ist aber auch eine enorm rasche
Vergleichung mit d en von demselben Gleichheits-
zentrum umfaßten und dasselbe konstituierenden Emp-
findungskomplexen möglich. Nun erhellt sofort, daß das
G 1 e i c h h e i t s z e n t r u m selbst nur dem Zwecke dienen
soll, die Vergleichung der einzelnen Empfin-
dungen zu erleichtern mid zu beschleunigen. Somit
dient das Gleichheitszentrum nur der Vermittlung
und Beschleunigung der psychischen Bewegung
und hat seinen Zweck erfüllt, wenn dieses geschehen ist.
Daraus ergibt sich denn mit Notwendigkeit, daß das
Gleichheitszentrum schließlich nur als Durchgangs-
punkt der Bewegung dienen kann, und daß also das
eigentliche Interesse nur in der Gegeneinanderbe-
wegung der einzelnen Empfindungen selbst besteht.
Diese Bewegung wird durch jene besagten Gleichheits-
zentren erleichtert.
Die mechanischen Elementar Vorgänge in der
Psyche beim Denken und Begreifen ergeben zugleich
auch die x\ntwort auf die Frage, warum denn trotz dieser
fiktiven, subjektiven Begriffe doch das Wirkliche wieder
erreicht werde? Nun, jene fiktiven Begriffe und die daran
sich anschließenden, oft ungeheuer ausgedehnten fiktiven
Methoden sind schließlich doch nur die Durchgangs-
punkte zur Vermittlung der psychischen Be-
wegung, welche sich vollzieht zwar vermittels jener,
aber doch so, daß sie schließlich wieder abgeworfen
werden. Hat das Gleichheitszentrum seinen Dienst ge-
tan, die Bewegung der einzelnen Empfindungskomplexe
und Vorstellungen ermöglicht, so hat es eben auch alles
Versuch einer allgemeinen Theorie d. fiktiven VorsLelhmgsgebiido. 111
getan, was es kann, und es fällt aus der Rechnung heraus.
Hat es vermittelt, so ist seine Leistung zu Ende.
In -diesem elementaren Mechanismus: Bildung eines
Gleichheitszentrums — liegt nun das Geheimnis
aller Fiktionen, mögen sie so einfach sein, wie die künst-
liche Klassifikation, und so kompliziert, wie der
Begriff des Unendlichen.
Für uns sind alle höheren Begriffe solche feine Denk-
mittel, Maschinenteile im großen genialen Mechanis-
mus des Denkens, und auch unsere Aufgabe ist es, hier
auf die elementaren mechanischen Gesetze des
S eelen 1 eh en s z ur ück zugehen.
Jene D u r c h g a n g s p u n k t e stellen nun A b w e i c h u n -
gen von der Wirklichkeit dar, welche rein theore-
tisch ohne R.ücksicht auf die Wirklichkeit der Erschei-
nungen weitergeführt, notwendig zu jenen Wider-
sprüchen mit der Wirklichkeit und zu jenen Selbstwider-
sprüchen führen müssen, welche wir oben als Merk-
m'ale der Fiktionen angegeben haben. Das erste
Merkmal, daß sie nämlich historisch weg- und logisch
ausfallen, folgt mit Notwendigkeit aus dem Charakter der
Fiktionen als Durchgangspunkte des Denkens.
Streng festzuhalten hierbei ist das Prinzip des Me-
clianismus des Denkens, das Prinzip, daß alle Vor-
stellungen und Vorstellmigskomplexe höherer xVrt, soweit
sie nicht mit der Wirklichkeit unmittelbar sich decken,
nur den Vorstellungsmechanismus selbst unter-
stützen und beschleunigen und erleichternsol-
len. Dagegen muß man sich immer davor hüten, solchen
Vorstellungskomplexen und Denkmitteln Wirklichkeit
zuzuschreiben : denn wirklich ist nur das Empfundene,
das in der Wahrnehmung uns Entgegentretende, sei es
innerer oder äußerer Natur. Sowie man solche Fiktionen
für wirklich nimmt, folgen daraus alle jene Antinomien
und Widersprüche, welche von Anfang an bis heute die
Geschichte der Philosophie durchziehen.
Auch alle übrigen gemeinsamen methodologischen
Grundsätze für die Fiktion fließen mit Notwendigkeit aus
diesen Verhältnissen: so der Rat und die Notwendigkeit,
das logische, subjektive Baugerüste des Denkens wieder
abzubrechen, wenn der eigentliche Zweck erreicht ist,
112 Kister Teil: Pi iuzipielle (iruiidleguiig. H. 'J'lienrio der Kiklioneii.
abzubrechen historisch oder logisch, damit die fal-
schen eingebildeten Vorstellungen nicht den Blick für die
Wirklichkeit trüben.
Die oben ausgeführte Theorie der Gleichheits-
zentren läßt sich nun von den elementaren fiktiven
Prozessen der Bildung der allgemeinen Begriffe und
allgemeinen Begriffsformen weiterhin ausdehnen
auf die spezielleren Fiktionen: in allen Fällen werden
eben Vorstellungsgruppen geschaffen, welche die
Verbindung, Vergleichung und Ausgleichung
der Vorstellungen vermitteln. Es ist schließlich eben immer
nur die Variation desselben Grundvorgangs, daß Vor-
stellungsgebilde formiert werden, welche in den
Gang des Denkens eingeschoben werden, um ihn zu
vermitteln und zu erleichtern. Und insofern alles
Denken schließlich auf eine Gleich Setzung hinausläuft,
so vermitteln eben die Fiktionen diese Gleichsetzung
und Vergleichung, wo sie direkt unmöglich ist.
Welche ungeheure Wichtigkeit die Fiktionen haben, ist
aus dem bisherigen ersichtlich. Sie sind, sagt Lotze mit
Recht, von außerordentlicher „Wichtigkeit für den
erfindenden Gedankengang“, ln der Tat sind sie ein
Teil jener ars invetiiendi^ welche die Logik früher als An-
hang zu haben pflegte. >
Außer der allgemeinen Vorsichtsmaßregel, nicht die Fik-
tionen mit der Wirklichkeit zu verwechseln, läßt sich
aber nun noch darauf hinweisen, daß jede Fiktion sich
ju stif izi er en lassen müsse, d. h. sie muß durch das
gerechtfertigt werden, was sie für den Fortschritt der
Wissenschaft leistet. Es muß in jedem einzelnen Falle
nachgewiesen werden, daß die betreffende Form, das be-
treffende Gebilde nicht überflüssig sei, daß es Dienste
leiste, und wie weit seine Kompetenz reiche. Es muß
immer auf den Spalt zwischen Wirklichkeit und Fik-
tion hingewiesen und davor gewarnt werden, nicht die
Fiktion selbst oder Konsequenzen aus ihr unmittelbar
mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Nach all diesen
Vorsichtsmaßregeln kann eine Fiktion als ein „legiti-
mierter Irrtum“ gelten, d. h. als ein fiktives Vorstel-
lungsgebilde, welches das Recht seines Bestehens durch
den Erfolg nachzuweisen hat. Dagegen ist es falsch, von
Versuch einer allgemeinen Theorie d. fiktiven Vorstellungsgebilde. 11?>
dem Erfolg einer solchen logischen Tathandlung auf
ihre logische Reinheit oder auf ihre reale Gültig-
keit zu schließen: es sind und bleiben Um- und
Schleichwege des Denkens, die darum, weil sie zum
Ziele führen, noch nicht als real gültig, als logisch
widerspruchslos gelten dürfen. Das ist aber aller-
dings der schon mehrfach gerügte fundamentale Irr-
tum, aus dem logischen Erfolg nun auch auf die
logische Reinheit zu schließen. Man sagte, weil die
Differentialrechnung auf richtige Resultate führe, so
müsse es auch reale Differentiale geben, und die
Vorstellung derselben dürfe nicht widerspruchs-
voll sein. Dieser Schluß ist, wie bemerkt, falsch.
Auch diejenigen Fiktionen, welche subjektiv ganz abso-
lut nötig sind, also die Kategorien, um überhaupt dis-
kursiv zu denken, sind darum noch nicht objektiv:
subjektive Nötigmig, z. B. zu allem Beobachteten Dinge
hinzuzudenken, ist noch kein Kriterium objektiver
Gültigkeit.
Ein Hauptwert ist nun auf die erkenntnis theore-
tische Bedeutung der Fiktionen zu legen, die wir ja
genugsam betont haben, und hier ist wieder der Haupt-
wert darauf zu legen, daß diese erkenntnistheoretischen
Fiktionen, d. h. bes. die Kategorien, für das Denken ganz
unentbehrlich sind; denn sonst ist das Denken eben
gar nicht diskursiv. Die erkenntnistheoretischen Fiktionen
der Kategorien sind aber besonders darum von Wert, weil
die unberechtigte Übertragung derselben auf das
Weltganze zu allen jenen philosophisch wichtigen Be-
griffen der Weltsubstanz, der Weltkraft, Welt-
ursache führt, welche ein notwendiger logischer
Schein sind. Das Vorhandensein eines unumgänglichen
logischen Scheins wurde schon vor Kant &hauptet:
erst Kant hat denselben ganz aufgedeckt.
Im Zusammenhang der Phänomene kann man von Dingen imd
Eigenschaften, von Ursachen und Wirkungen allein sprechen; hinter
diesen Phänomen und jenseits derselben hat diese Vorstellungs-
weise keine Berechtigung mehr; ihre Anwendung auf dieses
Gebiet erzeugt die Illusionen wirklicher Dinge an sich, wirklicher
Ursachen an sich. Selbst Kant hat diesen Schein nicht ganz ver-
mieden. Faktisch haben wir schlechterdings nur Empfindungen und
die unabänderliche Koexistenz und Sukzession von Phänomenen :
Vai h ingor, PhiMosopliie 8
114 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. R. Theorie der Fiktionen.
diese „Dinge“ und „Ursachen“ zu heißen, ist erlaubt, so lange
man sich bewußt ist, diese Ausdrucks- und Vorstellungsweise nur
zur Erleichterung zu wählen. Sobald man aber wirkliche, transzen-
dente Dinge an sich annimmt, so verfällt man dem logischen Schein,
den Kant selbst nicht ganz vermeiden konnte. Diese Dinge an
sich sind zwar subjektiv notwendige Vorstellungsweisen, um über-
haupt die Welt diskursiv vorstellen zu können, aber sie sind auch
nichts weiter, wie Maimon zuerst richtig erkannte.
Ein Hauptresultat unserer Untersuchung ist eben, daß
der Widerspruch das treibende Motiv des Denkens
ist, daß ohne ihn das Denken sein Ziel gar nicht erreichen
kann, daß er dem diskursiven Denken immanent ist, und
ein konstituierendes Element desselben ist.
Auch daß die Grenze zwischen Wahrheit und Irr-
tum keine starre ist, ist uns mehrfach nahegelegt worden,
und schließlich hat sich gezeigt, daß das, was wir ge-
wöhnlich Wahrheit nennen, nämlich eine, wie man
sagt, mit der Außenwelt zusammenstimmende Vor-
stellungswelt, daß diese Wahrheit nur der zweckmäßigste
Irrtum ist.
Natürlich ist hier unter dem Inhalt der Wahrheit nicht die
Feststellung der unabänderlichen Sukzessionen gemeint, sondern die
Formen des Denkens.
Diese Vorstellungswelt ist ja, wie v/ir annahmen und
fanden, subjektiA^ ihren Formen nach; real ist nur das
beobachtete Unabänderliche; also ist die ganze
Fassung, welche wir dem Wahrgenommenen geben, nur
'subjektiv; Subjektives ist fiktiv; Fiktives ist
f'.alsch; Falsches ist Irrtum. Das Bestreben der
Wissenschaft geht darauf aus, Avie Avir sahen, die Vor-
stellungswelt zu einem immer brauchbareren Instrument
der Berechnung und des Handelns zu machen; also ist
diese Vorstellungswelt, welche aus diesem Bestreben
resultiert, und Avelche man geAvmhnlich Wahrheit nennt,
nur der zweckmäßigste Irrtum, d. h. diejenige Vor-
slellungsAveise, Avelche am raschesten, elegantesten,
sichersten und am Avenigsten mit irrationalen Elementen
versetzt, Handeln und Berechnen am meisten er-
niöglicht. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Irrtum
sind also ebenso Amrschiebbar, Avie alle solchen Grenzen,
z. B. zwischen Kalt und Warm. Kalt ist ein solcher
Grad der Temperatur, der für uns unzweckmäßig ist.
Die Methode der Korrektur.
115
warm ist der zweckmäßigste Temperaturgrad; zwischen
beiden ist objektiv aber nur ein Gradunterschied; und
subjektiv sind die Unterschiede je nach der Disposition
und je nach dem Gegenstand, um den es sich handelt, ver-
schiebhar. So ist Wahrheit eben auch nur der
zweckmäßigste Grad des Irrtums imd Irrtum der
unzweckmäßigste Grad der Vorstellung, der Fiktion.
Unsere Vorstellungswelt heißen wir dann wahr, wenn
sie uns erlaubt, am besten die Objektivität zu berechnen
und in ihr zu handeln; denn die sogenannte Übereinstim-
mung mit der Wiiklichkeit ist doch endlich als Kriterium
aufzugeben.
Kapitel XXVL
Die Methode der Korrektur
willkfiriich gemachter Differenzen resp. die Methode
der entgegengesetzten Fehler.
Nachdem wir im Vorhergehenden die logische Theorie
der Fiktionen auf eine psychologische Analyse ge-
stützt und die Bedeutung der Fiktionen und ihrer Methodo-
! logie für verschiedene Fragen zu skizzieren gesuchthaben,
I bleibt noch übrig, den logischen Mechanismus des
Denkens, der sich an die Fiktionen anknüpft, vom spe-
zifisch logischen Gesichtspunkt aus zu betrachten.
Die bisherige Betrachtung war eine mehr psychologische,
die folgende muß mehr logisch sein.
Wir bemerkten mehrfach, daß in den Fiktionen das
Denken absichtlich Fehler be_gehe, um vermittels
dieser Fehler selbst das Werden zu erfassen. Alle Ab-
weichungen von der Wirklichkeit sind Fehler; und vollends
alle Selbstwidersprüche sind logische Fehler ersten Gra-
des. Wir fügten mehrfach hinzu, daß diese Fehler wie-
der rückgängig gemacht werden müßten, weil sonst
die Fiktionen wertlos seien und schaden würden. Also
wenn Adam Smith vermittels seiner Fiktion des Egois-
mus die Handlungen der Menschen berechnet, so beging
er einen Fehler, weil faktisch der Egoismus nicht der
einzige Quell der Handlungen ist. Bei der Anwendung
116 Erster Teil: Pnnzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
der aus jener Fiktion gezogenen Gesetze auf die kon-
krete Wirklichkeit müßte also die Differenz wieder aus-
geglichen werden.
Allgemein ausgedrückt ergibt sich folgendes: Wenn
das Denken in den Fiktionen der Wirklichkeit wider-
spricht, und wenn es sogar sich selbst widerspricht,
und wenn nun aber doch trotz dieser bedenklichen Hand-
lungsweise das Denken sein Ziel erreicht, nämlich die
^Virklichkeit zu treffen, so muß — dies ist eine not-
wendige Konsequenz — jene Abweichung wieder
korrigiert, so muß dieser Widerspruch wieder
gutgemacht worden sein.
Insofern also eine Korrektur ein treten muß (hei den
Semifiktionen), kann man das Verfahren der logischen
Funktion hierlDei die Methode der Korrektur ge-
machter Differenzen heißen: insofern aber ein
Widerspruch mit sich selbst ein logischer Fehler ist,
und insofern dieser Fehler wieder gut gemacht werden
muß, was nur durch einen äquivalenten Fehler
entgegengesetzter Natur geschehen kann, so kann man
dieses Verfahren die Methode entgegengesetzter
Fehler nennen.
Durch diese seltsam scheinende Bezeichnungsart wird
ein Kenner der Mathematik wohl sofort an gewisse
mathematische Methoden erinnert werden, welche
ganz ähnlich verfahren; denn alle Denkmethoden sind
in der Mathematik am reinsten ausgeprägt.
Die Art der Korrektur, welche einzutreten hat, kann
von der einfachen Bemerkung, man solle das fiktiv ge-
wonnene Resultat nicht mit der Wirklichkeit verwechseln,
steigen bis zu der Notwendigkeit, geradezu hinwiederum
einen entgegengesetzten logischen Fehler zu machen.
.Tene erste leichte Korrektur findet meist bei der Semi-
fiktion statt. Die ganze Korrektur, welche bei den künst-
lichen Einteilungen stattfindet, beschränkt sich auf die
einfache Bemerkung, man solle dieses künstliche System
nicht für die Wirklichkeit nehmen, sondern für ein vor-
läufiges System zu heuristischen und praktischen
Zwecken. Freilich immer macht sich das nicht so harm-
los: es gibt Fälle, wo der erste Fehler, den das Denken
bei der künstlichen Einteilung macht, durch einen ent-
Die Methode der Korrektur.
117
gegengesetzten wieder gutgemacht werden muß: bei der
künstlichen Einteilung besteht dies in einer notwen-
digen Abweichung von dem künstlichen
Systeme selbst: also aus diesen künstlichen Systemen
entstehen nicht nur Fehler, sondern diese müssen auch
durch entgegengesetzte Fehler teilweise aufgehoben wer-
den. Dies ist bei der künstlichen Einteilung sehr ein-
fach. Der in der künstlichen Klassifikation und ihrer Be-
gründung begangenen willkürlichen Abweichung von der
Wirklichkeit — indem ganz beliebig ein Merkmal zum
fundamentuni divisionis gemacht Avurde — muß auf der
anderen Seite eine Korrektur entsj) rechen, um
die Klassifikation überhaupt für die Anwendung brauch-
bar zu machen, um unmögliche Glieder zu entfernen und
alle wirklichen in sie hineinzubringen.
Daß dieselbe Korrektur bei den abst r aktiv- lieg lek-
tiveii Fiktionen stattfinden müsse, liegt auf der Hand:
die vernachlässigten Elemente müssen nachher wieder
zu ihrem Rechte kommen, wenn nicht Irrtümer entstehen
sollen. Genau dasselbe ist bei der schematischen
Fiktion der Fall, sowie bei der paradigmatischen,
der M topischen und typischen — alle diese Be-
griffsgebilde erhalten Wert für die Erkenntnis der Wirk-
lichkeit erst dann, wenn an Stelle der idealen Bilder die
wirklichen Werte eingesetzt werden. Hier liegen also die
Verhältnisse ganz einfach: die Korrektur, ihre Notwendig-
keit, Möglichkeit und Wirklichkeit, liegt auf der Hand.
Bei den juristischen Fiktionen dagegen scheint eine
solche Korrektur gar nicht nötig zu sein; und sie ist es
auch nicht. Denn hier handelt es sich gar nicht um
exakte Berechnung eines Wirklichen, sondern um Sub-
sumtion unter ein willkürliches Gesetz, ein Menschenwerk,
kein Naturgesetz, kein Naturverhältnis. Ähnlich wie bei
den obigen Fällen steht die Sache bei den heuristi-
schen Fiktionen: es gilt vor allem, die fiktive Ursache
die causa ficta nicht als eine wirkliche anzusetzen.
Anders liegt die Sache bei den übrigen Fiktionen:
während bei den bisherigen, welche auf Abweichungen
von der Wirklichkeit beruhen, einfach die Korrektur
dieser Abweichung genügt, muß ein anderes Verfahren da
eintreten, wo die fiktive Subsumtion nicht unmittelbar,
118 Erster Teil: Prinzipielle (iriiiiLllegung. B. Theorie der Fiktionen.
sondern durch die Vermittlung eines fiktiven Vorstei*
lungsgebildes stattfindet. Bei jenen obengenannten
sind nur fiktive Vorstellungsformen und -methoden im
Spiel; hier haben wir fiktive Vorstellungs g eb il de.
Naturgemäß kann bei diesen nur eine Methode der
Korrektur staltfinden: sie müssen in dem Schlußresultat
einfach he raus fallen. Der Fehler muß rückgän-
gig gemacht werden, indem das fiktiv einge-
f ü h r t e G e b i 1 d e einfach w i e d e r h i n a u s g e w o r f e n
wird. Beruht aber die Einführung auf einem logischen
Fehler, so kann das Hinauswerfen auch nur durch einen
logischen Fehler stattfinden. Darum nannten wir dies
die Methode der entgegengesetzten Fehler. Der
Name paßt jedoch streng genommen zunächst nur auf jene
exakten mathematischen Beispiele, welche wir früher
arifzählten; er paßt aber auch auf alle logischen Denk-
reihen, wenn man nur dieselben nach dem Gesetz des
W.iderspr uch s durchgeht.
Bei den praktischen Fiktionen ist der Ausfall
dieser Vermittlungsglieder ganz einfach: wenn der
Zweck erreicht ist, so fallen sie weg; freilich aus
der Psyche fallen sie nicht hinaus, nur aus
her Denkrechnung. So z. B. bei der Fiktion der
Freiheit: der Strafrichter benützt diese Fik-
tion einfach, um ein Strafurteil zustande zu
bringen. Der Zweck ist das Strafurteil, das durch
die Fiktion, der Mensch, also in specie der Verbrecher,
sei frei, erreicht wird: ob der ]\Iensch faktisch frei ist,
ist gleichgültig. Der Mittelbegriff der Freiheit fällt her-
aus, wie in jedem Schluß der Mittelbegriff herausfällt.
Der Richter schließt: Jeder Mensch ist frei und darum,
wenn er gegen das Gesetz sich vergangen, strafbar. Aist
em Mensch, ein freier Mensch und hat sich vergangen;
also ist er strafbar. Zuerst wird A unter den Begriff des
freien Menschen subsumiert, sodann dadurch unter
die Strafbarkeit. Der Begriff der Freiheit fällt aber damit
heraus; er hat^nur dazu gedient, das Urteil möglich
zu machen. Ob aber der Mensch überhaupt frei sei, diese
Prämisse wird vom Richter nicht untersucht:
faktisch ist diese Prämisse nur eine Fiktion,
welche zur Ableitung des Schlußsatzes dient; denn ohne
Die Methode der Korrektur.
119
Bestrafung der Menschen, der Verbrecher, ist keine Staats-
ordnung möglich: zu diesem praktischen Zweck
ist die theoretische Fiktion der Freiheit er-
funden.
Ähnlich ist es mit der Fiktion des Staatsver-
trags: auch diese dient nur dazu, das staatliche
.Sitraf recht (also nicht, wie bei der Freiheit, das' mora-
lische Recht zur Strafe) zu begründen: es wird fin-
giert, jeder Bewohner des Landes habe stillschweigend
einen Vertrag gemacht mit der Gesamtheit, die Gesetze
halten zu wollen. Vertragsbruch selbst aber ist nach
diesen Gesetzen strafbar : hat nun A diese Gesetze über-
treten, so hat er den Vertrag gebrochen, und damit verfällt
er eben nach dem Gesetz der Strafe. Diese ganze Fiktion
dient also nur theoretisch zur Begründung des
staatlichen Strafrechtes; denn es ist ein öffent-
liches Geheimnis der Staatslehre, daß das Strafrecht
auf andere Weise absolut nicht zu begründen
ist: woher die Gesamtheit (oder ein einzelner an
ihrer Stelle) ein Recht haben soll, andere zu strafen, ist
absolut nicht ersichtlich.
Da man also die Strafe nicht auf bloßes! Machtverhältnis
reduzieren will — daß einfach der Mächtigere, die Ge-
samtheit, die einzelnen strafen dürfe, worin aber keine
juridische oder moralische Begründung liegt — so ver-
sucht man durch jene Fiktion vom Staats vertrag das
Strafrecht zu begründen, theoretisch. Auf diese Weise
suchte man früher und teilweise auch jetzt noch sowohl
das Recht des Monarchen, der Krone, als auch das
R. evolutionsrecht des Volkes theoretisch zu begrün-
den: denn es läßt sich ja doch absolut nicht behaupten,
daß der Staat irgendwoher ein Recht zur Straie habe,
der Regent znm Regieren, das Volk zur Revolution. Auf
solche Weise bildet also der Vertrag den Mittel-
begriff, um die genannten Rechte theoretisch abzu-
leiten.
Im Schlußsatz selbst aber fällt der Mittelbegriff aus ; er
fällt somit aus der vollendeten Denkrechnung heraus.
Ehe wir diesen Gedanken weiter verfolgen, müssen wir
darauf aufmerksam machen, daß je nach den verschiede-
nen Fiktionen selbst die notwendigen Korrekturen auch
120 Erster Teil - Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
ganz verscilieden aiisfallen: es gibt hier eine ungemeine
Slannigfaltigkeit von Formen. Da, wo unberechtigte Über-
tragungen usw. stattfinden, z. B. wo der Kreis als Ellipse
definiert wird, bildet das fiktive Vorstellungsgebilde selbst
nicht den ersten, sondern den zweiten Fehler; näm-
lich wenn ich sage : def Kreis ist eine Ellipse, so ist dies
ein offenbarer Fehler; indem ich aber sage: deren Brenn-
punkte die Distanz = 0 haben, bekommt der Satz einen
Sinn. Aber wodurch? Noch einmal durch einen
Fehlerl Denn Distanz = 0 ist ein logischer Non-
sens. Eine Distanz ^ 0 ist ja eben keine Distanz;
der Nichtfall wird also einfach als Fall in negativem
Sinne betrachtet. Hier sind also zwei Fehler: der erste
ist die Behauptung, der Kreis sei eine Ellipse; dieser wird
gut gemacht durch den zweiten Fehler der Behauptung
einer Distanz = 0, was logisch aber doch genau ge-
nommen derselbe \Viderspruch ist, wie die Behauptung,
der Kreis sei eine Ellipse. Auch hier bildet die Vorstel-
lung Distanz = 0 den Mittelbegriff, der nachher
wieder herausfällt; der Schluß ist folgender: Jedes Ge-
bilde, welches u. a. zwei Brennpunkte von einer gewissen
Distanz hat, ist eine Ellipse. Nun hat der Kreis zwei
Brennpunkte mit der Distanz = 0 — also ist er eine
Ellipse. Man sieht, wie hier der fiktive Mittelbegriff
im Resultat herausfällt: das Resultat selbst war der
Zweck, um den es sich handelte: um eine VeralR
gerne in erung des Begriffes Ellipse zu erreichen,
oder um den Kreis unter ein ganz konträres Gebilde zu
subsumieren. Daraus erhellt dann freilich auch die Sub-
jektivität aller unserer klassifikatorischen Bezeichnun-
gen; so kann ich schließlich alle konträren Begriffe
untereinander subsumieren, was doch gerade der ordi-
nären Logik widerspricht.
Eine Reihe von Korrekturen bezieht sich darauf, daß
eine anfangs mit dem wirklichen Tatbestand vorgenom-
mene Veränderung nach Vollendung der Rechnung' wieder
zurück genommen wird. Dies ist besonders in der
Mathematik der Fall. Nehmen wir ein Beispiel: Es ist die
Aufgabe gegeben, eine Linie a solle in zwei Teile x und
a — X geteilt werden, so daß (a — x) ein Größtes sei.
Diese historisch gestellte Aufgabe schien lange unlösbar.
Die Methode der Korrektur.
121
bis Ferrnat sie durch folgenden Kunstgriff löste:
Fermat setzte statt x den Teil x-f-e, also einen ganz will-
kürlichen Teil, der größer ist, als der verlangte. Da-
durch verwandelt sich jener Ausdruck
in folgenden:
x^ (a — x)
(x -f- e)^*(a — X — e).
Diesen Ausdruck vergleicht er mit jenem, als wenn beide
gleich groß wären, ob sie es gleich nicht sind. {Denn der
Wert des emen und anderen sind offenbar verschieden;
z. B. 62(9 — 6) gibt 108; dagegen (6-f 1)2(9 — 6 — 1)
gibt 98.) Diese Vergleichung nennt er eine adaeqaalitas
(Diophanti naQoaöTrjg). Fermat setzt also folgende Glei-
chungen :
(I) x^(a — x) = x^a — x^
(II) (x e)^(a — X — e) = (x^ -f- 2 e X -|- e ®) (a — x — e) =
ax^ -|- 2aex -|- ae^ — x=^ — 2ex^- e^x — ex^ — 2e^x — e^
Fermat setzt nun, wie bemerkt (I) — (II); daraus folgt:
(III) x'^a — = Six^ 2 aex -{- — x^ — 2 e x^ — e^x
— e x^ — 2 e^x — e®
2 aex -|- ae- = 3 ex^ 4” 3 e'^x -|- e^
2 ax ae = 3 x^4" ^ xe -j-
Wie nun aber weiter??
Hier macht nun Fermat einfach den oben begangenen
Fehler dadurch wieder rückgängig, daß er sagt: Jenes
x-}-e war eine bloße Fiktion zur Einfädelur^ der
Rechnung. Faktisch soll ja doch I = II sein; das ist aber
nur möglich, wenn e = 0 ist^); also fallen alle Glieder
mit e heraus. Das gibt
9 Man nehme an, der Unterschied zwischen x und x -}- e, also
eben die Größe sei sehr klein, so wäre die Gleichsetzung beinahe
richtig. Man nehme an, der Unterschied sei so minimal wie möglich,
so wird die Gleichsetzung immer richtiger. Nimmt man aber e = un-
endlich klein, so wird die Differenz unendlich klein ; setzt man endlich
e = 0, so wird die Differenz auch =0. Die Größe e wird also, ob-
gleich sie Nichts ist, als ein Etwas fingiert; ein Irreales wird ein ge-
schoben und als real angenommen. Dies ist auch ein Vorspiel der
Differentialrechnung.
122 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
2 ax = 3
2a = 3x
2 a
Beispiel: Die Linie a habe die Länge 12; so ist x = 8,
a — x = 4; nur in diesem Fall ist x2(a — x) ein Größtes;
d. h. 8^(4) = 256. Jede andere Teilung gibt ein kleineres
Resultat: z. B. 7 2 (5) = 245; 02 (6) = 216; 52(7) = 175 usw.
In diesem merkwürdigen Beispiel bat man ein typi-
sches Bild alles fiktiven, alles diskursiven
Denkens. Der Gedankengang Fermats war folgender:
Die fingierte Größe x-|-e ist nicht gleich mit der
Größe X, wenn e real ist; sie ist aber gleich, wenn
6 = 0 ist. Die ganze Rechnungsweise beruht auf einer
quaternio terminorum^ indem e zuerst=real, danii=0 ge-
nommen wTrd. Eine Gleichsetzung der beiden Größen
x2(a — x) und (x-(-e)2(a — x — e) ist gar nicht möglich;
darum nennt sie Fermat eine adaequalitas^ eine approxi-
mative Gleichheit, keine vollständige. Gleichwohl rechnet
er, als ob die Gleichheit vollständig wäre, obwohl
nach dem strengen Codex der Mathematik und Logik
X nimmermehr = x -f- e ist.
Und doch wird durch diese Rechnungsweise das Re-
sultat erreicht! Durch die eingeschobene Fiktion x-j-e
und ihre Gleichsetzung mit x 1
Was tat also Fermat? Den zuerst begangenen
Fehler nahm er im Verlauf wieder zurück, in-
dem er die Hilfsgröße e einfach herausfallen läßt. Jetzt
ist die Gleichheit der Schlußgleichung keine erdichtete
mehr, wie die erste, sondern sie ist eine faktische. Durch
die Erdichtung, durch die Methode der entgegengesetzten
Operationen ist also hier ein äußerst wichtiges Resultat
erreicht.
Genau dieselbe MeÜiode, wenn auch einfacher, befolgt
das mathematische Denken bei der Auflösung der Glei-
chungen zweiten Grades. Wir haben die Gleichung :
x2-|-px = q.
Mit dieser Gleichung kann das Denken nichts anfangeii.
Es kann nur durch die Methode der entgegengesetz-
ten Operationen vorwärts kommen. Und wie fängt das
Die Methode der Korrektur.
123
Denken das hier an? Es führt die Hiifsgröße
und sagt zunächst
x" 4- px -f = q.
ein,
Das wäre aber ein Fehler: die entgegengesetzte
Operation wird hier sofort vorgenonimen, indem auch auf
die entgegengesetzte Seite dasselbe Zeichen gesetzt wird ;
also :
X’ -l-px +
Nun ist die Gleichung auflösbar; denn:
X -|--
P.
2
== +
Wie gelangte das mathematische Denken zu diesem
Resultat? Durch Einführung der Hilfsgröße ’
welche auf den beiden entgegengesetztenSeiten
der Gleichung hinzugefügt wurde; indem ich
auf der rechten Seite auch liinzusetze, hebe ich den
auf der linken Seite begangenen Fehler wieder auf. Es
ist eine allgemeine mathematische Regel, daß ich die eine
Seite der Gleichung nicht quantitativ verändern darf, ohne
einen Fehler zu begehen, ohne die Gleichung zu zerstören.
Ich begehe diesen Fehler, mache ihn aber sofort durch
den entgegengesetzten unschädlich.
Formell ist dieses Verfahren mit dem oben darge-
stellten von Fermat beinahe identisch. In der mathemati-
schen Terminologie heißt man dies Kunstgriffe oder
Kniffe. Der zweite ist ein deutliches Bild der Semi-
fiktion: hier wird die AVirklichkeit verändert; nur
erfordert hier eben die Eigenart des Gegenstandes die
124 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
sofortige Remedur, die Sanierung, während sie in
den übrigen Semifiktionen erst nachher eintritt.
Auch bei dem ersten mathematischen Beispiel tritt die
Remedur resp. Sanierung erst nachher ein: indessen ist
jenes erste Beispiel zugleich ein Bild der echten Fik-
tionen: denn hier wird ein Widerspruch begangen: ent-
weder ist (a — x) = (x -f- (a — x — e), d. h. also x-\-e
= x, dann ist e = 0 (mit 0 zu rechnen, darin besteht aber
eben der Kunstgriff; 0 ist ja keine Zahl); oder x ist
nicht =x-|-e, dann ist die Gleichsetzung falsch; das ist
sie aber auch im ersten Falle; denn x-(-0 hat keinen Sinn
mehr; es ist eben =x, und was soll ein 0^? Somit kom-
men wir hier aus dem Widerspruch gar nicht heraus;
die Feinheit der Mathematik besteht nun aber darin,
doch mit solchen sinnlosen Symbolen wie 0 zu
rechnen, als ob sie wirkliche Zahlen wären.
Ich behaupte nun, daß alle fiktiven Denkhandlungen mit
der obigen mathematischen formell ganz identisch sind.
Die Identität der ersten Form : bloßeVeränderung der
Wirklichkeit (ohne Selbstwiderspruch), liegt auf der Hand.
Wie im zweiten Beispiel das Gleichungsglied x^-j-px
durch den willkür
i c h e n Zusatz (natürlich g
anz
willkürlich darf er nicht sein, sondern in irgendeiner Be-
ziehung damit muß er stehen) verändert wird, so ver-
ändert die Psyche in den obigen fiktiven Methoden : künst-
liche Einteilung, abstraktive resp. neglektive Fiktion usw.
die Wirklichkeit, die gegebene Wahrnehmung. Damit das
Denkresultat aber stimme, muß eben eine entgegen-
gesetzte Operation vorgenommen werden; bei dem
mathematischen Beispiel geschieht dies sogleich; bei
den anderen geschieht dies nachher. Ich behaupte damit
nicht, die logischen Funktionen auf mathematische re-
duziert zu haben, sondern die formale Identität
der wissenschaftlichen Methoden in verschie-
denen Wissenschaftsgebieten nachgewiesen
zu haben, und zwar derjenigen Methoden, welche das
Ziel durch Veränderung des Gegebenen erreichen,
durch willkürliche Abweichung von der Wirklichkeit.
Jenes mathematische Beispiel ist nur unter allen das
Die Methode der Korrektur.
125
durchsichtigste und zeigt, wie es denkbar sei, daß
das Denken gerade durch die iVbweichung von der
Wirklichkeit vorwärts kommen kann. Das gegebene Denk-
material steht der logischen Funktion spröde gegenüber;
ohne sich dadurch abschrecken zu lassen, verändert sie
willkürlich das Gegebene, bringt so die Vorstellun-
gen in Fluß und verändert ganz ruhig am Ende ihren an-
fänglich begangenen Fehler. Wir sehen hier die formale
Identität dieser logischen Kunstgriffe ganz eklatant.
Auf das Schema der Fermatschen Rechnung hat Ber-
keley, was gar nicht mehr bekannt ist, auch die Diffe-
rentialrechnung gebracht und gezeigt (ohne das Fer-
matsche Beispiel anzuführen), daß auf diese Weise sich
dieselbe erklären lasse: sein Resultat ist, daß doppelte
Fehler gemacht werden. Die Einwände Berkeleys sind
in dem vergessenen Werke: The Analyst enthalten und
in fünfzig Abschnitten weitläufig entwickelt. Es ist ein
imgemeines Verdienst Berkeleys, diese Widersprüche in
der Fluxionsrechnung hervorgehoben zu haben; nur be-
gegnet ihm dabei ein höchst komischer Fehler: er weist
genau nach, durch welchen Kunstgriff der Mathematiker
sein Resultat erreiche, nämlich dadurch, daß die Fehler
doppelt gemacht werden: anstatt nun in dieser ganz
genialen Entdeckung, die viel tiefer geht, als Newtons
und Leibnizens eigene Ausführungen, den Grund des
richtigen Resultates und das Recht der Anwendung
zu finden — verwirft er die ganze Methode als un-
logisch, als dem traditionellen Kodex der Logik wider-
sprechend. Die Geschichte hat ihn Lügen gestraft: denn
noch heute macht man dieselben Fehler, Widersprüche
mit denselben Kunstgriffen und ganz mit Recht. Derselbe
Fehler begegnete ihm aber noch einmal auf eine noch
\del komischere Weise: Berkeley wies vollständig richtig
und mit genialem Blick nach, daß fast alle Grundbegriffe
der Mathematik widerspruchsvoll seien ; daraus leitet
er den Satz ab, die Mathematiker hätten gar kein Recht,
über die Unbegreiflichkeiten und Mysterien des Christen-
tums zu schelten, da ihre eigene Mathematik daran leide ;
als ein solcher Widerspruch erscheint ihm die Fluxions-
rechnung; diese verwirft er eben als widerspruchs-
voll; aber als echter Engländer sieht der gute Bischof von
126 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
Cloyne nicht ein, daß er dann ja auch die Grundbegriffe
der christlichen Theologie verwerfen müßte.
Und er hatte die Lösung sogar in der Hand; allein wir
haben hier das seltsame Schauspiel, das nicht so leicht
in der Wissenschaft zweimal wiederkehrt, daß ein Den-
kerdieLösung einesProblems inderHand hat,
— das Problem selbst aber nicht!
Das ging so zu: Berkeley war ärgerlich darüber, daß
einige „free-thinkers“, welche Mathematiker waren, sich
skeptisch über die Unbegreiflichkeiten der christlichen
Dogmatik geäußert hatten : sein ganzes Bestreben ging nun
dahin, nachzuweisen, die Mathematiker sollten vor ihrer
eigenen Türe kehren, und „wer in einem Glashause
wohne, solle nicht mit Steinen um sich werfen“. Seine
Tendenz ist bloß, nachzuweisen, daß die Fluxionsrech-
nung mit Widersprüchen behaftet sei; ja, er zeigt so-
gar und findet auf diesem Wege ganz zufällig, daß die
Methode immer einen Fehler durch einen zAveiten wieder
gutmache und so nun das richtige Resultat erhalte!
Berkeley hatte eine unwissenschaftliche Tendenz.
Das wahre Problem war und ist: Wie kommt es, daß
in der Mathematik durch Widersprüche, wie
sie in der Fluxionsrechnung enthalten sind.
Richtiges erreicht wrtrd? Anstatt dessen sucht Ber-
keley nur die Widersprüche selbst nachzuweisen!
Aber er hat mehr geleistet, als er wollte! Denn er hat
auch zugleich die Antwort auf jene Frage gefunden, die
er gar nicht gestellt hatte. Und doch hätte ihn diese
Antv/ort selbst auf die richtige Frage bringen sollen.
Gewiß ein seltener Fall in der Geschichte der Wissen-
schaften.
Die Antwort auf jenes Problem ist: Das richtige
Resultat wird erreicht durch die Methode der
entgegengesetzten Fehler.
Wir müssen das einzelne dieser höchst interessanten
Entdeckung Berkeleys über die Fluxionsrechnung (welche
Drobisch und Car not wiederum gemacht haben) auf
eine Spezialdarstellung verschieben: für uns fließt diese
Methode ganz organisch aus unserem Prinzip, und sie
bildet nur einen Bruchteil der allgemeinen fiktiven Me-
thode des Denkens. Die ein geführten Hi Ifs großen
Die Methode der Korrektur.
127
fallen wieder aus : in der Mathematik ist dies nur möglich
durch entgegengesetzte Operationen. Die eigentliche Auf-
lösung des Geheimnisses besteht darin, daß dx und dy
das eine Mal = 0, das andere Mal = real, wenn auch
sehr klein betrachtet werden. Dies ist die mathema-
tische Lösung. Die Frage, warum man durch die Fiktion
von dx und dy und ds die Resultate richtig erreiche,
kann ganz verschieden beantwortet werden, je nachdem
man rein mathematisch zu Werke geht oder eine Er-
klärung mit diskursiven Begriffen will. Mathematisch
ist jene Fiktion ein einfacher Kunstgriff, und die Glieder
dx usw. fallen schließlich einfach heraus durch
den entgegengesetzten Fehler, durch die quaternio :
denn anfangs werden sie gleich real, zuletzt gleich 0 ge-
nommen. Logisch und diskursiv ausgedrückt nehmen wir
den Begriff „Unendlich klein“ zu Hilfe, der nur ein
diskursives Begriffsgebilde ist, dagegen im mathemati-
schen Kalkül selbst bloß als Symbol behandelt wird,
und sogar in der Differentialrechnung selbst, rein ma-
thematisch behandelt, gar nicht notwendig ist.
Man hat schon oft versucht, diesen Begriff aus der Diffe-
rentialrechnung hinwegzutun: aus dem mathemati-
schenKalkül braucht man ihn nicht zu entfernen, denn,
richtig verstanden, ist er nicht da, wie Berkeley richtig
zeigt; das Ganze beruht auf einem mathematischen
Kunstgriff; dagegen sucht die diskursive Inter-
pretation die mathematische Berechnung durch diesen
Scheinbegriff zu rechtfertigen. Das ist richtig. Auch jene
Ferm ätsche Rechnung läßt sich so rechtfertigen: man
sagt, x-|-c sei nur unendlich wenig von x verschieden,
darum seien beide auch wohl gleichzusetzen. Für den
Mathematiker ist dies keine Rechtfertigung; und wenn e
noch so klein ist, so ist doch x-f-e verschieden von'x;
die mathematische Betrachtung, wenn sie rein, ohne dis-
kursive Beimischung ist, kann die Fermatsche Methode
und die Infinitesimalmethode ganz ohne Einmischung des
Unendlichkeitsbegriffes betrachten; wie e einfach ein
Symbol ist=0, das dann aber zuerst=real, dann=0
genommen wird, so ist ds, dx, dy zuerst=real, sehr klein
(nicht unendlich klein) und nachher = 0; durch diesen
einfachen kunstreichen Mechanismus wird das Resultat
128 Krstor Teil: Prinzipielle Gninrllegimg. B. Theorie der Fiktionen,
erreicht. Dieser mathematischen Rechtfertigung oder Justi-
fikation steht die diskursive vermittels des Mißbegriffes
des Unendlich kleinen gegenüber: es ist vollständig
richtig, daß man diesen entbehren kann bei jenen Me-
thoden, aber den Widerspruch werden sie doch
nicht los, denn sie rechnen mit 0 gleich einer Zahl, oder
sie setzen zuerst e und ds = sehr klein, dann = 0; das
sind Kunstgriffe, deren richtiger Erfolg nur auf der
Methode der entgegengesetzten Fehler beruht.
Zuerst wird e eingeführt, dann wird es wieder herausge-
worfen; so auch die Differentiale. Die Verdeutlichung
durch den Begriff des Unendlichkleinen gehört nur dem
diskursiven Denken an; und es ist Hoffnung vor-
handen, diesen Begriff, wie wir ihn hier als entbehrlich
erkannten, so auch sonst entbehrlich zu machen. Wenn
aber auch dies nicht gelingt, so ist und bleibt er doch als
eine Fiktion erkannt; es ist nur wichtig, zu zeigen, wie
bei diesen Fiktionen durch entgegengesetzte Fehler
das eigentliche Resultat erreicht wird. Wenn wir e und
ds, dx, dy - - als unendlich klein nehmen, so ist aber
die Methode genau dieselbe wie oben: wir führen dadurch
ein fiktives Gebilde ein, denn unendlich klein ist
logischer Nonsens, ein Bastard von Nichts und Etwas.
Und das ganze große Geheimnis der Sache läuft auf
diese lächerlich einfache Methode hinaus, diesen Begriff
bald als Etwas, bald als Nichts zu nehmen.
Das Unendlichkleine ist eine Fiktion. Freilich wird
dann durch diese Fiktion (welche durch die Methode
der entgegengesetzten Fehler gerechtfertigt ist) das Ge-
gebene gleichsam zersetzt : nur dadurch ist der Fortschritt
der Rechnung ermöglicht. Indem das Denken entgegen-
gesetzte Operationen vornimmt, erreicht es einen Fort-
schritt: die Zusammenfassung dieser entgegengesetzten
Operationen in einen Begriff erzeugt eben die Fiktionen,
welche nur das Symptom solcher entgegengesetzten Ope-
rationen sind, solcher entgegengesetzten Fehler. Nun sind
die Widersprüche in solchen Begriffen erklärt und gerecht-
fertigt, beides zugleich. Die Hauptsache sind nicht diese
Begriffe selbst, sondern die in ihnen zum Ausdruck
kommenden entgegengesetzten Operationen, durch
welche das Denken seine Forlschritte erreicht. Wie denn
Die Methode der Korrektur.
120
aber das möglich sei, das lehrten uns jene mathematischen
Beispiele und wird uns noch das Folgende lehren. Der
ganze Fortschritt des Denkens beruht nur auf solch ent-
gegengesetzten Operationen oder Fehlern: in diesem Hin
und Her besteht einzig und allein der logische Fortschritt,
der keine gerade Linie ist, sondern ein beständiges
Lavieren gegen einen ungünstigen Wind.
Wir haben oben an speziellen mathematischen Bei-
spielen nachzuweisen versucht, wie die Seele kunst-
reich verfahre, um schwierige Aufgaben zu lösen: sie
weicht der Schwierigkeit einfach nach der Seite hin aus
und sucht indirekt ihr Ziel zu erreichen. Es waren frap-
pante Beispiele, welche wir zu betrachten hatten, aber
sie allein sind imstande, uns den eigentlichen Denk-
mechanismus, den psychischen Mechanismus des Denkens
zu enthüllen. Wenn nämlich alle Kategorien und Allge-
meinbegriffe nach unserer früheren Ausführung auch nur
Fiktionen sind, so muß ja wohl hier ein Ähnliches statt-'
finden? Natürlich! Und es findet auch statt, und wir
haben auch schon darauf hingewiesen und wollen noch
einmal darauf hinweisen. Durch die Einschiebung
einer Kategorie wird nämlich, wie wir sahen, nicht
nur der Schein desBegreifens erzeugt, sondern auch
eine gewisse Ordnung der Phänomene hervorgebracht,
und die Berechnung der Data der Erfahrung ermöglicht.
Ich sehe übrigens auch gar nicht ein, was denn die Ein-
teilung der Phänomene in Kategorienfächer vor einer
künstlichen Einteilung voraus haben sollte? Prak-
tisch ist diese Einteilung recht wertvoll, aber wer wird
heutzutage behaupten, dadurch sei irgendeine Erkennt-
nis geschaffen, wer wird leugnen, daß diese Einteilung
zu Unträglichkeiten und Widersprüchen, zu „un-
möglichen Gliedern“, wie Lotze sagt, führe.
Also unsere Kategorieneinteilung ist eine rein künst-
liche Klassifikation der Dinge, und das Prinzip dieser
Einteilung ist einzig und allein die Analogie der Ab-
folge und Gleichzeitigkeit der phänomenalen Unabänder-
lichkeiten mit subjektiven Verhältnissen; aus diesen wer-
den prominente Fälle herausgehoben, sie bilden das
Gleichheitszentrum, um das sich die äußeren ähnlichen
Vaihitiger, Philosophie. 9
130 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Tlieorie der Fiktionen.
Fälle versammeln. Bei der Denkrechnung aber fallen sie
faktisch heraus.
Nicht viel anders .steht es aber mit der zweiten
Hauptfiktion der logischen Funktion, mit den All-
g e m e i n h e g r i f f e n : auch sie fallen nach V ollendung der
Denkrechnung heraus, wie oben „e“ und ds, dx, dy heraus-
fielen, weil sie fiktive, eingeschobene Vorstellungs-
gebilde sind ohne wahre, objektive Bedeutung. Verfolgen
wir eine Denkrechnung in ihrem Verlauf, und analysieren
wir dabei den psychologischen Mechanismus. Es handle
sich darum, als Resultat zu erhalten, daß — es ist ein
altes Schulbeispiel — Sokrates sterblich ist, weil jeder
Mensch, weil der Mensch überhaupt sterblich ist. Die
wahre Aufgabe hierbei ist, von dem speziellen
Phänomen solches auszusagen, was in vielen
tausend ähnlichen Fällen beobachtet war. Also
wir haben :
M — P — Der Mensch ist sterblich.
S — M — Sokrates ist ein Mensch.
S — P — Sokrates ist sterblich.
Was haben wir damit getan? Mit Hilfe des Mittel-
begriffes „Mensch“ haben wir eine Denkrechnung
vollzogen, deren Resultat ist: Sokrates ist sterblich. Der
Mittelb egriff selbst ist herausgefallen. Es war uns ja
auch nur darum zu tun, den einzelnen Fall des So-
krates: dieses Spezialphänomen, so mit einer zahllosen
Reihe anderer zu vergleichen, daß wir eine gemeinsame
Koexistenz oder Sukzession erschließen können^ d. h.
wahrnehmen könnten, wenn der spezielle Fall überhaupt
in unsere Wahrnehmung treten würde. Eigentlich ist
dieser Schluß eine Hypothese nach der Analogie: weil
viele Menschen, d. h. alle bekannten Menschen sterb-
lich gewesen seien, sei auch Sokrates sterblich. Allein
diese bloße Analogie — und faktisch besteht unser ganzes
Wissen darin — wird vermittelt und erleichtert
durch den Mittelbegriff Mensch.
Nachdem das Resultat erreicht ist, fällt der Mittelbegriff
heraus.
Die entgegengesetzten Operationen bestehen also darin,
daß zuerst der Allgemeinbegriff „Mensch“ über-
Die Methode der Korrektur.
131
haiipt gebildet wird, und daß dann Sokrates selbst dar-
unter subsumiert wird: dadurch wird eben das Aus-
fallen des Mittelbegriffes ermöglicht.
Die entgegengesetzten Operationen nannten wir
aber 8uch entgegengesetzte Fehler: wir wollen dies hier
spezieller verwerten; vielleicht finden wir noch ein ganz
anderes, unerwartetes Resultat. Der erste Fehler besteht
in. der Bildung des Begriffes: „Mensch überhaupt“. Was
ist dieses „überhaupt“ ? Es ist eine reine Einbildung, eine
Fiktion, ein fiktives Vorstellungsgebilde. xVus der un-
zähligen Menge der vielen beobachteten Menschen schiebt
sich allmählich ein Allgemeinbild heraus, ein Typus,
ein Schema, in dem die allgemeinsten „Eigenschaften“
dieser ähnlichen Phänomene gesammelt sind. Dieses Bild
ist bloß ein Vorstellungsgebilde: in Wirklichkeit
gibt es nur einzelne Menschen. Wir heißen dies Gebilde
nun den A 1 1 g e in e i n b e g r i f f „Mensch“ . Da ein solches
Gebilde nicht existiert, so ist der Satz: Der Mensch ist
sterblich — logisch streng genommen — falsch;
denn sterblich sind nur die einzelnen Menschen,
die einzelnen A, B, C, D . . . Eine Aussage über „den
Menschen“ ist logisch streng genommen falsch, eine Ab-
weichung von der gegebenen Wirklichkeit, weil diese uns
keinen „Menschen“ gibt.
Der Untersatz: S — M ist aber auch falsch; denn in
ihm wird ein individuelles Wesen dem Allgemeinbegriff
gleichgestellt. Jenes M als Allgemeinbegriff ist doch etwas
anderes als das Mabc (abc als die Reihe der individuellen
Bestimmungen gesetzt nach der Bezeichnungsweise Lotzes),
welches Sokrates ausmacht. Nennen wir dies M^. Es wird
also im Untersatz gesagt: S ist M. Das ist aber auch nicht
wahr, denn S i s t M^.
Genau wie wir oben eine quaternio terminoram hatten
bei e (in der Rechnung von Fermat war es zuerst = real,
(lann = 0) so hier: und in dieser quaternio besteht eben
auch die Methode der entgegengesetzten Operationen. Zu-
erst werden alle M^, M^, M^ durch eine willkürliche Ab-
straktion zusammengefaßt zu einem M, dem die an jenen
beobachteten Eigenschaften zugeschrieben werden; dann
wird umgekehrt ein gegebenes mit diesem M identi-
fiziert, also der entgegengesetzte Fehler gemacht; durch
132 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
diesen Fehler nun wird die willkürliche Abweichung
wieder gut gemacht, und der Mittelbegriff fällt aus.
Also beruht jeder solcher Schluß, dessen Mittelbegriff
ein Allgemeinbegriff ist, auf einer qaaternio terminoram.
Somit sind auch beim Gebrauch der Allgemeinbegriffe
die Methode und der Mechanismus des Denkens auf die
allgemeine, bisher beobachtete Methode der entgegen-
gesetzten Operationen zurückgeführt. —
Eine Folgerung aus dem Gesagten müssen wir noch
hinzufügen : Ausdrücke, wo die entgegengesetzte Operation
noch nicht vollzogen ist, sind also streng genommen
ebenso falsch, als x2(a — x) = (x-j-e)2(a — x — e), wo eben
die entgegengesetzte Operation noch nicht statt-
fand.
Das trifft nun einmal auf alle allgemeinen Sätze
zu; denn der allgemeine Satz hat nur die Funktion, in
einer Denkrechnung verwertet zu werden und zur Ver-
mittlung zu dienen : der Satz : „Der Mensch ist sterb-
lich“ ist also, wie schon manche Skeptiker behaupten,
falsch, weil „der Mensch“ gar nichts Pmales ist Es
ist ein unrealer Satz, der nach seiner Ergänzung verlangt
wie eine abgerissene Hälfte.
Nun hat aber Lotze (und ähnlich vor ihm' Steinthal)
dieselbe Bemerkung gemacht in bezug auf alle in Kate-
gorien gefaßten Begriffe überhaupt, und sicher mit vollem
Rechte. Steinthal macht mehrfach darauf aufmerksam,
daß im Urteil eigentlich erst die Spannung gelöst j
werde, welche durch die Bildung einzelner Begriffe ins
Denken hereingebracht werde. Natürlich! Nach unserer
Theorie sind alle Begriffe, alle in Kategorien gebrachten
Verhältnisse Fiktionen: ein einzelnes Glied dieses Ver-
hältnisses, eine Fiktion nackt hinzustellen, darin besteht
eben die Spannung, der Widerspruch: Baum, grün
sind Beispiele; abgetrennt, isoliert sind das Fiktionen:
sage ich aber „dieser Baum ist grün“, so ist die Span-
nung im Urteil gelöst.
Das eigen Üiche Prinzip, daß die isolierten Begriffe und Allge-
meinurteile zur Ergänzung drängen, liegt eben darin, daß sie nur
Mittel zu einem Zwecke sind, ohne den sie wertlos sind: die Mittel
aber ohne Rücksicht auf ihren Zweck zu hehandeln, führt eben auf
Spannung und Widersprüche.
Die Methode der Korrektur.
133
Indessen ist dies nur ein spezieller Fall einer viel
allgemeineren Erscheinung bei allen Fiktionen. Wir
machten ja mehrfach darauf aufmerksam, daß, wenn
man die Fiktionen, die Mittelglieder, allein herausnehme
und behandle, man nur die Schalen nehme und den
Kern fallen lasse: sowie man eine Fiktion abgelöst be-
trachtet von dem Boden, auf dem sie gewachsen ist, mid
von dem Zweck, den sie erfüllt, so ist sie Schale, ohne
Kern, wie 1^—1, wie Jy, üx, wie jenes e^), usw., und
somit hat man nicht nur Schalen in den Händen, sondern
auch Widersprüche Luid Scheinbegriffe : sie haben eben nur
Leben in der Beziehung aufs Wirkliche: ohne diese sind
sie tot; ohne ihren Zweck betrachtet sind sie wertlos.
Ganze Zeiten haben sich mit Schalen begnügt, so das
Mittelalter, welches sich mit Begriffen abgah ohne
ilire Beziehung auf die lebendige Wirklichkeit, in der
sie allein ihren Zweck erfüllen. xVlso alle Beschäftigung
mit den Fiktionen als solchen ist wertlos und schädlich,
weil sie selbst nur Wert haben in ihrer Beziehung
auf ihren Zweck: von diesem allgemeinen Gesetz, —
das mit absoluter Notwendigkeit aus dem Wesen der Fik-
tion selbst folgt und so vieles aus der Wissenschafts-
geschichte auf einmal erklärt — ist jene obige Bemerkung
nur ein Anwendungsfall. Natürlich haben Begriffe und
darauf gebaute Allgemeinurteile keinen Wert als in Be-
ziehung auf die einzelnen Phänomene und ihren
Zusammenhang. Darum drängt der Begriff zum
Urteil, weil er selbst unvollkommen ist, d. h. ein fik-
tives Vorstellungsgebilde; im Satz wird aber der be-
gangene Fehler wieder rückgängig gemacht, indem im
Einzelurteil — die in Kategorien auseinandergerissene Er-
scheinung wieder zusammengesetzt wird : wir hatten oben
das Beispiel : „Der Baum ist grün“, „Der Zucker ist weiß“.
„Zucker“, „weiß“ für sich sind Fiktionen: dagegen das
Urteil „der Zucker ist weiß“ spricht eine Tatsache
aus. Freilich ist, wie wir oben sahen, ein solches all-
gemeines Urteil, von einem höheren Standpunkt aus be-
ll Kenner der Mathematik werden hierbei wohl sofort an die
bekannten Vorsichtsmaßregeln erinnert, wie z. B. dx , Jy an sich
keinen Sinn haben, nur im Zusammenhang der Rechnung Wert
haben usw.
134 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen,
trachtet, auch streng genommen, falsch, da es nur dieses
imd jenes Stück Zucker gibt, nicht aber Zucker überhaupt.
Ihre eigentliche Wichtigkeit und Bedeutung gewinnt
misere Ansicht aber erst durch die Anwendung auf die
großen Lieblingsbegriffe der Philosophen: Gott, Frei-
heit, Unster l3lichkeit, Ding an sich. Absolutes
usw. und auf eine Reihe anderer Begriffe und Methoden,
welche hier zum erstenmal unter diesem zusammenfassen-
den Gesichtspunkt betrachtet werden, und denen ihre
wahre Bedeutung in demselben Moment erst zu-
gewiesen wird, als ihnen jede Bedeutung für
die Wahrheit abgesprochen werden muß. Die
eigentliche Bedeutung unserer Untersuchung liegt also
in der schonungslosen Anwendung dieser Theorie auf
gewisse beliebte Begriffe und berühmte Ideen, ebenso
wie auf die ganze Vorstellungswelt, wodurch der kriti-
sche Positivismus allein zur konsequenten und
lückenlosen Ausführung gelangt. Nicht nur jene einzelnen
Begriffe, nicht nur eine Reihe von Methoden, nicht nur
das diskursive Denken, sondern die ganze Vorstel-
lung s weit ist also für uns eine Fiktion. Wirklich ist
und bleibt nur die beobachtbare Unabänderlichkeit der
Phänomene, ihrer Verhältnisse usw.; alles andere ist
bloßer Schein, den die Psyche „darum herum“ macht.
XXVII. Kapitel.
Das Gesetz der Ideenverschiebung.
Die bisherige Untersuchung bietet uns nun auch Material
genug dar, mn noch ein weiteres, auf die Fiktionen bezüg-
liches Gesetz zu formulieren und psychologisch zu be-
gründen : ich nenne das betreffende Gesetz das Gesetz der
Ideenverschiebung. Dasselbe läßt sich allgemein dahin
formulieren, daß eine Anzahl von Ideen verschiedene
Stadien der Entwicklung durchlaufen, und zwar
das der Fiktion, der Hypothese, des Dogmas; und
umgekehrt das des Dogmas, der Hypothese, der
Fiktion. Dies in dieser allgemeinen Formel aus-
gesprochene Gesetz folgt als unmittelbares Korollar aus
Das Gesetz der Ideenverschiebung.
135
der psychologischen Natur der betreffenden Stadien selbst,
wie das Gesetz der Lautverschiebung aus der Natur
und den Gesetzen der physiologischen Beschaffenheit der
Laute selbst folgt. Wir müssen zu diesem Zweck noch
einmal kurz die psychologische Beschaffenheit der be-
treffenden Formen wiederholen und den Stand der
Psyche zeichnen, wenn sie eine dieser Formen hegt.
Die psychischen Elemente, sahen wir, sind einzuteilen
in feste, alteingesessene Vorstellungen und Vorstellungs-
sippen einerseits und in solche Vorstellungen, deren Auf-
nahme in jene erst noch eine Frage, ein Problem ist.
Auf der einen Seite stehen Vorstellungsgruppen, welche
als Ausdruck der Wirklichkeit (ohne Zweifel daran)
gelten, auf der anderen Seite stehen solche Vorstel-
lungen, bei denen ein Zweifel über ihre objek-
tive Gültigkeit herrscht. Jene sind Dogmen, diese
sind Hypothesen.
Vergleichen wir nun zuerst einmal das Dogma und
die Hypothese, so bemerken wir, daß die letztere
einen Spannungszustand darstellt, welcher der Seele
äußerst unangenehm sein muß. Die Seele hat die Ten-
denz, alle Vorstellungsinhalte ins Gleichgewicht zu
bringen und eine ununterbrochene Verbindung zwischen
denselben herzustellen: dieser Tendenz a.ber steht die
Hypothese insofern feindlich gegenüber, als ihr die
Vorstellung beigemischt ist, daß sie noch nicht durch-
aus mit den übrigen objektiven Vorstellungen in eine
Reihe zu setzen sei : sie ist nur probeweise in die Seele
auf genommen und hindert also jene Tendenz allseitiger
Ausgleichung. Die einmal als objektiv angenommene Vor-
stellung hat ein stabiles, die Hypothese nur ein labiles
Gleichgewicht; die Psyche tendiert aber dahin, jeden psy-
chischen Inhalt immer stabiler zu machen, seine Sta-
bilität zu vergrößern. Der Zustand des labilen
Gleichgewichts, wie er physisch unangenehm ist, ist auch
psychisch unangenehm.
Aus diesem Spannungszustand, der also ein unan-
genehmes Gefühl mit sich bringt, erklärt sich nun ganz
naturgemäß die Tendenz der Seele, jede Hypothese
in ein Dogma zu verwandeln. Der einzige Weg, um
ein labiles Gleichgewicht in ein stabiles zu verwandeln,
136 Erster Teil; Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
ist die Ünterstützuiig des betreffenden Körpers : in der
Psyche entspräche dieser Notwendigkeit, die Hypothese
durch immer neue Bestätigung immer stabiler zu
machen. Diesen einzigen erlaubten Weg indessen, der
bei manchen Vorstellungen nicht bloß Jahrhunderte in
Anspruch nehmen kann, sondern bei manchen sogar ganz
unmöglich ist, umgeht die Psyche einfach dadurch, daß sie
die Hypothese auf unerlaubte Weise in ein Dogma
verwandelt. Der Übergang einer Hypothese in ein Dogma
ist ein so alltäglicher psychischer xVorgang, daß wir uns
hierbei nicht weiter aufzuhalten brauchen. Nicht nur im
Individuum selbst findet dieser Übergang alltäglich statt,
sondern auch hei der Mitteilung an andere: was der eine
als Hypothese mitteilt, das nimmt der andere als
Dogma an: davon gibt es Beispiele in allen mensch-
lichen Gebieten, nicht nur in der Wissenschaft; natürlich
meinen wir damit also nicht die allmähliche Veri-
fikation der Hypothese, sondern die unerlaubte Ver-
wandlung einer Hypothese in ein Dogma. Die
Vorstellung wird in letzterem Fall allmählich oder plötzlich
in ihrem Wert um eine Stelle verschoben; darum kann
man dies das Gesetz der Ideenverschiebung nennen.
Eine Verschiebung, die der Hypothese in ein
Dogma, wäre somit erwiesen: behandeln wir nun die
Verschiebung der Fiktion in eine Hypothese. Diese
erklärt sich einfach aus der äußerlichen Ähnlichkeit beider
Gebilde, wie wir sie oben geschildert haben : nichts natür-
licher, als daß zwei so ähnliche Gebilde verwechselt
werden. Hierbei ist indessen zweierlei zu bedenken, ein-
mal, daß die Verwandlung der Fiktion in eine Hypothese
(nicht der umgekehrte Prozeß) der natürliche ist, und
sodann, daß die Fiktion sich auch leicht ohne das Mittel-
glied der Hypothese in ein Dogma verschiebt. Beides
ist leicht zu erklären. Wenn man Fiktion und Hypothese
vergleicht, so ist der Spannungszustand, der durch
die erstere in der Seele entsteht, ein viel bedeutenderer,
als derjenige, der durch die zweite entsteht. Man denke
daran, welch kompliziertes Gebilde eine echte, wissen-
schaftliche Fiktion ist. Man soll etwas aimehmen, von dem
man doch überzeugt ist, da.ß es gar nicht so sei; man
soll etwas betrachten^ als ob es so oder so wäre; damit
Das Gesetz der Ideenverschiebung.
137
ist also eine Vorstellungsform ganz in die Reihe der
übrigen aufgenommen, denn sie dient ja zur Bereclinmig
der Wirklichkeit; und doch soll die Seele bei ihrer An-
wendung zugleich die Vorstellung gleichsam
nachschleppen, daß diese Vorstellungsform nur sub-
jektiv sei: eine solche Vorstellungsform ist sogar posi-
tiv hemmend und verhindert direkt die Tendenz zur
Ausgleichung der Vorsteilungsgebilde; die Hypothese
hemmt nur negativ, indirekt diese Ausgleichung, die
Fiktion aber direkt und positiv. Der einfachste Weg, um
diesen unangenehmen Spannungszustand auszuschließen,
ist, die ganze nachgeschleppte Vorstellung nur subjektiver
Geltung — ganz fallen zu lassen; und da sich die Vor-
stellungsform ohnedies gleichberechtigt unter den anderen
bewegt, sie als Dogma anzuerkennen. So wird die
Fiktion einfach Dogma: das Als ob wird zum Weil imd
Daß. Der andere Weg, der ebensooft betreten wird, geht
durch die Hypothese hindurch: jene Vorstellungsform
erhält den niedrigeren Spannungskoeffizienten der Hypo-
these: das Als oh wird zum Wenn.
Nun haben wir also die eine Reihe des Verschie-
bungsgesetzes aufgewiesen: die Fiktion wird zur
Hypothese, die Hypothese zum Dogma; zuweilen,
in nachher noch zu bemerkenden Fällen, wird die Fiktion
sofort Dogma. Das treibende Motiv bei dieser Umwand-
lung und Verschiebung ist die Au sgleichungstendenz
der Seele, welche in voreiliger Ungeduld jener unangeneh-
men Spannungszustände sich entledigen will. Zu be-
merken ist, daß diese Tendenz zur Stabilisierung
der Vorstellungen der natürliche Gang ist. So sehr
nun allerdings auch die Wissenschaft diese Tendenz hat
und haben muß, so ist doch die voreilige Ausführung
dieser Umwandlung die Q uel le vi el er Irrtümer.
Wir schließen hieran, ehe wir Beispiele geben, sogleich
die Darstellung und Begründung des zweiten Pro-
zesses. Ist jener erste Prozeß in seiner Voreiligkeit ein
unwissenschaftlicher Umbildungsprozeß, soist
dieser zweite der wissenschaftliche Rückbil-
dungsprozeß.
In der Psyche der IMenschen ist, wenn die Wissen-
schaft ihre Arbeit beginnt, eine zahllose Menge von
138 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der F4ktioneii.
Dogmen, nicht allein auf religiösem Gebiete, vorhanden.
Diese stellen eine stabile Lage dar und kehren nach
kleinen Erschütterungen stets wieder in ihre Stabilitäts-
lage zurück. Anders, wenn Erfahrung und Nachdenken
jene Dogmen allmählich zweifelhaft machen: nach dem
Gesetz der Beharrung sucht die Psyche die Vorstellungen
indessen noch festzuhalten, und behält sie auch bei, und
wenn es nicht mehr mit stabilem Gleichgewicht geht,
wenn die Position schon zu sehr erschüttert ist, so be-
gnügt sie sich mit dem labilen Gleichgewicht der Hypo-
these. Das Dogma wird Hypothese. Die Vorstellung
ist in ihrem Werte um eine Stelle zurückgeschoben.
Es kommen neue Zweifel, neue Stöße ; auch hier stehen
der Seele nur zwei Wege zu Gebote: entweder die Vor-
stellung wird einfach eliminiert, sie fällt; die Wissen-
schaft hat ihre zerstörende Arbeit beendigt, das falsche
Vorstellungsgebilde wird einfach hinausgeworfen. Aber es
kann die Seele noch einen anderen Weg nehmen: jene
Vorstellung kann für sie einen solchen theoretischen
oder praktischen Wert haben, daß sie dieselbe nicht
gerne verwirft und sogai’ für immer oder auch auf un-
bestimmte Zeit hinaus nicht entbehren kann; dann wird
das Vorstellungsgebilde aus einer Hypothese in eine
Fiktion verwandelt, entweder in eine bleibende, per-
manente oder in eine provisorische, so daß sie also
schließlich dann doch abstirbt, wenn sie eben nicht per-
manent notwendig ist. Nach dem Gesetz der Beharrung
der Vorstellungen wird die Seele letzteren Weg, wenn er
überhaupt möglich ist, dem ersteren vorziehen: einmal
festgewurzelte Vorstellungsgebilde werden lieber noch als
Fiktionen festgehalten, als daß man sie ganz weg wirft.
Dies ist nun unser Gesetz der Ideenverschie-
bung, das aus der Kulturgeschichte und allgemeinen
Wissenschaftsgeschichte die besten Bestätigungen
erhält, wie es zugleich eine Reihe von Erscheinun-
gen erklärt und zusammenfaßt. Schließlich ist zu be-
merken, daß eine Idee beide Prozesse durchlaufen kami,
d. h. zuerst den Umbildungs-, dann den Rückbildungs-
prozeß i).
1) Einen solchen Kreislauf der Vor stellungs wei se kann
man bei vielen Ideen beobachten. Das beste Beispiel ist die Got-
tesidee.
Das Gesetz der Ideenverschiebung.
139
Das Gesetz des „Ideenwandels“, wie man diese
Erscheinung auch heißen kann, konstatiert ^so drei
Epochen, drei Stadien der Lebensgeschichte einer
Vorstellung (natürlich nicht aller Vorstellmigen, sondern
nur eben einer Anzahl): diese drei Stadien sind die fik-
tive, die hypothetische und die dogmatische
Periode einer Idee.
Wie beim Gesetz des Lautwandels aus speziellen Grün-
den bei vielen Wörtern nur die eine oder die andere
dieser Umwandlungen und Rückwandlungen sich geltend
macht, so ist dies auch der Fall bei den Vorstellungen.
Der erste Prozeß, der der Umwandlung von Fiktion
in Hypothese, von Hypothese in Dogma, findet besonders
häufig in der Geschichte statt: so ist allen Historikern
eine Menge von Beispielen bekannt, wo anfängliche be-
wußte Mythen (solche Mythen eben sind psycho-
logisch genau so gebaut wie Fiktionen) sich in histo-
rische Hypothesen verwandelten und dann späterhin zu
historischen Dogmen wurden.
Weitere Beispiele bieten sodann die Mythologie und
mythische Geschichte jedes Volkes: diese Mythen
überspringen dabei häufig das Stadium der Hypothese und
werden sofort zu Dogmen; indessen sind uns diese Mittel-
glieder häufig aber auch verlorengegangen. Alle Mythen
sind fiktive Schöpfungen, Gleichnisse usw.,
welche von den Wissenden nicht selten tatsächlich ur-
sprünglich mitvollem Bewußtsein auf gestellt werden
und aus denen dann Hypothesen oder sogleich Dogmen
werden. In demselben Gebiete haben wir dann auch den
Rückbildungsprozeß sehr deutlich: solche Dogmen
werden anfänglich festgehalten, bis der Zweifel des Kriti-
kers sie in Hypothesen verwandelt; wird der Zweifel so
stark, um die Vorstellung in ihrer Objektivität zu stören,
so wird die Vorstellung verworfen: indessen, wenn solche
Vorstellungen gerade als Stammes sagen, wie z. B. die
Teilsage, wertvoll sind, so behält man sie als Fiktio-
nen, als Symbole bei. Diese Beispiele aus dem Gebiete
der Historik sind indessen nicht die eigentlich instruktiv-
sten, weil hier die betreffenden Vorstellungen doch meistens
sogleich ursprünglich als unbewußt entstandene Mythen
auftreten. Sie dienen aber als Parallelen illustrierend zur
140 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
Veranschaulichung des Gesetzes. Denn faktisch sind bei
dieser Umwandlung eben auch dieselben psychischen
Gesetze wirksam.
Bessere Beispiele bietet die Religio nsphilosophie:
ursprüngliche Mythen, Gleichnisse, ja bewußte Fiktio-
nen von Religionsstiftern werden bei diesen selbst oder
ihren Anhängern, bei dem Volke sofort zu Dogmen, und
sie machen hier selten das Stadium der Hypothese durch.
Dagegen bei der Rückbildung und Zersetzung der Religion
finden sich alle drei Stadien sehr schön ausgeprägt. An-
fänglich ist alle Religion allgemeines Dogma (nachdem
dieses Dogma selbst vielleicht aus einer Plypothese oder
eventuell sogar auch aus einer Fiktion entstanden ist) ; der
Zweifel regt sich, und die Vorstellung wird Hypothese:
der Zweifel wird stärker, und nun wird von einzelnen die
Idee ganz weggeworfen: andere halten die Idee noch auf-
recht als eine öffentliche oder private Fiktion.
Diesen letzteren Zustand repräsentiert jede bis jetzt be-
kannte Religion in einem gewissen Alter; bei der grie-
chischen Religion läßt sich dies sehr gut verfolgen:
die griechischen Volksgötter sind zuerst allgemeine Dog-
men: für Aristoteles und viele andere Philosophen nur
Hypothesen. Fiktionen aber werden sie später für die
gebildete Masse, welche am Gottesdienst oder vielmehr
Götterdienst festhält trotz der Überzeugung, daß den Ideen
nichts Reales entspricht, und wohl auch für einige Philo-
sophen, deren widersprechende Äußerungen über die Götter
nur so erklärt werden können. Genau dasselbe fand beim
Christentum statt: die ursprünglichen Dogmen des
Christentums werden bei den Philosophen des 17. imd
18. Jahrhunderts Hypothesen. Was sind sie aber bei
Kant und Schleier mach er? Nur Fiktionen!
iVber auch das eigenste Gebiet der Philosophie und
Wissenschaft zeigt diese allmählichen Übergänge so-
wohl bei einzelnen Individuen als in ganzen Zeiträumen.
So z. B. sind die Platonischen Mythen (von der
Seelenwanderung usw.) ursprünglich Fiktionen, die aber
schon in der Seele des Urhebers selbst aus dem fxvd^og ziun
Xöyog, d. h. zur Hypothese werden, vermöge der Wir-
kung der Ausgleichung psychischer Spaimungen: und bei
seinen Anhängern sind sie richtige Dogmen, z. B.
Das Gesetz der Ideeiiverschiebiing.
Ul
bei den Neiiplatonikern. Später gelten sie wieder als Hy-
pothesen, und für den heutigen Platokenner sind sie
reine Fiktionen, mythische Vorstellungsformen.
Auch die Platonischen Ideen galten für Plato selbst
wohl nur zuerst als Fiktionen; doch macht er sie seihst
noch zuHypothesen, und dann waren sie Jahrhunderte
lang Dogmen: später wieder Hypothesen; mit Recht
macht Dühring darauf aufmerksam, daß sie ursprüng-
lich wohl nur Fiktionen gewesen seien.
Als speziellen Fall fanden wir hei den heuristischen
Fiktionen, wie frühere Dogmen zu Hypothesen,
frühere Hypothesen zu Fiktionen werden; so gings
mit der Teleologie, so mit dem Ptolemäischen
System. Andererseits ist es nicht immer historisch zu er-
mitteln, oh nicht solche Dogmen ursprünglich überhaupt
nur fiktiv gemeint waren.
Linne und Smith hatten, jener sein holanisches
System, dieser sein soziologisches System nur als künst-
liche Systeme aufgebaut : ihre Anhänger machten dar-
aus Hypothesen oder faßten jene Systeme als Hypo-
thesen auf (weil zur Erfassung einer Idee als fiktiv
schon ein hochgebildeter Geist gehört), und flugs wurden
diese Hypothesen selbst zu Dogmen; später betrachtete
man das Smithsche System als Hypothese, und jetzt seit
Buckles überzeugendem Nachweis betrachtet man es
fast allgemein als ein künstliches, auf eine Fiktion
auf gebautes System. Aber früher galt die Idee so sehr als
Hypothese resp. als Dogma, daß man dann nicht bloß
glaubte, iimner egoistisch zu handeln, sondern auch fak-
tisch so handeln zu müssen.
Natürlich ist dies nun noch weit mehr der Fall I)ei
jenen Fiktionen, welche die Psyche u n b e w u ß t bildet,
und die dann als fertige Dogmen vor die Seele treten und
im Bewußtsein als solche gelten: so die ganze Kate-
gorieneinteilung. Diese, ursprünglich Dogma, wird
dann Hypothese, und seit Hume und Kant steht ihre
Fiktivität fest, wie sie denn auch ursprünglich bloße
Fiktionen sind. So wird eine Reihe ursprünglich rein
fiktiver Gebilde im Laufe der Zeit hypothetisch, spe-
ziell jene Ideale und jene fiktiven Urformen: so
142 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
fingiert man z. B. einen ursprünglichen Idealstaat —
flugs wird daraus ein historischer.
Am deutlichsten ist dies bei den tropischen und ana-
logischen Fiktionen: die fiktive Analogie des Staats
mit einem Vertrag wird zur Annahme eines histori-
schen Staalsvertrages, historischer Urrechte : kurz, aus den
theoretischen Begründungen wird sofoii die Annahme
historischer Vorfälle; später macht man aus diesen
Hypothesen dann immer wieder Fiktionen.
So werden aus den Dif f erenti alen und Fluxi onen
noch bei Newton und Leibniz selbst hypothetische
Wesen, später Dogmen; dann findet wieder eine Rück-
bildung statt.
So wird aus Kants fiktiver Annahme der intelligib-
len Freiheit noch in der Kritik selbst eine Hypo-
these, und für Schopenhauer ist die Hypothese schon
ein Dogma.
So oder ähnlich steht es mit dem Atom, dem Unend-
lich k 1 e i n e n und Unendlichgroßen (einer unberech-
tigten Verallgemeinerung) und schließlich auch mit dem
Ab s oluten.
Allmählich aber werden die Fiktionen, welche Dogmen
geworden waren, als Fiktionen wiedererkannt, und der
Prozeß der Ideenverschiebung hat sein Ende gefunden.
Mehrere dieser Fiktionen bleiben aber doch unsterblich;
diejenigen, welche das diskursive Denken selbst
ermöglichen, die Kategorien und xlllgemein-
begriffe: aber sie bleiben es nur als Fiktionen, mit
dem Bewußtsein, daß es Fiktionen sind.
Insofern ist ein Fortschritt nicht nur des logischen
Gewissens in der Menschheit zu beobachten, als die
Widersprüche in den Fiktionen bemerkt werden, sondern
auch der logischen Fähigkeit: denn zur Festhaltung
einer Fiktion als Fiktion gehört schon ein logisch hoch-
gebildeter Geist, der dem Drange nach Ausgleichung nicht
voreilig nachgibt, die Mittel und Zwecke strenge schei-
det. Zur Festhaltung des rein kritischen Standpunktes,
wie ihn Hume und Kant veidreten, gehört eine große
geistige Energie. Alle nachherigen Versuche nach
Die Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit.
148
Kant sind nichts als Versuche, diesen unangenehmen
Spannungszustand, der aber das geistige Einschlafen
\rerhindert, auszugleichen, und zwar höchst voreilige.
Kapitel XXXIIL
Die Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit/)
Wir gehen nunmehr zur Feststellung des Gebrauches
der wissenschaftlichen Fiktion in der neueren Zeit über.
Bis jetzt fanden wir als einzig wirklich wissenschaft-
liche Fiktion nur die juridische, allein hier ist doch zu be-
merken, daß die Rechtswissenschaft nicht eine eigentliche
Wissenschaft des Seienden ist, sondern eine Wissen-
schaft menschlicher, wdllkürlicher Einrichtungen; auch
wurde die Fiktion mehr in der Rechtspraxis ange-
wandt; dagegen fand sie noch nicht jene weite Aus-
dehnung wie im modernen Rechte, wo sie insbesondere
zur Begründung des Staatsrechtes angewandt wor-
den ist, und wo außerdem noch die Fiktion juridi-
scherPersönlichkeiten so ungemein ausgedehnt wor-
den ist, sogar bis auf den Staat selbst, insofern auch
dieser als eine juridische Person betrachtet wird. So-
wohl in der engeren Rechtspraxis als in der Rechts -
theorie ist die Fiktion in neuerer Zeit viel reicher ange-
wandt “worden als im Altertum. Besonders in England
hat die Fiktion vielen Gebrauch und Mißbrauch ge-
funden. Sie dient zur Subsumtion eines Falles unter eine
allgemeine Regel, wenn dieser einzelne Fall dadurch eine
juridische Behandlung erfahren soll: so wird z. B. fin-
giert, daß der Ehemann Vater eines Kindes sei, falls er
zur Zeit der Konzeption im Lande war, d. h. da nicht
jeder einzelne Fall untersucht werden kann, so wird im
allgemeinen angenommen, daß jeder Ehegatte als Vater
des Kindes zu betrachten sei, wenn er zur Zeit der Kon-
zeption im Lande war; dieses Beispiel wird von Leibniz
in den „Nouveaux Essays“ angeführt; indessen ist
h Kapitel XXViU— XXXIII, welche die Anwendung der Fiktion und
Theorie im Altertum und im Mittelalter behandeln, sind ausgefallen.
(D. Hrsg.)
11‘4 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B. Theorie der Fiktionen.
dies zimäclist keine eigentliche Fiktion, sondern nur
eine präsumtio. Es ist nur dann eine Fiktion iin juri-
stischen Sinn vorhanden, wenn ein Ehegatte, dessen Ehe-
frau etwa Ehebruch begeht, doch als Vater des dadurch
erzeugten Kindes angesehen wird, wenn er zu derselben
Zeit im Lande war: da wird er betrachtet, als ob er der
Vater Aväre, obgleich er es nicht ist, und ob-
gleich man weiß, daß er es nicht ist; dieser
letztere Zusatz imterscheidet die fictio von der praesumtio ;
denn in der praesumtio wird eine Voraussetzung so lange
gemacht, bis das Gegenteil bewiesen ist; dagegen
ist die fictio die Annahme eines Satzes resp. einer Tat-
sache, obwohl das Gegenteil sicher ist. Ein Bei-
spiel einer eigentlichen Fiktion ist ferner das, daß in
England (im XVIIL Jahrhundert) jedes Vergehen betrach-
tet werden konnte, als ob es gegen den König per-
sönlichbegangenwordenwäre; jedem Kläger stand
das Recht offen, seine Klage unter dieser Fiktion anzu-
streben: der praktische Wert wai’, daß eine Verhand-
lung nach dieser Fiktionn viel strenger war, als nach dem
gewöhnlichen Rechte, insofern eine solche Klage mit
dieser Fiktion vor einen besonderen Gerichtshof
kam. Hier ist das „als ob“ in seiner vollen Wirksamkeit.
Auch im Code Napoleon sind eine Reihe legaler Fik-
tionen gestattet; z. B. wird das Meublement einer Frau als
immobiles Gut fingiert; es gibt fingiertes Eigentum
nsw., ebenso kann in gewissen Fällen ein „enfant concu“
als „ne“ fingiert werden, wenn daran juridisch wich-
tige Folgen sich knüpfen.
Die Anwendung der Fiktion in der Rechtspraxis kami
sowohl zum Nutzen und Wohle, als auch zur här-
testen Ungerechtigkeit führen: so wurden z. B. alle
Frauen so behandelt, als ob sie unmündig wären.
ln der Rechtstheorie fand die Fiktion besonders Ver-
wertung bei der Theorie des Vertrags, insofern der
Staat als ein Vertragsprodukt aufgefaßt wird, und inso-
fern er als eine juridische Person betrachtet wird.
Diese schon im Altertum bekannte Fiktion fand in der
Neuzeit eine reichere Anwendung.
Eine beliebte Fiktionsmethode war die ideale Fiktion
oder die utopische; noch im XIX. Jalirhundert haben
Die Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit.
145
die französischen Sozialisten, z. B. Fourier sich
dieser fiktiven Methode bedient, um ihre Ideen zu ver-
breiten, indem sie Städte oder Staaten schilderten, als oh
in diesen die von ihnen vertretenen Ideen realisiert wären.
Biese Methode artet leicht ins Phantastische aus und
bildet den Übergang von wissenschaftlicher Behandlung in
reine Poesie. Indessen darf doch diese ganze Gattung der
wissenschaftlichen Produktion in imserer Aufzählung nicht
vergessen werden, obgleich sie weder sehr wertvoll ist, noch
auch der Theorie irgendwie Schwierigkeiten darbietet.
Mit dem Wachstum der Wissenschaft findet die Fiktion
allmählich eine viel weitere Ausdehnung.
Das erste Hauptgebiet, auf welchem die Fiktion wirk-
lich Großes leistet, ist die Mathematik. Die moderne
Al a t h e m a t i k zeichnet sich gerade durch die Freiheit
aus, mit welcher sie solche fiktiven Vorstellungsbildungen
formiert. Ein genaues Verfolgen der Entwicklung der Alathe-
matik zeigt eine Alenge solcher Fiktionen. Weniger meinen
wir damit also solche Substitutionen, wie die Anwendung
der Buchstabenrechnung statt der Ziffernrechnung,
indessen ist schon diese einfache Alethode doch auch
strenggenommen nur eine Fiktion; durch die Fiktion,
a, b, c, X, y seien Zahlen, indem sie behandelt werden,
als ob sie Zahlen wären, wird doch ungeheuer viel er-
reicht: eine Verallgemeinerung der Resultate, eine Er-
leichterung der Rechnung. Indessen nennt man dies meist
eine Anwendung von Symbolen: nichlsdestoweniger ist
streng logisch genommen hier eine substitutive Fik-
tion vorhanden. Und auch das Denken selbst im allgemei-
nen, wenn es mit Wo r t e n rechnet, statt mit Anschau-
ungen, bedient sich solcher Symbole.
Allein auch abgesehen von dieser Amvendurig wird die
Fiktion in der neueren Alathematik immer reicher verwertet.
Am berühmtesten und fruchtbarsten war ihre Anwendung
durch Cartesius, Leibniz, Newton zur Berech-
nung der Kurven. Dies möchten wir das eigentlich
klassische Beispiel nennen. Durch die Fiktion der Ko-
ordinaten, dieser Hilfslinien (alle Hilfslinien sind solche
fiktiven Alethoden) und durch die Fiktion der Differentiale
oder FInxionen wurde eine Berechnung der Kurven
möglich.
Vaihinger, Philosophie.
10
1 i6 Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B Theorie der Fiktionen.
Fast alle von uns angeführten mathematischen Metho-
den haben erst in der Neuzeit ihre Ausbildung er-
halten: es sind lauter Hilfsmethoden, welche zur
Verallgemeinerung der Resultate und zur Lösung schwie-
riger Aufgaben dienen. Die Methode der unberech-
tigten Übertragung, die Methode der Nullfälle,
der abstrakten Verallgemeinerung usw. sind mo-
derne mathematische Kunstgriffe. Unter diesen Namen
waren sie allgemein bekannt: große Mathematiker zeich-
nen sich immer durch Erfindung von Kunstgriffen
aus, imd diese Kunstgriffe beruhen wesentlich immer auf
Fiktionen. Schon die Ziehung der Hilfslinien ist ein
solcher Kunstgriff. Schopenhauer hat darauf aufmerk-
sam gemacht, daß durch solche Kunstgriffe kein eigent-
liches Begreifen erzeugt werde: die Kunstgriffe sollen
dies auch gar nicht leisten, sie dienen nur zu prak-
tischen Zwecken.
Auf solchen Kunstgriffen und Fiktionen beruhen nun die
Begriffe des Unendlich-Großen, die negativen,
gebrochenen, imaginären und irrationalen Zah-
len; welche alle zur Erleichterung der Rechnung diene^i,
aber streng genommen logisch widerspruchsvoll
sind.
Die Anwendung von Kunstgriffen, denen die mo-
derne JMathematik ihre Ausbildung verdankt, hat sich
bis in die neueste Zeit fortgesetzt, und jede eigentlich neue
Entdeckung der Mathematik beruht auf einem solchen
Kunstgriff. Den Kunstgriff der abstrakten Verall-
gemeinerung hat man auf den Raum jetzt angewandt
und Räume. von mehr als drei Dimensionen fingiert.
Die Methode der Determinanten beruht auf einem
solchen Kunstgriff.
Besonders interessant sind die Fiktionen der Linien-,
Flächen- und Körpereleinente, um den Gebrauch der
Maßzahlen zu begründen. Besonders Mertschinsky
hat die Fiktion der Minima von konstanter Größe
angewandt zu dem genannten Zwecke. Diese Fiktion
wurde schon von Giordano Bruno in seinen Schriften :
de triplici minimo et mensura ; de monade, numero et figura
angewandt; indessen schwankt Bruno noch, ob er die
Minima als Fiktionen oder als H y p o t h e s e n behandeln
Die Anwendung der Fiktion in der neueien Zeit.
147
Sülle. Dasselbe Schwanken setzt sich bei Leibniz fort,
der zwar einerseits erklärt, die Minima infinite parva seien
nur ein niodas dicendi, dann aber doch der Monadologie
zu liehe wieder zur Annahme der Hypothese hinneigt.
Oh Leibniz durch Bruno auf seine Idee gekommen sei,
diese Frage ist noch nicht gelöst. Unwahrscheinlich ist
es nicht. Indessen ist das Prinzip der Anwendung bei
Bruno ein anderes, als bei Leibniz: jener gebraucht
die Minima zur Begründung des Messens, dieser
zur Berechnung der Kurven.
Weitere mathematische Fiktionen beziehen sich beson-
ders auf d,as Unendliche : so unendlich ferne Punkte,
unendliche Strecken, Grenzen unendlicher
Flächen, Zusammentreffen in unendlicher
Ferne usw.
In der modernen Mathematik ist die Anwendung solcher
fiktiven Begriffe allgemein gebräuchlich, ohne daß Mathe-
matiker oder Philosophen Ms jetzt eine Methodologie
solcher Kunstgriffe gegeben hätten; und doch müßte eine
Methodologie solcher Kunstgriffe ein ungemein erhellendes
Licht auch über die Anwendung des Unendlichen und
Absoluten in philosophischer Hinsicht werfen. Diese
Fiktionen sind, allgemein gesprochen — methodische
Hilfsmittel zur Gewinnung von Resultaten; die
auf andere Weise gar nicht, oder nur mit großen
Schwierigkeiten zu erlangen wären.
Eine weitere reiche Anwendung findet die Fiktion in der
Mechanik und außerdem in der theoretischen
Physik und auch sogar in der Chemi e, Wissenschaften,
welche erst in der modernen Zeit zur Ausbildung gekom-
men sind.
Weitere, immer mehr sich häufende Anwendungen der
Fiktion in der modernen Zeit sind schon in der Aufzählung
der Fiktionen besprochen: dort ergab sich, daß in der Neu-
zeit eine Reihe von Wissenschaften die wissenschaftliche
Fiktion mit Erfolg angewandt haben in den allerverschie-
densten Formen. Häufig war die Einsicht in das eigent-
liche Wesen dieser Kunstgriffe vorhanden; nicht selten
wurden sie angewandt rein instinktiv, ohne irgend-
eine methodologische Besinnung. Darum entstand auch
eine Reihe berühmter Kontroversen, welche sich
148 Erster Teil; Prinzipielle Griiii(llegmig. B. Theorie der Fiktionen.
darauf bezogen, ob gewisse Begriffe zulässig seien oder
nicht. Das Nähere hierüber ist ziirn Teil schon früher
bemerkt worden.
Die Fiktion kann auch in der Philosophie zwar wohl
eine Anwendung finden, allein wenn irgendwo, so ist hier
Vorsicht geboten: sie kann niemals zur Erklärung
dienen, nur zur Erleichterung des Denkens, sowie zu
praktisch-ethischen Zwecken.
Maimon hat die Ansicht auf gestellt, Leibnizens
Monadologie und prästabilierte Harmonie seien nur Fik-
tionen gewesen; dieser Ansicht vermögen wir nicht bei-
zutreten, da Leibniz selbst seine Lehren anders ver-
standen haben wollte; sollten sie aber Fiktionen ge-
wesen sein, so wären sie sehr unbrauchbare Ge-
bilde gewesen. Eine andere Frage ist, ob Leibniz sie
selbst so verstanden haben wollte, und eine andere, wie
wir solche Gebilde verwerten sollen. Ohne Zweifel ver-
stand Leibniz seine Lehren als Hypothesen, nicht als
Fiktionen: ob sie sich, nachdem sie als Hypothesen ge-
fallen sind, noch als Fiktionen verwerten lassen — wie
Avir das in anderen Fällen sahen — , ist zav eifelhaft. Eher
ist dasselbe der Fall bei der Parallelismustheori e
Spinozas; diese ist für uns nur eine Fiktion, aber eine
Fiktion von ungeheurem, Avissenschaftlichen, heuristi-
schem Werte. Dagegen metaphysisch kann das Verhält-
nis des Physischen und Psychischen wohl kaum ein
solches sein, Avie es Spinoza und der moderne Spinozis-
mus annehmen.
Es müßte Gegenstand einer besonderen Untersuchung
sein, ob Avirklich Kants Fiktion eines Dinges an sich
für uns noch Avertvoll sei? Aber streng muß hierbei
unterschieden Averden zwischen der Kantischen Ein-
sich.t^, daß das Ding an sich eine Fiktion sei, und
zAvischen der Anwendung und VerAvertung eben
derselben Fiktion durch Kant selbst. Er selbst ge-
braucht diese Fiktion zu seinen Avissenschaftlichen
Zwecken, und unter der Hand verwandelt sie sich ihm in
eine Hypothese.
Es ist also zu unterscheiden, daß Kant die bisherige
Anwendung des Dinges an sich, Avie sie bis auf
ihn stattfand, als auf einer Fiktion beruhend erkannte.
Die Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit.
149
und daß er selbst eben dieselbe Fiktion machte.
Was Kant bei anderen einsah, sah er bei sich selbst nicht
klar, daß auch sein Ding an sich eine Fiktion sei.
Durch diesen Irrtum wurde er verhindert, die wirk-
liche Empfindung als das Einzig-Reale zu erkennen,
und zu finden, daß alle reale Erkenntnis nur aus Beob-
achtung und Empfindungssukzessionen stammt.
Kant hat die vorläufig und stillschweigend ge-
machte Voraussetzung, daß es Iche und Dinge an sich
gebe, als Gerüste stehen lassen. Hätte er das Gerüste
nachher abgebrochen, hätte er, wie das Ich, so auch das
Ding an sich wieder fallen lassen, so wäre ihm die
Empfindung als das einzig Reale übrig geblieben.
Wenn also Jacob i sagt, „daß ohne die Voraussetzung
von Gegenständen als Dingen an sich und Vors tellungs ver-
mögen, auf welche sie wirken, nicht in das Kantische
System hineinzukommen ist, daß aber platterdings darin
nicht m i t i h n e n z u bleiben sei“ ~ daß also der Anfang
und der Fortgang der Kritik einander „vernichten“ — , so
hatte er ganz recht. Kant hätte einfach, nachdem er in
der Kritik selbst ausgesprochen und gefunden, daß Dinge
an sich bloße Fiktionen seien, offen anerkennen
sollen, daß seine eigene Voraussetzung solcher ein bloßer
vorläufiger Rechnungsansatz war, um sein Re-
sultat zu erreichen: nämlich, daß es bloße Erfah-
rungserkenntnis gäbe; dann wären die Empfindmi-
gen als einzig Reales stehen geblieben, wie dies bei
Maimon der Fall ist. Kant ließ aber seinen Rech-
nungsansatz stehen: sobald man aber Fiktionen nicht
aus fallen läßt, führen sie auf Widersprüche.
Somit hat Kant eine wichtige Doppelbedeutung für unser
Thema :
I. Er hat entdeckt, daß die Kategorien Fiktionen
seien: dabei ist jedoch zu bemerken, daß er diese Ent-
deckung insofern verdunkelte, als er den Rechnurigsansatz
des Ich stehen ließ und sie diesem als eingeborene
Formen zuschob, statt daß er das Ich wegnahm; dieser
Punkt ist ungemein wichtig. Mit Hilfe des Rechnungs-
ansatzes Ich und Ding an sich entdeckt Kant die
Tatsache, daß die Kategorien nur subjektiv seien; aber
weil er das Ich stehen läßt, werden die Kategorien zu
150 Erster Teil: Prinzipielle Grunrlleguiij'. B. Theorie der Fiktionen.
angeborenen Formen, und weil er das Ding an
sich stehen läßt, verkennt er die Wirklichkeit der
Empfindungswelt.
II. Er hat die Methode der Fiktionen selbs t an-
gewendet; viele seiner Begriffe sind künstlich; er hat
die künstliche Klassifikation angewandt, die Methode der
abstrakten Verallgemeinerung, den künstlichen Rechnungs-
ansatz (Einführung fiktiver Begriffe) - - freilich aber war
sich Kant seines Tuns selbst nicht durchaus klar.
Kant hat eine Reihe von Kunstgriffen gebraucht,
welche sich ihm und vielen seiner Anhänger in Hypo-
thesen verwandelten. Dies ist ja eine in der Wissenschaft
häufig wiederkehrende Erscheinung, daß ein Denker sich
über seine Entdeckungen und Methoden nicht selbst durch-
aus klar ist.
Also Kants Methode ist eine ungemein scharfsinnige
und verhält sich zu der Methode anderer, welche das-
selbe Resultat gefunden haben, eben wie das Verfahren ;
eines modernen Mathematikers zur antiken mathemati- ;
sehen Methode, z. B. bei der Berechnung des Kreis- 1
Umfanges. j
Dieser Tatbestand wird aber verdunkelt durch Kants '
reaktionäre Tendenzen. Dahin gehören die Recht- j
fertigung des Rationalismus, sowie die Rettung j
gewisser Dogmen. Aber die eigentlich Wissenschaft- j
liehen Zwecke Kants waren: Begrenzung des Denkens ]
auf Erfahrung, Nachweis der Vorstellungs- und Begriffs- j
formen als bloß subjektiver Werte, sowie Nachweis, daß
nur das unmittelbare Erfahrene wirklich sei.
Die Bekämpfer Kants haben seine schwachen Punkte
vielfach richtig erkannt: er ließ den Rechnungs-
ansatz stehen; dies ist ein Flauptfehler, der auch in
der Mathematik zu Widersprüchen führt.
Ein Rechnungsansatz des Denkens, der nachherwieder
aufgehoben wird, ist dagegen ein ganz erlaubter Kunst-
griff. Ohne einen solchen künstlichen Rechnungsansatz
können Avir gar keine Philosophie treiben : so geht man in
allem Denken notwendigerweise aus von dem Schein
des Gegensatzes der Dinge und des Ich, um diesen
Rechnungsansatz dann selbst v/ieder aufzuheben.
Der V ergleich des Denkens mit dem Rechnen ist noch
Die Anwendung der Fiktion in der neueren Zeit.
161
vielmehr berechtigt und richtig, als man bisher glaubte.
Eine genaue Kenntnis der wunderbaren Methoden der Ma-
thematik läßt erst erkennen, daß das Denken dieselben
Methoden auch sonst anwendet.
Dasselbe ist in seiner praktischen Philosophie
der Fall. Erstens weist er nach, daß die Ideen der prak-
tischen Philosophie nur Fiktionen seien; er ver-
wendet sie selbst bewußt in diesem Sinne, bis sie sich
ihm doch wieder in Hypothesen verwandeln.
Natürlich kann man von den Anhängern nicht mehr
verlangen, als vom Meister. Seine Nachfolger machen
dieselben Fehler, nur viel gröber, als Kant selbst, sowohl
in der theoretischen Philosophie als in der prakti-
schen. In der theoretischen Philosophie hat nur
Maimon, in der praktischen Philosophie nur
Schleier macher das Richtige aimähernd erkannt.
An dem Schicksale der von Kant aufgestellten Begriffe
bei seinen Nachfolgern kann man das Gesetz derldeen-
verschiebung sehr klar demonstrieren. Der fiktive
Rechnungsansatz wird immer mehr zur (falschen) Hypo-
these. Die Festhaltung des reinen Resultates ist eben
sehr schwierig : denn der Mensch hat einen Hang zum
Dogmatismus. Das Studium Humes und Comtes hat
die Irrtümer Kants und seiner Epigonen wieder berichtigt.
Die Fiktion wurde erst vom XVH. bis zum XIX. Jahr-
hundert in allen Wissenschaften immer mehr angewandt,
insbesondere in den mathematischen, physikali-
schen, in den soziologischen und in der Philo-
sophie. Es entwickelten sich in diesen Gebieten auch
die verschiedenen Formen und Methoden der Fiktion in
großer Mannigfaltigkeit. Allmählich treten immer mehr
große und bedeutende Fiktionen auf, freilich auch hin
und wieder Mißanwendungen der ohnehin schon so leicht
mißverständlichen Methoden.
Wir weisen hierbei besonders hin auf die allmäh-
liche Entwicklung der Fiktion und auf die stetige
Ausdehnung sowohl ihres Anwendungsbezirkes als
ihrer Mannigfaltigkeit. Schon mit dem XVI. Jahrhundert
beginnt dieser Prozeß, der im XVH. auf seinen Höhepunkt
gestiegen ist. Im XVHI. Jahrhundert beginnt sich schon
die logische Theorie zu regen, aber sehr schwach. Im
152 Erster Teil: Prinzipielle (irundlegung. B. Theorie der Fiklionen.
XIX. Jahrhundert steigert sich die AMweiidung besuii-
ders in der Mathematik und Physik immer mehr,
ebenso in der Nationalökonomie. Hypothesen,
welche als falsch erkannt worden sind, werden noch! in
Menge als heuristische Fiktionen beibehalten. Die
heutigen Lehrbücher und Abhandlungen über höhere
Mathematik, mathematische Physik und über
Soziologie zeigen viele gute Fiktionen.
Die Theorie der Fiktion in der Neuzeit.
Kapitel XXXIV.
Leibniz versucht in den Nouveaux Essais die juri-
stische Fiktion methodologisch zu erklären. Die Logique
von Port Royal gibt keine Methodologie oder Theorieder
Fiktion. Dagegen ist die Theorie der Abstraktion,
welche in derselben enthalten ist, von Wert für einen Teil
der Fiktionen. Hobbes hat den Vergleich des Denkens
mit dem Rechnen eingeführt. Die Fiktion behandelt er
nicht.
Condillacs Logique ist insofern sehr wertvoll, als sie
die Methode der entgegengesetzten Operatio-
nen betont (Analyse und Synthese).
Wolff ist der erste Logiker, welcher die Fiktion be-
handelte, und zwar recht einsichtsvoll, wie überhaupt Wolff
unverdient geringschätzig behandelt worden ist. Zeller
hat ihn neuerdings Avieder zu Ehren gebracht. Wolff ist
zu einer solchen Methodologie befähigt, nicht bloß als
Schüler Leibnizens, sondern als selbständiger Mathe-
matiker.
Er hat sowohl die mathematischen Fiktionen gewürdigt
und in einer, freilich für die Jetztzeit ungenügenden Weise
behandelt, als auch in seiner Metaphysik geAvisse fiktive
Begriffe und Operationen berücksichtigt : so Ontologie,
§ 404 über die Fiktion sei ein Bruch, § 77 über die
Fiktion des „Schlaraffenlandes“, § 797 über die Fiktion
der Infinitesimale (non sunt verae quantitates, sed salteni
imaginariae)^ ebenso § 804.
Die Theorie der Fiktion in der Neuzeit.
153
In den Elementa Matheseos universae (Halae 1741) be-
spricht Wolff mit ungemeinem Scharfblick eine Reihe
mathematischer Fiktionen. Zugleich stellt er diese mit
den juristischen in Parallele. Mit Vorliebe bespricht er die
arteficia analytica.
Demnach ist Wolff der erste Logiker, welcher diese
Fiktionen behandelt hat.
Am meisten Aufmerksamkeit hat Maimon in allen
seinen Schriften der Fiktion geschenkt, sowohl in rein
methodologischem Interesse als in erkenntnistheoretischem.
Beinahe in jeder seiner nunmehr fast gänzlich ver-
gessenen Schriften hat er diesen Punkt betont; und selbst
wo seine Schriften gekannt werden, da ist gerade dieser
Punkt ganz übergangen. Die Darstellung von der Lehre
Maimons durch Erdmann und Fischer, und später durch
Witte haben diesen Punkt mit Stillschweigen übergangen^).
Und doch ist es das einzige, was Maimon eigentlich ge-
leistet hat; der Punkt hängt zusammen mit seiner Ansicht
über das Ding an sich.
Unter den späteren Logikern hat diesen Punkt rein
methodologisch besonders Herbart ausgeführt in dem
Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie bes. § 152, wo
die zufälligen Ansichten sowie die Hilfsbegriffe
des Raumes, sowie verschiedener mathematischer Me-
thoden aufgezählt werden. Auch die Theorie der Fik-
tion ist von Herbart an der genannten Stelle sehr klar
ausgesprochen, und er bemerkt sehr richtig, daß das Den-
ken gewisse Durchgangspunkte haben müsse, „daß es
seinen eigenen Weg verfolge, um in den erkennbaren
Hauptpunkten mit der Natur der Dinge wieder zusammen-
zutreffen“.
In dem naturphilosophischen Teile derselben Schrift
wird die mathematische und physikalische Fiktion noch
mehrfach besprochen, so bes. § 160 die Fiktion der Teil-
barkeit des mathematischen Punktes, sowie die Fiktion
der Betrachtung desselben als einer Größe; ebenso § 161.
Aber am allerwichtigsten ist der § 162 (Hartenstein I,
319), wo zum erstenmal in der Philosophie deutlich, klar
und rund der Unterschied der Fiktion mid der
Dies hat jetzt (1912) F. Knntze in seinem großen Maimomcerh
nach geholt.
I5i' Erster Teil: Prinzipielle Grundlegung. B, Theurie der Fiktionen.
Hypothese entwickelt wird. „Fiktionen, wie die des
Schwerpunktes sind höchst nützlich und täuschen nie-
manden.“
L otze, der sich vielfach an Herbart anschließt, ist der
einzige der neueren Logiker, der die Fiktion in den Kreis
der logischen Diskussion hereingezogen hat.
Unter den neueren Logikern hat noch Bain in seiner
zweibändigen Logik die Fiktion zum Gegenstand der
Untersuchung gemacht, aber in dürftiger und unvollkom-
mener Weise. Und doch hätte Bain, der die Idee einer
Methodologie aller Wissenschaften mit seltener Klarheit
erfaßt hat, die Notwendigkeit fühlen sollen, aus allen
Wissenschaften hierfür Material zu sammeln.
Endlich haben wir mit wenigen Worten noch die all-
mähliche Anwendung des Begriffes der Fiktion auf die
Erkenntnistheorie zu erwähnen.
Locke steht hier voran, der eine Reihe von Vorstellun-
gen für subjektiv erklärte; dagegen zu der positiven
Ansicht derselben als nützlicher Fiktionen ist er
so wenig durchdrungen als Hume, bei dem der Ausdruck
„fiction of thought" sehr oft wiederkehrt. Auch Hume
weiß nur negativ nachzuweisen, daß die Kategorien sub-
jektive Einbildungen seien.
Kant machte den Anlauf, den Nutzen dieser sub-
jektiven Vorstellungen nachzuweisen und dieselben da-
durch zu wirklich logischen Fiktionen in unserem Sinne zu
erheben; allein sein System mißlang, weil falsche Ten-
denzen und Vorurteile ihn hemmten. Nichtsdestoweniger
ist dies der eigentliche und wahre Schritt Kants über
Hume hinaus, daß er nicht nur nachwies, dah die Kate-
gorien nicht bloß durch Gewohnheit entstehen, sondern
aus der Seele selbst hinzugebracht werden — wobei er
freilich einem falschen Apriorismus huldigt — , son-
dern daß er auch versuchte, den wirklichen Nutzen
dieser subjektiven Vorstellungen nachzuweisen.
Kant wollte den subjektiven Vorstellungen einen Er-
kenntniswert, einen Dienst zuschreiben, im Gegensatz zu
Hume, der sie einseitig negativ als Erdichtungen be-
trachtet hatte, dadurch, daß er zeigte, wie durch diese
subjektiven Vorstellungen erst die objektive Welt für
uns entstehe.
Das erkenntnistheoretische Griindprobleni.
155
Aber Kant geriet in eine ganz falsche Position hinein,
weil er die subjektiven Vorstellungsformen bald für Fik-
tionen ansah, bald für Hypothesen, bald für ein unglück-
liches Zwitterding beider.
Der Positivismus der Neuzeit ist auf dem Wege und
hat es schon teilweise ausgesprochen, daß für ihn alle
Kategorien nur Symbole und Fiktionen seien, daß „das
diskursive Denken“, wie Maimon sagt, „eine Fiktion
sei“.
Um aber zu wissen, was man damit sagt : es ist etwas
eine Fiktion, dazu muß erst ausführlich die Logik in der
Methodologie nachweisen, welche Merkmale eine Fiktion
habe, welchen Dienst sie leiste und wo sie anwendbar
sei : dann wird die Anwendung der logischen Unterschei-
dung von Fiktion und Hypothese auf die Erkenntnis-
theorie fruchtbar sein.
G. Erkenntnistheoretische Konsequenzen.
Kapitel XXXV.
Das erkenntnistheoretische Grundproblem.
Aus dem Chaos der Empfindungen tritt die geschiedene
Anschauung hervor; in jenem Chaos ist noch keine
Vorstellung von einem besonderen Dinge, denn die
große, unklare Nebelmasse der Empfindungen kommt erst
allmählich in eine rotierende Bewegung, und es ballen
sich die einzelnen zusammengehörigen Stücke erst all-
mählich zu Wahrnehmungsdingen, zu Anschauungen des
Einzelnen zusammen. Die Anschauung ist schon ein
durch die psychische Attraktion der Elemente zustande
gekommener Verband von Empfindungserkenntnissen. Die
Formen, in denen dieser Verband sich vollzieht, sind
schon die Verhältnisse des Ganzen und seiner Teile,
des Dinges und seiner Eigenschaften. Hier setzt
also schon die logische Funktion ein.
Ehe wir nun weitergehen, haben wir hier eine Be-
merkung zu machen, welche für unsere weitere Unter-
suchung entscheidend ist. Wenn die Psyche das ihr dar-
gebotene Material der Empfindungen, also die ihr einzig
156 Erster Teil: Prinzip. Gruiidleg. C. Erkenntnistheoret. Konsequenzen,
und allein gegebene Grundlage mit Hilfe der logischen
Formen verarbeitet, wenn sie das Empfundene sichtet
und von dem gegebenen Empfindungsmaterial gemäß
jenen logischen Funktionen geradezu Teile wegschneidet 1
und andererseits zu dem unmittelbar Gegebenen sub- j
jektive Zusätze beimischt -- und eben in diesen Opera- j
tionen besteht der Erkennbiisprozeß — , so entfernt sie j
sich von der ihr gegebenen Wirklichkeit. Es lie^t ja auch \
schon in dem Begriff der Bearbeitung, der Weiterbildung ^
des Gegebenen, daß hier das Gegebene verändert, daß |
die unmittelbare Wirklichkeit alteriert wird. i
Die Empfindungen gehen innerhalb der Psyche rein sub- ^
jektive Prozesse ein, denen in der Wirklichkeit — sie mag ;
nun gedacht werden wie sie will — nach unserer moder-
nen Anschauung nichts entsprechen kann.
Es macht sich also eine die Wirklichkeit verändernde, j
von ihr abweichende Tendenz und Richtung der logi- 1
sehen Funktion geltend. Die Bemerkung, die wir also zu ]
machen haben, ist die, daß schon in den elementaren Pro- '
zessen des logischen Geschehens eine Abweichung \
von der Wirklichkeit stattfindet. Gerade der Um- {
stand, daß das Denken das Sein darstellen will, daß es I
ferner dazu dient, die Verbindung zwischen seienden j
Wesen zu unterhalten und zu erleichtern, spricht dafür, j
daß Denken und Sein nicht Eins sein können, daß die j
W'ege des Denkens nicht die des Seins sein \
können. Es ist unwahrscheinlich, und es widerspräche |
den Usancen der Natur, daß zwei auf so heterogenem i
Boden vorgehende Prozesse Avie der des subjektiven :
Vorstellens und der des objektWen Geschehens in den- •
selben Formen verliefen. Es ist aber auch gar nicht ab- *
Zusehen, was denn streng genommen jenen subjektiven ^
Formen im Sein entsprechen sollte, nachdem Avir dieses 2
wesentlich als ein geordnetes System von BeAvegungen ^
erkannt haben. Seitdem uns die Natur diese Seite zuge- j
kehrt hat, sind mehr und mehr alle jene subjektiven Zutaten, i
welche ‘wir ihr als logischen Zierat anhängten, d. h. die i
Kategorien im weitesten Sinne des Wortes, als solche }
erkannt Avorden, und erst nachdem die Natur diesen i
Schmuck abgelegt hat und uns in ihrer nackten Unver- •;
fälschtheit entgegengetreten ist, sind jene Zutaten der I
Das erkennlnistlieorelisclie Grundpi’ol)lem.
157
Psyche selbst als Eigentum zugesprochen worden^ welche
sie — sollen wir sagen, in neidloser Freigebigkeit oder in
kindlicher Selbsttäuschung? — dem Objekt der Welt an-
gehängt hatte. Diese Abweichung von der Wirk-
lichkeit steigt in den höheren Entwicklungsstufen der
Psyche und erreicht schließlich einen solchen Ivlaxinial-
grad, daß sie als solche erkannt wird. Aber damit
fällt sie nicht als wertlos weg. Tatsache ist
demnach, daß die Psyche in der Verarbeitung des ge-
gebenen Materials immer mehr von der Wirklich-
keit ah Av eicht, Aber auch abgesehen davon^ daß auf
einer gewissen Stufe der geistigen Entwicklung diese Ab-
Aveichungen (Avelche zuerst der objektiven Welt als
Eigentum untergeschoben Averden) als solche durch-
schaut werden, so macht doch diese Veränderung
und Abweichung sich im praktischen Handeln und
im Resultat der Denkrechnung in der Regel nicht
geltend; obAvohl die Wege des Seins und die Wege des
Denkens A^erschieden sind, so trifft das Denken doch
immer wieder mit dem Sein zusammen. Wir haben schon
mehrfach davon gesprochen und auch das daraus ent-
stehende Problem entAvickelt. Dieses heißt für uns aber
nicht bloß: Wie ist die Natur des Objektiven be-
schaffen, daß das Denken, Avenn es sich den logischen
Gesetzen ülierläßt, am Ende seines richtig durchlaufenen
Weges AAÜeder mit dem Verhalten der Sachen zusammen-
trifft? Eine solche Formulierung scheint uns ungenügend
zu sein. Ein richtig formuliertes Problem ist bekanntlich
schon eine halbe Lösung; dann ist aber mit einer falsch
gestellten Frage auch schon die Hälfte des Weges zum
Irrtum zurückgelegt. Und das scheint uns auch in der
oben mitgeteilten Problemstellung zu liegen; denn sie setzt
voraus, daß das Gebiet der Untersuchung, auf dem die
Lösung zu suchen sei, ausschließlich' die „Natur der
Sachen“ sei. In Wahrheit aber ist es umgekehrt: das
Gebiet, auf dem die Lösung zu suchen ist, ist die Natur
des Denkens. Die Natur der realen Vorgänge ist rms
immerhin soweit hinreichend bekannt, daß wir sie als
von einer unAvandelharen Gesetzmäßigkeit beherrscht den-
ken müssen; die objektiven Prozesse spielen sich mit einer
absoluten, Avandellosen NotAvendigkeit ab, mögen nun
158 Erster Teil: Prinzip. Gnnwlleg. C. ErkoniitiiiRlljeoret. Konsequenzen.
diese Prozesse weiterhin gedacht werden wie sie wollen.
Auf eine bis jetzt ungelöste Weise knüpft sich an diese
objektiven Vorgänge die subjektive Welt an.
Wenn also in den subjektiven Vorgängen von der Wirk-
lichkeit abgegangen und diese durch Abzüge und Zu-
sätze verändert wird, und wenn doch trotzdem beim
Handeln schließlich wieder praktisch richtige Resultate
sich zeigen und die abgeschlossene Denkrechnung mit der
Wirklichkeit übereinstimmt, — so ergibt sich aus diesen
zwei sich zum Widerspruch reizenden Sätzen das wich-
tige Problem: Wie kommt es, daß — tr o tz dem w’^i r
im Denken mit einer verfälschten Wirklich-
keitrechnen, doch das praktische Resultat sich
als richtig erweist?
Die Lösung muß in der Rechiiungsweise des Denkens
liegen; diese müssen wir speziell daraufhin untersuchen.
Das Naturgeschehen ist etwas Unwandelbares und voll-
zieht sich nach harten, unbeugsamen Gesetzen: der Wille
der Natur ist eisern; das Denken aber ist eine sich an-
schmnegende, biegsame, sich anpassende, organische
Funktion.
Kapitel XXXVI. i
Die Verfälschung der Wirklichkeit durch die logischen i
Funktionen. |
Logischer Optimismus, Pessimismus und 1
Kritizismus.
Wo die logische Funktion mit ihrer Tätigkeit eingreift,
da verändert sie das Gegebene und entfernt es von der
Wirklichkeit. Wir können nicht einmal die elementaren
Prozesse der Seele schildern, ohne auf Schritt und J
Tritt diesem — sollen wir sagen störenden oder iiachhel- j
fenden Faktor? — zu begegnen. Sobald die Empfindmig \
in den Kreis der Psyche eingetreten ist, wird sie in den i
Wirbel der logischen Prozesse hineingezogen. Die Seele ?
verändert selbständig das Gegebene und Dargebotene. Bei -
dieser Veränderung ist zweierlei zu unterscheiden: 1. die
Formen an und für sich, in denen diese Veränderung
Die Verfälschung der Wirklichkeit durch die logischen Funktionen. 159
geschieht; 2. die durch diese Veränderung aus dem ur-
sprünglichen Material geschaffenen Produkte.
Die organisierende Tätigkeit der logischen Funktion
reißt alle Empfindungen in ihren Prozeß herein und baut
so ihre eigene innere Welt auf, welche sich von der
Wirklichkeit immer mehr entfernt und doch an gewissen
Spitzen wieder mit ihr so eng zusammenhängt, so daß
stets ein Übergang von der einen in die andere stattfindet,
und der Mensch gar nicht merkt, daß er gleichsam doppelt
handelt — in seiner inneren Welt (die er freilich objek-
tiviert als die sinnliche Anschau ungs weit) mid in einer
ganz anderen Welt, in der äußeren. Es gibt also Wechsel-
orte, wo die Werte der einen Welt gleichsam in die der
anderen umgetauscht werden, wo der lebhafte Verkehr
zwischen beiden Welten ermöglicht wird, wo gleichsam
das leichte Papiergeld der Gedanken umgesetzt wird in die
schwere Münze der Wirklichkeit, und wo umgekehrt das
Metall der Wirklichkeit gegen jene leichtere Ware, welche
aber auch den Verkehr erleichtert, umgetauscht wird.
An Stelle der schweren Prozesse der Materie tritt die
teichtgeflügelte Arbeit der Ideen. Eine immer größere
Verdichtung findet statt, einzig und allein im Interesse
der Belebung und Erleichterung und Bereicherung des
Verkehrs. Erst mit der Erfindung des Papiergeldes wuchs
der Verkehr ins Ungeheuere; erst mit der Steigerung der
schwereren Vorgänge der niederen Welt zu den immer
feineren Prozessen des Denkens, erst mit der Einführung
des Denkinstrumentes entfaltet sich die organische Welt
zur Geschichte der Menschheit. Die Schwierigkeit liegt
hier wie dort nur in der Umrechnung, in der Umwechs-
lung. Da hat sich viel falsches Papiergeld, da haben sich
viele falsche Ideen eingeschlichen, die nicht in die mate-
riellen Werte umgewandelt werden können; auch wird
nicht ohne weiteres der Nennwert des Papieres bezahlt,
sondern es muß Agio bezahlt werden. Dafür aber waren
alle höheren Spekulationen, der ganze weite Verkehr nur
möglich auf Grund dieses Hilfsmittels, dieser
fiktiven Werte.
Die allermannigfachsten Greschäfte waren nur möglich
auf diese Weise, wenn auch mancher „Aktienschwindel“
im Gedankenreiche gemacht worden ist, wo die Leute ihren
U)0 Krsfei Tcil : Prinzip, Ti ruadleg. C. Ki kennlnistlicoret. Konscqiionzon.
guten, materiellen Besitz dahingaben für schlechte Pa-
piere, für wertlose Gedanken. So ist das Denken dem
Papiergeld vergleichbar. Die Abweichung von der Wirk-
lichkeit oder die Fiktion schlägt je nach Umständen ’/um
Nutzen oder zum Schaden aus, gerade so wie das zum
Vergleich herbeigezogene Hilfsmittel des Papiergeldes.
Es ist eben mit den die organische Funktion des Denkens
beherrschenden Gesetzen ebenso wie mit allen Natur-
gesetzen — sie sind indifferent, wirken blind; ob sie zum
Heil oder Unheil ausschlagen, hängt von den Umständen
ab; aber sie sind zweischneidig. Jene Veränderung der
Wirklichkeit in den logischen Prozessen, jene Umsetzung
des gegebenen schweren Materials in die leichten, flüch-
tigen Gedanken, die aber dem ersteren so wenig mehr
gleichen — birgt ebenso viele Gefahren in sich, wie sie
andererseits erst die Möglichkeit eröffnet, rasch zu denken
und zu rechnen. Für unsere Untersuchung ist es äußerst
wichtig, welches Vertrauen wir dem Denken und seinen
Arbeiten und Produkten entgegenbringen. Wir müssen
jedenfalls die naive Ansicht dahinten lassen, als ob das
Gedachte wirklich sei, als ob die Formen und Wege
des Denkens im Sein wiederzufinden seien. Diese naive
Glaubensseligkeit, diese zutrauliche Hingabe des ver-
trauensseligen, simplen Naturmenschen an die Produkte
seiner logischen Funktion, also an seine Welt, wird jm
Laufe der Erfahrung bitter und mit Hohn getäuscht. Das
Denken und die logische Funktion ist nicht der ’jMittel-
punkt, in dem die Radien der Welt zusammenlaufen, ist
nicht die Achse, um die sich die Welt di’eht, im Gegenteil,
die logische Funktion spielt im Haushalt der Natur eine*
l^escheidene Rolle, und die Veränderungen der wirklichen
Welt, welche durch die Produkte der logischen Funktion
zustande kommen — so mächtig und ausgedehnt sie vom
menschlichen Standpunkt aus sind — , im Verhältnis zu
den kosmischen Veränderungen sind sie von einer lächer-
lichen Kleinheit. Aber so gering auch diese Veränderimgen
sind im Vergleich mit den grandiosen, machtvollen Ver-
ursachungen der wirklichen Welt, die mit ihrer eisernen,
plumpen Notwendigkeit wie blinde Riesengewalten han-
deln und wirken — so ist doch andererseits eben diese
Vorstellungswelt unsere Welt, in der wir leben und
Die Verfälschung der Wirklichkeit durch die logischen Kunktionen. Ihl
fühlen. Allein sie mag so schimmernd, so ideal, so herr-
lich und edel sein, als jemals ein philosophisches Welt-
system war — wir dürfen sie nicht an Stelle der objek-
tiven Welt setzen: und tun wir das, so begeht der hoch-
fliegende Denker formell genau dieselben Fehler wie der
niedrigste Wilde, wenn er Gedankendinge objektiviert.
Diese Bemerkungen aber sollen die richtige Stimmung
hervorbringen, welche wir den logischen Funktionen und
ihren Produkten entgegenbringen sollen : wir sollen weder
dogmatisch noch skeptisch sein, sondern kritisch.
Der Dogmatismus ist ein logischer Optimismus,
der den logischen Funktionen und Produkten ein unbe-
grenztes Vertrauen entgegenbringt, der das Denken mit
einer so überschwenglichen Bewunderung und Zufrieden-
heit betrachtet, daß er gar nicht wagt, an demselben zu
zweifeln. Die logische Unfehlbarkeit des Denkens steht
dem logischen Optimisten fest wie ein Evangelium, an
welches er sklavisch glaubt, und mit derselben Intoleranz,
welche den religiösen Aberglauben begleitet, zieht er die-
jenigen logischen Fonnen, in denen er zufällig denkt, allen
anderen vor. Dieser logische Optimismus ist etwas Un-
schuldiges und Unschädliches bei den Naturmenschen,
er wird bedenldich, mehr, er wird geradezu gefährlich und
verderblich bei den höherstehenden Menschen. Das lo-
gische Gebäude, und wenn es noch so sehr bin Karten-
haus ist, wird so ängstlich gehütet vor dem’ frischen Luft-
zug des Zweifels, daß niemand wagt, an der logischen
Funktion zu zweifeln. Der Optimismus wird hier konser-
vativ, realdionär, er wird verderblich, wie eben alles,
was sich überlebt. Der logische Optimismus wird über-
flüssig und gefährlich, trotzdem er notwendig war, denn
der Wilde würde verhungern, wenn er erst nachdenken
müßte, ob der Raum, durch den er seinen befiederten
Pfeil schießt, wirklich, und ob er unendlich teilbar ist, und
ob nicht „sein Pfeil ruhe“; und er erreicht auch seine
„Schildkröte“, ohne sich durch die unendliche Teilbarkeit
der dazwischen liegenden Spanne irre machen zu lassen.
Wollte schon der Naturmensch zweifeln an der Objektivi-
tät seiner logischen Formen, so wäre er kein Kultur-
mensch geworden, aber will der dieser Kulturperiode an-
gehörende Denker nicht zweifeln an jener Objektivität,
Vaihinger, Pliilosopliip. 11
Ifi2 Ki storToil : l’i inzip. (innifllog, C. l'2rk(‘niifnislhoorct. Konsf*qin‘iizoii.
SO wird er oben wieder ein Natiirineiiscli im schlimmen
Sinne des Wortes, also ein unkritisciier Mensch.
Zu dem el^en geschilderten Gebaren des logisch(Mi
Optimisten bietet dasjenige des logischen Pessimi-
sten oder des Skeptikers ein lehrreiches Gegenstück.
Er versteigt sich bis zu dem .Mißtrauen eines Gorgias
und versinkt bis in die i\Iystik eines Huet oder in die
Haltlosigkeit eines Agrippa v. Nettesheim. Er findet
keinen Ausdruck, der stark genug wäre, um die Unsicher-
heit, Ungültigkeit, Unzuverlässigkeit des Denkens zu
brandmarken. Er zweifelt mit dem Solipsisten an der
Existenz der Außenwelt und ist zuletzt seines eigenen
Daseins nicht mehr sicher. Das Denken gilt als ein ganz
mangelhaftes Instrument, das die Wirklichkeit verfälscht,
das irreführt, das betrügt. Ist der Dogmatismus frucht-
los, so ist der Skeptizismus ganz unfruchtbar. Trotz-
dem ist dieses iVIißtraueri nicht bloß sehr motiviert, son-
dern auch recht dienlich, um die kritische Stimmung vor-
zubereiten, mit der wir unserer Welt, d. h. den logischen i
Produkten und Funktionen gegenübertreten müssen. Das
Verdienst dieses logischen Pessimismus ist nicht hoch
genug anzuschlagen; er zerstört die Naivität und unbeson-
nene Glaubensseligkeit, und gegenüber der behaupteten
oder naiv angenommenen Identität von Denken und Sein
macht er energisch auf ihre totale Differenz aufmerksam.
Er diskreditiert das vielgebrauchte und vielgemißbrauchte
Bild von „der Wiederspiegelung der Außenwelt in der
Seele“, welche das Objektive treu und unverfälscht wieder-
geben soll. Ihm liegt es dagegen nahe, das Denken unter
dem Bilde einer gefärbten Brille zu fassen, welche alles
Gesehene in falschem Lichte zeigt oder unter dem Bild
eines verzerrenden Hohlspiegels.
Der wahre Kritizismus oder logische Positi-
vismus geht vorurteilsfrei und kalt an die Untersuchung
des Denkinstrmnentes. Mit dem logischen Pessimismus
emanzipiert er sich von dem kindlichen Aberglauben
an die Macht und unbeschränkte Gültigkeit des Denkens,
und mit dem Optimismus hält er an dem Faktum der
schließlichen, praktischen Übereinstimmung von Denken
und Sein fest. Die kostbare Frucht jenes Pessimismus aber
ist die Gewöhnung, in den Denkgebilden zunächst nur
Die Kategorien als Fiktionen.
163
subjektive Produkte zu sehen und, anstatt mit dem Dog-
matiker zu verlangen, man solle ihre Realität solange
annehmen, bis ihre Ungültigkeit bewiesen sei — ein
Grundsatz, der praktisch wohl der allein brauchbare ist —
dreht er die Richtung der Beweisführung um, und den
juridischen Grundsatz : „Qtiisqae praesumatar maliis^ clonec
probetiir honiis“ — miitatis matandis auf sein Gebiet an-
wendend, verlangt er, jedes logische Produkt und jede
logische Funktion solle solange eben als das gelten, was
sie zunächst allein ist, als bloß logisches Gebilde, und
fordert für die Annahme der Realität eines jeden Denk-
gebildes und jeder logischen Form einen speziellen Be-
weis. Und dies ist theoretisch der allein gültige und
brauchbare Grundsatz.
Kapitel XXXVII.
Die Kategorien als Fiktionen
nebst allgemeinen Ausführungen über den
praktischen Zweck des Denkens.
Zwischen der Aufnahme der Empfindungen in die
Seele und ihre Prozesse und der Auflösung der Begriffe
und schließlichen Denkgebilde wiederum in Empfindungen
im praktischen Handeln und in der theoretischen Ver-
gleichung der Denkrechnung mit dem wirklichen Ge-
schehen — zwischen diesen beiden Toren, dem Eingangs-
und Ausgangstor der Seele — liegt die psychische Welt
mitten drinnen. Alles was zwischen jenen beiden Statio-
nen vorgeht, gehört einzig und allein dem weiten Reiche
der Seele an.
Sobald die Empfindungen eintreten in den psychischen
Prozeß, werden sie, wie bemerkt, verarbeitet zu An-
schauungsbildern.
Die Differenzierung des Empfindungschaos in „Dinge
mit Eigenschaften“, in „Ganzes und seine Teile“ usw. ist
eine rein subjektive Tat. Dies sind ja nur Apperzeptions-
formen, in denen die Empfindungen sich zusammenballen
und verbinden.
Ob das Zusammentreffen dieser Vorstellungen in der
Seele auf einem inneren Zusammenhang beruht, dies lehrt
164 Erster Teil: Priiizif). Gruiidleg. (1. Erkeiintnistheoret. Konaequeiiz^i».
uns die Beobachtung, indem sie uns zeigt, daß gewisse
Empfindungen in derselben Verknüpfung immer
w i e d e r k e h r e n. Eine einmalige Gleichzeitigkeit oder un-
mittelbare Aufeinanderfolge der Vorstellungen bietet der
Seele weder die Bürgschaft, daß sie zusammengehören
und immer in derselben Weise wiederkehren, noch auch die
Veranlassung, dies anzunehmen. Durch die häufige
Wiederkehr derselben V orstellungsverknüpf ung da-
gegen findet sich die Seele veranlaßt, dies Ereignis als
ein besonderes aus dem Chaos der Empfindungen heraus-
zuheben. Wir glauben nicht, daß die Psyche ohne einen
praktischen ZAvang zu dieser Tat veranlaßt worden
wäre. Wir glauben im Gegenteil, daß nur die Not im
weitesten Sinne es war, welche aus der Psyche dann die
Neigung hervortrieb, für jene beständige Vorstellungs Ver-
bindung eine besondere Kategorie zu bilden. Gegeben
sind der Seele also außer dem Material der Empfindungen
als solcher noch die Zeitverhältnisse, in welcher
sie in dieselbe eintreten; der Rhythmus, in dem das
Spiel der Empfindungen und Wahrnehmungen erfolgt. In
dieser Zeitfolge der Empfindungen heben sich bald solche
Empfindungsgrößen hervor, welche in dem Strom der
Wahrnehmung immer wieder in derselben Verknüpfung
wiederkehren. Diese Wiederkehr kann in doppelter Form
Vorkommen, in Simultaneität oder Aufeinanderfolge. Hier
betrachten wir zunächst die simultanen Empfindungsver-
knüpfungen. Vor der Seele ziehen z. B. die Wahrnehmun-
gen von Gegenden vorüber, nachher Tiere, Pflanzen, alles
dies in einem chaotischen Durcheinander. Aber wie auch
der Fluß der Wahrnehmung wechseln möge, stets kehrt
wieder eine Vorstellungsverknüpfung gewisser Gestal-
tungsformen mit einer bestimmten Farbe: der Gestalt
einer verzweigten Pflanze mit grünem Laube. Immer
kehren diese Verknüpfungen wieder.
Jene verzweigte Pflanze erscheint stets mit dieser Grün-
empfindung verbunden. Diese bestimmte Empfindungs-
verknüpfung ist für die Seele zunächst zufällig; sie
bleibt es aber nicht. Aus der Mechanik der Empfindungen
springt die Form des Dinges mit seiner Eigenschaft
hervor. Es entsteht das Ding: „Baum“ mit der Eigen-
schaft: „grün“. Die eine Empfindungsgruppe — die der
Die Kategorien als Fiktionen.
165
Gestalt — gilt als das Ding, die andere — das Grün —
als die Eigenschaft. Die einzelnen Glieder dieses Ver-
hältnisses werden auf die verschiedenen Empfindungen
verteilt. Allein damit ist die Sache noch nicht fertig;
das Laub fällt ab — der Baum ist entblättert. Wie kann
nun — nach diesem Vorgang — auf die Restwahrnehmung
der verzweigten Pflanze noch das Verhältnis des Dinges
zu seiner Eigenschaft angewandt werden? Nur dadurch,
daß das Sichtbare als Eigenschaft eines unsichtbaren
Dinges gedacht wird. Nun ^vird also nicht nur das Ver-
hältnis überhaupt (Ding und Eigenschaft) zu dem unmittel-
bar Gegebenen hinzugedacht, sondern es wird auch das
eine Glied des Verhältnisses ins Imaginäre hinausge-
schoben und damit in eine reine Fiktion vei'wandelt.
Man bemerke hier die Verschiebbarkeit, Verstellbarkeit der
Kategorie: was das eine Mal als Ding gedacht wird, wird nachher
als Eigenschaft gedacht; aus dieser Verschiebbarkeit, welche allen
Kategorien eigentümlich ist (so z. B. Ursache und Wirkung, Ganzes
und Teile, Wesen und Erscheinimg), läßt sich auf die Subjektivität
der Kategorien schließen; und aus dieser Verschiebbarkeit läßt sich
auch erklären, wie das eine Glied jenseits der Erfahrung hinausge-
schoben werden kann, so daß das Erfahrungsmäßige als das zweite
Glied zu stehen kommt; so entsteht nämlich die Fiktion einer
Substanz, welche jenseits der Erfahrungsgegenstände bestehen
soll; diese sind dann bloße attributa oder modi jener Substanz; so
entsteht die Fiktion einer absoluten Ursache, deren Wir-
kung die Erfahrungswelt sein soll, so entsteht die Fiktion eines
Makrokosmos, dessen Teile die Erfahrungsgegenstände sein
sollen, so endlich entsteht die Fiktion eines absoluten Din-
ges an sich, das als „das Wesen“ der Erscheinung zu betrachten
sein soll — dies sind alles unberechtigte Übertragungsfik-.
tionen, indem das Verhältnis, welches nur innerhalb der Erfah-
rung Sinn hat, über sie hinaus ausgedehnt wird ins Leere. Wie
durch die unberechtigte Übertragung mathematischer Operationen
die irrationalen und imaginären Zahlen entstehen, z. B. Y — a so.
durch die unberechtigte Ausdehnung kategorialer Formen die Fik-
tionen einer absoluten Substanz, einer absoluten Ursache, eines
absoluten Ganzen und eines absoluten Wesens, iin Gegensatz zur
Erscheinung.
Die Fiktion der Substanz entsteht also, indem das eine
Glied des Verhältnisses: Ding und Eigenschaft aus dem
Gegebenen ins Nichtgegebene hinausgeschoben wird, ins
Imaginäre. Ein anderes Beispiel wird diesen Vorgang
klarer machen. In der Wahrnelnnung ist immer wieder-
gekehrt die Empfindungsverknüpfung des „Süßen“ und
166 Erster Teil : Prinzip. Grundleg. C. Erkenntnistheoret. Konsequenzen.
„Weißen“, es ist der beliebte Bestand des „Zuckers“. Die
Psyche wendet also auf diese Verknüpfung die Kategorie
des Dinges mit seiner Eigenschaft an: „Der Zucker ist
süß.“ Hier erscheint aber noch als Ding das „Weiße“.
„Süß“ ist die Eigenschaft. Die Seele bemerkt aber
die Empfindung „weiß“ auch sonst: letztere löst sich ab
als eine Eigenschaft in anderen Fällen, also wird auch
in diesem Fall Weiß eine Eigenschaft sein. Nun läßt sich
aber doch nicht mehr die Kategorie : Ding mit Eigenschaft
darauf anwenden, wenn „süß“ und „weiß“ Eigenschaften
sein sollen und sinnlich weiter keine Empfindung gegeben
ist. Hier kommt die Sprache zu Hilfe, und indem sie den
Namen „Zucker“ für die Gesamtwahrnehmung gibt, ist
es ermöglicht, die einzelnen Empfindungen als Eigen-
schaften anzusetzen. So rückt das „Ding“ aus dem
Kreis der wirklich wahrgenommenen Empfin-
dungen hinaus und wird jetzt als ein besonde
rer Träger hinzugedacht.
Dem Denken in seiner ursprünglichen Tätigkeit erscheinl
dies als ein höchst unschuldiger Prozeß. Wir, auf dem
Standpunkt der jetzigen Natur- und Weltanschauung, sehen
darin aber eine höchst bedenkliche Veränderung und Ver-
fälschung der reinen Erfahrung. Wer autorisierte
das Denken dazu, etwa zuerst „Weiß“ als Ding, „Süß“
als Eigenschaft anzusetzen? Wer gab ihm das Recht,
weiterhin sogar beides als Eigenschaften anzusetzen
und ein Ding hinzuzudenken als ihren Träger? Weder
in den Empfindungen selbst lag dazu das Recht, noch in
dem, was wir jetzt als die Wirklichkeit betrachten. Wie
verhält sich die Sache denn wirklich? Was sind jene
Empfindungen, welche die Seele als Eigenschaften eines
Dinges projiziert? Die Empfindungen, welche die Seele
zu Eigenschaften eines objektiven Dinges machte, sie sind
Vorgänge in der Seele selbst. Jedenfalls aber liätte
die Seele sehr willkürlich gehandelt, indem sie solcher-
gestalt verfuhr; ihre reine Erfahrung sind nur Empfin-
dungen, nichts als Empfindungen.
Aus der Mechanik der Empfindungen sprang jene Form :
Ding und Eigenschaft heraus, welche doch nicht in den
Empfindungen selbst lag. ]\Iag auch letzthin dieser
Form eine gewisse Wirklichkeit entsprechen — uns inter-
Die Kategorien als Fiktionen.
167
essiert hier nicht diese Frage, sondern wir machen hier
die Beobachtung, daß die Seele jenes Ding hinzudenkt,
daß sie die Empfindungen als Eigenschaften der Dinge
ansletzt und einsetzt. Damit ist nun die Denk-
rechnung eingeleitet: der Ansatz ist gemacht.
Wir müssen zunächst streng daran festhalten, daß das
Gegebene nur Empfindungen sind, und daß alles
weitere, was nicht bloße Empfindung ist — selbsteigene
Arbeit der Seele ist. Die kategoriale Verarbeitung der
Empfindungen aber ist schon eine Veränderung der
Erfahrung, eine Verfälschung der gegebenen
Wirklichkeit. Die Schöpfung der Kategorien geht durch
mannigfache Prozesse hindurch, welche zu schildern eine
spezielle Aufgabe der Psychologie ist. Hier interessiert
uns zunächst das Resultat, daß sich durch Zerlegen und
Hinzudenken eine Verwandlung des unmittelbaren Mate-
rials vollzieht, ein Resultat, welches sehr beträchtlich
weiterführt, als die bloße Vereinigung der Empfindungen
in der Anschauung. Denn hier stehen wir schon im Ge-
biet des begrifflichen, diskursiven Denkens.
Analyse, Vergleichung, Abstraktion und Kom-
bination sind die psychischen Prozesse, durch welche
jene theoretische Verarbeitung vor sich geht.
Was ist denn aber dadurch gewonnen? Wir müssen
das prüfen. Es wird sich zeigen, daß diese Art von be-
grifflicher Erkenntnis alsMittel zu pr ak tisch emllan-
deln sehr hohen Wert hat, dagegen gar keinen
eigentlich wissenschaftlichen Erken nt nis-
w e r t. Der Irrtum der Menschheit bestand aber immer
darin, auch in das Mittel Wert h i n e i n z u 1 e g e n , der
doch einzig und allein in dem liegt, was durch das Mittel
erreicht wird.
Gegeben sind dem Bewußtsein nur Empfindungen: in-
dem es ein Ding hinzudenkt, dem diese Empfindungen
als Eigenschaften angehören sollen, begeht das Denken
einen kolossalen Irrtum! Es hypostasiert die Empfindung,
die doch nur ein Prozeß ist, zu einer seienden Eigenschaft;
es schreibt diese „Eigenschaft“ einem ,,Dinge“ zu,
das entweder eben nur in dem Komplex der Empfindungen
selbst besteht, oder gar von dem Denken noch zu dem
Empfundenen hinzugedacht wird. Man mache es sich doch
168 Erster Teil: Prinzip. Grundleg, C. Erkenntnistheoret. Konsequenzen.
Idar, daß, wenn das Denken einen Empfindungskomplex
unter die Kategorie von Ding und Eigenschaft subsumiert,
es einen ungeheuren Fehler begeht. Wo ist denn
das „Süß“, das dem Zucker zugeschrieben wird? Es be-
steht ja nur in dem Empfindungsakte; und wo ist demi
der „Zucker“, der „weiß“, „süß“, „hart“ und „fein“ sein
soll, dessen „Wesen“ darin bestehen soll? Das Denken
setzt eben den Empiindungskomplex zweimal; erstens
als Ding, zweitens als Eigenschaft. Gegeben ist ihm
nur die eine Empfindungsreihe, aus dieser macht es zwei
ganz verschiedene B egriffs werte : erstens ein Ding, zwei-
tens seine Eigenschaften.
Indem das Denken dies tut, verändert es nicht nur die
uimiittelbare Empfindmig, es entfernt sich auch immer
mehr von der Wirklichkeit, es verstrickt sich immer mehr
in seinen eigenen Formen. Vermittels seiner „Einbil-
dungskraft“, um diesen unwissenschaftlichen Ausdruck zu
gebrauchen, hat es sich ein Ding ersonnen, welches eine
Eigenschaft haben soll. Jenes Ding ist eine Fiktion;
jene Eigenschaft ist als solche eine Fiktion;
das ganze Verhältnis ist eine Fiktion.
Noch mehr. Indem die logische Funktion die beiden
Glieder des Verhältnisses isoliert, vergrößert sie jenen
Fehler. Das ganze Verhältnis zerfällt in isolierte Momente;
das Ding wird isoliert; seine Eigenschaft wird von ihm' als
getremit, als trennbar gedacht. Es muß zugestanden wer-
den, daß die logische Funktion hier eine Reihe
von Willkürlichkeiten und Fehlern sich zu-
schulden kommen läßt.
Jene isolierten Momente und Elemente drängen aber
zu der Verbindung zurück; sie drängen zur Vereinigung;
denn sie sind ohne Vereinigmig ein Widerspruch, eine
Spannung. Der Widerspruch ist ein psychisches Span-
nungsverhältnis. Dies ist hier der Fall. Es besteht ein
Widerspruch zwischen dem als isoliert gedachten Ding
und seiner isoliert gedachten Eigenschaft. Denn was soll
das „Ding“ sein ohne „Eigenschaft“, was die „Eigen-
schaft“ ohne „Ding“? Die Spannung löst sich im Ur-
teil: „Der Zucker ist süß.“ Wir glauben nun, hier sei ein
Erkennen, ein Wissen. — Aber was ist denn damit, mit
dem Urteil gewomien, außer der bloßen Subsumtion unter
Die Kategorien als Fiktionen.
169
die leere Kategorie? Immerhin etwas: Das Denken
hat hier seinen ersten Fehler gut gemacht. Es
hatte zuerst die Empfindung verdoppelt in ein Ding
und seine Eigenschaft, es hatte Eigenschaft und Ding ge-
trennt. Nun wird im Satze beides wieder verbunden.
Man sagt gewöhnlich: in einem solchen Satze ist ein
Wissen, eine Erkenntnis ausgesprochen. Dies scheint uns
zu viel gesagt. Zwar die Spannung ist gelöst, der Wider-
spruch zwischen dem Ding und seiner Eigenschaft ist
(scheinbar) entfernt durch die Gleichsetzung, aber damit
ist weiter nichts als ein subjektives Lustgefühl
erreicht. Faktisch ist damit nichts erreicht für die Erkennt-
nis, aber um so mehr für den praktischen Ge-
brauch. Man betrachtet diese ganze Bewegung der logi-
schen Funktion gewöhnlich viel zu sehr vom Erkenntnis-
standpunkt aus. Allein einmal ist darin noch gar keine
faktische Erkenntnis erreicht, und sodann diente dieser
ganze Prozeß auch gar nicht diesen theoretischen Zwecken,
sondern er erfüllte praktische Zwecke. Erstens ist dadurch
nämlich die Mitteilung in ausgiebigem Maße ermög-
licht : denn wie hätte der Empfindungskomplex sonst mit-
geteilt werden sollen? Eine Mitteilung war nur möglich,
wenn das Mittel der Mitteilung, das Wort, zuerst einen
ganzen solchen Empfindungskomplex aus-
drückte, und dann ein neues Wort einen Teil des-
selben alsEi gen Schaft besonders hervorhebt, derart,
daß diese Verdoppelung im Satze gleichsam zurückge-
nommen wird. Der Trennung entspricht hier eine Ver-
einigung. Sowohl der Begriff als der Satz dienen also
nur als Mittel der Mitteilung; andere noch anzugebende
Zwecke sind die Ordnung in der Psyche und — kann
man noch hinzufügen — die durch diese Ordnung ver-
größerte Erinnerungsmöglichkeit. Als drittes
kommt der Zweck des Erklärens, Begreifens. Was
es mit der Erreichung dieses Zweckes auf sich habe,
wurde oben gesagt: der Zweck wird erreicht, aber wie!
Die Seele erhält den Eindruck, etwas begriffen zu haben,
indem sie ihre fiktiven Kategorien auf die Empfindungs-
komplexe anwendet.
Also sowohl Begriff als Urteil sind rein nur als Mittel
zu praktischen Zwecken zu betrachten. Das Denken
170 Erster Teil : Prinzip. (Irundlcg. C. Erkenntnistlieoret. Konsequenzen.
fingiert ein Ding, dem es seine eigenen Empfindungen
als Eigenschaften anhängt; mit Hilfe dieser Fiktion
arbeitet es sich heraus aus dem .Meer der anstürmenden
Empfindungen.
Wir haben hier sogleich Verschiedenes zu merken: die
Fiktion hat einen praktischen Zweck, aber sie ist theore-
tisch wertlos, ja widerspruchsvoll. Denn es gibt kein Ding,
welches die Eigenschaft hat, „süß“ zu sein; dieses „Ding“
ist in sich selbst ein Widerspruch; es ist ein ganz wider-
spruchsvolles Gebilde: es soll ein von den Eigenschaften
getrenntes, davon zu unterscheidendes Wesen sein; und
doch kennen wir es nur durch diese Eigenschaften. Aber
die Aufstellung dieses fiktiven Dinges hat
einen enormen praktischen Wert; es ist gleich-
sam der Nagel, an welchen die Empfindungen als Eigen-
schaften gehängt werden. Ohne seine Aufstellung wäre
es dem Denken gar nicht möglich gewesen, in dem Wirr-
warr der Empfindimgen Ordnung zu schaffen.
Und diese Aufstellung des Dinges wäre nie möglich ge-
wesen ohne Mithilfe der Sprache, welche für das Ding
ein Wort hergibt, und welche den Eigenschaften besondere
Namen gibt. An das Wort heftet sich nun jener Wahn,
es gäbe ein Ding, welches Eigenschaften habe: das Wort
gestattet die Fixierung des Irrtums. Die logische Funk-
tion hebt aus dem allgemeinen Fluß des Geschehens und
Empfindens einen Empfindungskomplex heraus, fingiert
ein Ding, dem diese Empfindungen, die doch die Psyche
allein hat, als Eigenschaften angehören sollen. Allein
Ding, Eigenschaft und das Urteil, in dem sie kopuliert
werden, sind lauter Veränderungen des Wirklichkeits-
bestandes, sind Fiktionen, d. h. sind — Irrtümer, aber
fruchtbare Irrtümer.
Die Widersprüche und Irrtümer, welche in dieser sinn-
lichen Weltanschauung enthalten sind, machen sich erst
später bemerkbar und fordern dann zur Umarbeitung der
Anschauung auf: allein diese immanenten Widersprüche
verhindern nicht nur nicht, daß diese Formen und For-
meln Jahrtausende lang den inneren (psychischen) und
den äußeren Verkehr vermitteln, sondern sie verschwinden
selbst dann nicht, wenn man sie als widerspruchsvolle
Irrtümer eingesehen hat, sie sind dann nicht etwa bloß
Die Kategorien cals Fiktionen.
171
unschädlich als Reste früherer Anschauung, sondern sie
sind sogar und bleiben absolut notwendig zur Mit-
teilung und zum Zweck logischer Ordnung: so
sind sie aus unwillkürlichen fiktiven Gebilden zu be-
wußten, wissenschaftlich als notwendig er-
kannten Fiktionen geworden.
Der Irrtum besteht nmi darin, in solchen logischen Mit-
teln Selbstzwecke zu sehen und daher ihnen einen selb-
ständigen Erkenntniswert zuzuschreiben. Sie sind aber
nur logische Kunstgriffe zur Erreichung der oben
mehrfach genannten Zwecke. ]\Ian muß nur nicht immer
sofort den Zweck des logischen Denkens im Erkennen
suchen : der erste Zweck des logischen Denkens
ist ein praktischer, die logische Funktion dient der
Selbsterhaltung. Erst ein sekundärer Zweck ist die Er-
kenntnis: sie ist gewissermaßen nur das Ab-
fallprodukt der logischen Funktion. Diese dient
in erster Linie dem praktischen Zwecke der Mitteilung und
des Handelns.
Ganz dasselbe ist der Fall mit allen anderen Kate-
gorien, durch welche das diskursive Denken geleitet wird :
das Ganze und seine Teile, die Ursache und ihre
Wirkung, das Allgemeine und sein Besonderes.
Alles dies sind nur begriffliche, logische Fiktionen, mit
denen absolut keine Erkenntnis im strengen Sinne des
Wortes hervorgebracht wird. Hier besteht „die Beein-
flussung in dem Zusatz von Bestimmungen, welche nicht
in dem wirklich Gegebenen enthalten sind, sondern durch
den Erfahrenden hinzugedacht werden.
Während also das wissenschaftliche Denken in seiner
heutigen Gestalt gerade die Intellektualformen, d. h. die Kate-
gorien nicht als Mittel des Begreifens anerkennt, sind sie
für die sinnliche Weltanschauung von jeher maßgebend
und Mittel des Begreifens gewesen: die iMenschheit hat
Jahrtausende darauf verwandt, die Empfindungskomplexe
nach rein äußerlichen Merkmalen in jene Fächer ein-
zuteilen — und diese Arbeit hat, wenn auch keinen theo-
retischen, so doch ihren praktischen Wert gehabt.
Kant hat nachgewiesen, daß die Kategorien nur auf
die Erfahrung anwendbar sind — dieser Nachweis ist ein
anderer Ausdruck dessen, was wir behaupteten. Alle
172 Erster Teil: Prinzip. Grundleg. C. Erkeniitnistheoret. Konsequenzen.
jene Umsetzungen haben ursprünglich nur einen prakti-
schen Zweck. Die Kategorien sind nichts als bequeme
Hilfsmittel, um die Empfindung massen zu be-
wältigen: weiter haben sie ursprünglich keinen Zweck.
Sie sind entstanden aus diesem praktischen Bedürfnis, und
die Zahl und spezielle Art derselben war bestimmt durch
die verschiedenen Äußerungsformen des Seienden, denen
sich die Psyche mit diesen Formen anpaßte — aber oft
recht äußerlich.
Begreifen ist ein aus der empirischen Umsetzung der
Empfindung in Kategorien uns wohlbekanntes Lustgefühl :
es ist ganz sinnlos, dieses Lustgefühl über seine
möglichen Grenzenausdehnen zu wollen. Wenn
Begreifen faktisch nur in dieser Umsetzung besteht,
wenn diese Umsetzung ein Kreislauf ist — so ist es
ganz unsinnig, über diese Umsetzung selbst hinauszu-
gehen und da das Lustgefühl des Begreifens holen zu
wollen, wo eine solche Umsetzung gar nicht mehr statt-
findet. Der Wunsch, die Welt zu begreifen, ist
nicht bloß ein unerfüllbarer, er ist auch ein
törichter Wunsch. Der psychische Zustand des Be-
greifens ist uns immer nur bekannt geworden, wenn eine
Einreihung, eine Einkleidung in die Uniform jener Kate-
gorien gelungen war. Dieses Lustgefühl also weiter
ausdehnen zu wollen, die Kategorien selbst begreifen
zu wollen, ist ein törichter Wunsch. Die Wissenschaft
führt eben schließlich nur auf unabänderliche Sukzessio-
nen und Koexistenzen: hier ist nichts „Begreifliches“
mehr: das Wort „Begreifen“ hat hier gar keinen Sinn
mehr.
Somit ist die Welt selbst nicht begreiflich, nur wißbar.
Die Philosophie kann nur ein Wissen der Welt, nicht ein Bet-
greifen derselben hervorbringen, imd zwar ein Wissen der Welt
in ihrer nackten Reinheit, mit Zerstörung aller subjektiven A'uf-
fassungsformen und Zutaten und mit der bewußten Erkenntnis
der Fiktionen als Fiktionen, d. h. als notwendiger, brauchbarer,
nützlicher Hilfsbegriffe. Die Welt als Ganzes „begreifen“ zu wol-
len, ist ein törichter Wunsch: töricht nicht in dem Sinn, als ob
der menschliche Verstand dazu zu unvollkommen sei, sondern in
dem Sinn, daß jeder, auc'h ein übermenschlicher Geist
die letzten für uns konstatierbaren Wirklichkeiten einfach als
Gegenstand des Wissens hinnehmen muß: sie noch begreifen zu
wollen, ist ein in sich widerspruchsvoller, also törichter, kindlicher
Die Kategorien als analogische Fiktionen.
173
Wunsch. Die Kategorien besonders Ursache (ebenso Zweck) haben
nur eine zweckmäßige Verwendung innerhalb des gegebenen Emp-
findungsmaterials; auf das Ganze desselben angewendet, ver-
lieren sie jeden praktischen, so auch jeden theoretischen Wert, und
erzeugen nur Scheinprobleme, wie z. B. die Frage nach der Ursache
oder auch nach dem Zweck des Weltgeschehens.
Diese Betrachtungsweise des Denkens und der logi-
schen Arbeit allein ist geeignet, die Stellung derselben
richtig zu beurteilen. Indem die logischen Produkte eben
nur 'als Mittel zu einem praktischen Zweck betrachtet
werden, sinkt die abgöttische Bewunderung der logischen
Formen sehr herab; die logischen Produkte erscheinen
uns nicht mehr als Offenbarungen des Wirk-
licihen, sondern rein als mechanische Hilfs-
mittel des Denkens, um sich vorwärts zu bewegen,
um seine praktischen Zwecke zu erreichen. Und indem
wir somit die logischen Funktionen und Produkte als
bloße Mittel betrachten, bahnt dies uns den Weg, sie
als Fiktionen aufzufassen, d. h. als D enkbildungen ,
als Denkgebilde, welche von der Wirklichkeit ab-
weichend und ihr sogar widersprechend, doch von dem^
Denken erfunden und eingeschoben werden,
um seine Zwecke rascher zu erreichen.
Kapitel XXXVIII.
Die Kategorien als analogische Fiktionen.
Es ist nun hier hervorzuheben, daß solcher Kategorien
unbestimmt viele denkbar sind; man kann wohl sagen,
daß ursprünglich die Psyche eine viel reichere
Kategorientafel besaß als heutzutage, und daß
die heutige Kat eg o r i en t af e 1 nur das Produkt
einer natürlichen Selektion und Anpassung
ist. Es lassen sich solche Spuren ehemaliger Kategorien
in allen Sprachen nachweisen; und die heutigen Kate-
gorien weisen ja auch ganz deutlich auf ihren Ursprung
hin. Es sind kurzweg Analogien; a priori sind aber
sehr viele Analogien möglich, und solche wurden histo-
risch auch angewandt. Die Kategorien sind nichts als
17'f Erster Toil: IM irizip. Grunfllcg. C. Erkenn.tnisttieoret. Konseqnenzon.
Analogien, nach denen die objektiv geschehenden Vorgäage
erfaßt werden.
Die Kategorien sind also keineswegs ein angeborener
Besitz der Seele, sondern sie sind im Lauf der Zeit an-
gewandte und ausgewählte Analogien, nach denen die
Geschehnisse erfaßt werden. Woher die Analogien ge-
nommen Avurden, ist nicht schwer zu erraten; aus der
inneren Erfahrung. Das Ding und seine Eigen-
schaft — ist der abstrakte Ausdruck des primitivsten
Eigentumsverhältnisses; die Seinsverhältnisse werden be-
trachtet, als ob sie Dinge wären, welche als „Eigen-
tum“ diese oder jene „Eigenschaft“ hätten. Es ist Sache
der Etymologie, dies weiter nachzuweisen, z. B. bei dem
Ganzen und seinen Teilen, dem iVllgemeinen und dem
Besonderen. Höchst wahrscheinlich Avird sich dann auch
nacliAveisen lassen, daß denselben Kategorien in
verschiedenen Sprachen ganz verschiedene
Analogien zugrunde liegen. Wir müssen also die
bisher vorläufig gemachte Annahme, daß die logische
Funktion diese Formen aus sich selbst heraustreibe, dahin
modifizieren und restringieren : die Empfindungsverhält-
nisse legen es der logischen Funktion nahe, verschiedene
Analogiebeziehungen zu denken. Die logische Funktion
macht die Entdeckung, daß die Empfindungsmassen sicli
viel leichter übersehen und ordnen lassen, Avenn dieselben
nach gewissen Analogien gedacht Averden.
Daraus ergeben sich nun verschiedene Avichtige Folge-
rungen. Unsere obige Ansicht, daß die Fiktionen keinen
theoretischen ErkenntnisAvert haben, ist bestätigt. Alle
diese Kategorien sind Analogien, sind AuAvendungen eines
zAvar analogen, aber doch schließlich unpassenden Ver-
hältnisses auf die objektiven Verhältnisse; und solche
iVnalogien, bei denen die Erfahrungskomplexe so
betrachtet Averden, als ob sich das Sein ähn-
lich A^er halte, sind reine Fiktionen. Es Avird
alles Geschehen nach diesen Analogien gefaßt, Avelche sich
immer mehr verfeinern, und zu abstrakten Begriffen ver-
flüchtigen, welche immer mehr mit Recht als analogi-
sche Fiktionen erkannt Averden. Demnach, AA^enn die
Kategorien keinen theoretischen Wert haben, sondern nur
praktischen — zur Ordnung, Mitteilung, zum Handeln — ,
Die Kategorien als analogische Fiktionen.
175
SO können die philosophischen Weltsysteme auch keinen
anderen Wert haben, und sie haben historisch auch niemals
einen anderen gehabt. Alles dadurch erreichte Begreifen
war nur psychische Illusion. Die Fiktionen haben
aber faktisch keinen anderen als praktischen Zweck, und
alle auf diese elementaren Fiktionen auf gebauten Systeme
sind nurfeinereausgebildetereFiktionen, denen
niemals ein theoretischer Wert zuzuschreiben ist, welche
aber alle jene Merkmale an sich tragen, die wir bis jetzt
an den Fiktionen kennengelemt haben: sie sind theore-
tisch wertlos, aber praktiscii wichtig.
Alle Philosophie, welche mit den Kategorien oder mit
einer derselben unbefangen operiert, ist Dogmatismus.
Skeptizismus ist die Entdeckung, daß damit nichts
erreiclit wird, und die sich auf alles Erkennen erstreckende
Verzweiflung, welche sich dann auch auf die praktischen
Zwecke des Denkens ausdehnt und auch diese ganz will-
kürlich als unerreichte hinstellt. Es ist aber von dem
liieoretisciien Zweck zu unterscheiden der praktische
Zweck der logischen Funktionen; sobald sich der Zweifel
auf diese erstreckt, ist der Skeptizismus unberechtigt; also
an dem Zweck, den die allgemeine Anwendung der Kausa-
litätskategorie erfüllt — Ordnung zu schaffen, darf nicht
gezweifen werden; der Zweifel aber ist insofern berech-
tigt, als es sich herausstellt, daß durch diese Kategorien
eben nichts erkannt ist, daß sie nur Analogien sind, mit
denen schließlich nichts Rechtes gesagt wird. Der Kri-
tizismus sieht die Ursachen davon, indem er eben die
Kategorien als bloße Analogien durchschaut, als von
dem Denken erfundene, aufgestellte Fiktio-
nen, um die Empfindungsmassen zu ordnen und sich die
Illusion des Begreifens und Erklärens zu ver-
schaffen. Der Kritizismus weist ferner nach, daß diese
Analogien selbst aber unbegreiflich und schließlich schon
aus viel zu komplizierten Gebieten gegriffen sind. Selbst
die brauchbarste Analogie, die Kausalitätskategorie, welche
sich allein aus dem Ruin bis heute in die Wissenschaft
hinübergerettet hat, entstammt einem viel zu hohen Ge-
biet, um schon als Erklärung dienen zu können: sie ent-
stammt dem Gebiet der inneren Erfahrung, des Han-
delns — dies aber ist das Produkt einer äußerst kom-
176 Erster Teil: Prinzip, ürundleg, C. Erkeiintiiistheoret. KonsequenzfMi.
plizierten Wesens. Wir gebrauchen denn auch bekannt-
lich heutzutage die Ausdrücke nur symbolisch, um eben
bloß ein unabänderliches Sukzessionsverhältnis damit zu
bezeichnen. Beobachtet sind einzig und allein die
unabänderlichen Sukzessionen und Koexistenzen, welche
wir als Kausalitäts- und Inhärenzverhältnis apperzipieren,
ohne damit mehr zu tun, als die Sache in einer ande-
ren Sprache zu wiederholen. Die Sache scheint uns nun
begreiflicher; nur der simple Dogmatiker läßt sich heut-
zutage dadurch täuschen. Das Denken gebraucht alle
diese Kunstgriffe, um seine praktischen Zwecke zu er-
reichen. Einer dieser Zwecke ist auch eben die Lust des
„Begreifens“. Jahrtausendelang begnügt sich der Mensch
damit und fühlt eine große Lust bei diesen unschuldigen
Subsumtionen, ganz so wie ein Kind vor Freude daiei
auf jauchzend.
Der Erwachsene läßt sich aber dadurch nicht befriedi-
gen oder sollte sich wenigstens dadurch nicht befriedigen
lassen, wie das Kind und der Kindliche. Der Mensch
merkt immer mehr, daß das „Begreifen“ eine Illusion,
daß das Leben und Handeln auf Illusionen beruht und
auf solche führt. Er fühlt sich als der Gefoppte und wird
verstimmt. Dies ist der Ursprung des Pessimismus.
Die Psyche fühlt sich durch das Erreichte in jeder Hin-
sicht unbefriedigt, weder die Zwecke des Handelns, noch
die des Denkens scheinen ihr erreicht. Aber sie sind
erreicht, soweit sie überhaupt berechtigte Zwecke sind.
Der Pessimismus entspringt aus einer idealistischen Über-
spannung der Ansprüche.
Also aller Dogmatismus besteht darin, mit jenen Kate-
gorien zu hantieren und dabei zu glauben, dadurch etwas
erreicht zu haben. Kant hat ein für allemal nachgewiesen,
daß darin der Dogmatismus bestehe.
Nur in einem hat Kant sehr gefehlt; er glaubt, es gebe
eine prädestinierte Anzahl von Kategorien.
Wenn die Kategorien auf die von uns angegebene Weise
entstanden sind — nämlich als besonders prominente
Analogien, nach denen die verschiedenen Sukzessionen am
passendsten gedacht werden, so liegt auf der Hand, daß
solcher Analogien eine unbestimmte Anzahl möglich ist.
Durch eine natürliche Selektion haben sich nun diejeni-
Praktische Zweckmäßigkeit der kategorialen Fiktionen. 177
gen erhalten, welche zu jenem Zweck am passendsten
sind, und hier ist natürlich, daß keine bestimmte Anzahl
sich herausgearbeitet hat, sondern im Gegenteil, daß die
Zahl derseinen schwankt, und daß, während manche in
voller Aktion stehen, manche andere nur noch rudimentär
erhalten sind. Der eigentliche Boden, auf dem dies nach-
zuweisen ist, ist die Sprache.
Heutzutage sind nur zwei dieser Kategorien noch in
wirklicher lebendiger Anwendung: einmal Ding und
Eigenschaft, sodann Ursache und Wirkung. Man
geht aber immer mehr damit um, jene erstere ganz zu
eliminieren und alle Eigenschaftsverhältnisse auf Kausali-
tätsbeziehungen zu reduzieren. Allein auch diese letztere
Reduktion wird von den hervorragendsten Geistern nur
noch als ein Hilfsmittel betrachtet, um uns eine sub-
jektive Klarheit zu verschaffen und eine gewisse Ord-
nung der Phänomene zu ermöglichen. Immer mehr drängt
die Wissenschaft dahin, alles Geschehen in reine mathe-
matische Beziehungen aufzulösen, wodurch zwar
der reine Tatbestand unverfälscht zur Darstellung kommt,
aber natürlich alles das aufhört, was wir gewöhnlich
„Begreifen“ nennen. Das Begreifen ist eben eine Sub-
sumtion unter die Kategorien; wo diese Subsumtion auf-
hört, hört auch die Begreiflichkeit in gewöhnlichem
Sinne auf.
Kapitel XXXIX.
Praktische Zweckmäßigkeit der kategorialen
Fiktionen.
Nach rein „psychomechanischen“ Grundgesetzen der
Verbindung, Verschmelzung, Verflechtung, Assoziation usw.
bildet sich im' Fluß der Vorstellungen sozusagen ein
Knotenpunkt: also z. B. die Kategorie des Dinges und
seiner Eigenschaft — eine Kategorie, welche ursprünglich
auf einer ganz sinnlichen Analogie beruht. Diese
Kategorie wird immer mehr verfeinert, abstrakter gemacht,
bis sie sich als eine ablösliche Form darstellt, deren
Genesis aus rein sinnlichen Verhältnissen indessen noch
nachweisbar ist. Hier haben wir nun ein eklatantes Bei-
Vaihinger, Philosophie. 12
178 Erster Teil: Prinzip. Grundleg. C. Erkenntnistheoret. Konsequenzen.
spiel der instinktiven, unbewußten Zwecktätig-
keit der Psyche. Wir können von dem ausgehen, was
dadurch erreicht ist, und nachweisen, wie die Psyche
diesen Zweck erreicht hat, obgleich wir diese teleologische
Ableitung nur heuristisch gelten lassen. Es ist eine
Möglichkeit damit gegeben, in dem wilden Wirrwarr ein-
dringender Empfindungen Ordnung zu schaffen und eine
wenn auch oberflächliche Rubrizierung zu gewinnen.
Daß diese aber nur eine künstliche und provisorische ist,
springt in die Augen: denn die fortgeschrittene Wissen-
schaft hat ja vollauf damit zu tun, diese vorläufige Ein-
teilung des Seins und Geschehens wieder aufzulösen und
durch ganz andere Bestimmungen zu ersetzen. Zweitens
wird dadurch die Möglichkeit der Mitteilung erreicht.
Wir setzen hier die Entstehung der Sprache voraus und
bemerken nur dies, daß die Mitteilung eines Vorganges
oder eines Eindruckes in verständlicher Weise nur mög-
lich war durch diese Bildung einiger weniger Kategorien;
indem das Geschehende und Seiende in dieselben gebracht
wird, gibt der Mitteilende eine dem Anderen bekannte
Analogie an, welche sofort in ihm eine Vorstellung von
dem erweckt, was der Mitteilende zu sagen hat. Das hängt
mit dem dritten Punkte zusammen, daß nämlich dadurch
ein Begreifen erzeugt wird, d. h. in unserer Auffassung
ein Schein des Begreifens, indem das Geschehende
und Seiende nach einer bekannten Analogie gedacht
wird. Der ungeheure Druck der eindringenden Emp-
findungen wird dadurch gemildert, und die Spannung
dieser Eindrücke gehoben, indem dieselben Provinzen
abgeteilt werden. Ich bemerke hier gleich, daß dies
in extenso nur möglich war durch die Sprache: an
das Wort knüpft sich die Kategorie an, das Wort wird
abstrakter und verliert die sinnliche Färbung. Darum
wirkt die Sprache befreiend und lösend auf die
Psyche, weil eben nur durch sie jene Einteilung des
Seienden in die Kategorien möglich ist. Endlich war aber
auch dadurch die Berechnung des Handelns mög-
lich. Die Psyche steht dem Fluß des Seienden und
Geschehenden nicht mehr hilflos und passiv gegenüber,
sie ist nicht bloß auf Reflexwirkungen angewiesen, son-
dern indem sich die Bilder auf jene Weise ordnen und
Praktische ZM^eckmäßigkeit der kategorialen Fiktionen. 179
nach Kategorien verteilen, kann die Psyche deren Wieder-
eintritt berechnen und danach ihr eigenes Handeln ein-
richten. Diese Möglichkeit beruht aber wesentlich auf
der Möglichkeit der Erinnerung, und diese selbst
ist in hohem Grade erleichtert durch jene Rubrizierung
des Seienden unter jene willkürlichen Kategorien.
Jene Kategorien sind keine Formen, denen etwas Ob-
jektives entspräche; es sind Verbindungen des Denkens,
die wohl auf Anlaß objektiver Beziehungsverhältnisse
gebildet sind, die aber rein subjektiven Ursprungs sind
und absolut keinen wirklichen Erkenntniswert besitzen.
Diese Rubrizierung der Geschehnisse unter die Kate-
gorien gehört zu jenen Umwegen, die der Wahrheit
selbst gleichgültig, aber dem sie Suchenden
unvermeidlich sind (Lotze).
Diese so gebildete Vorstellungswelt ermöglicht immer
mehr das Handeln: es ist aber wohl zu bemerken, daß
jene Vorstellungsgebilde: Ding, Eigenschaft, Ursache,
Wirkung — ganz wegfallen, vreim der Zweck erreicht
ist. Mit Hilfe derselben war das Handeln erleichtert,
die Berechnung ermöglicht: allein weim die gewünschten
Empfindungen eingetreten sind, so verlieren jene be-
grifflichen Formen jeden Wert. Der Mensch' will nicht
„Dinge“ haben, sondern er will den Eintritt gewisser
Empfindungen. Die Fiktionen fallen, wenn sie auch
theoretisch in uns haften bleiben, doch für die Praxis
und in der Praxis heraus, wenn einmal das gewünschte
Resultat erreicht ist. Nun läßt sich aber nicht leugnen,
daß das Denken dies praktische Resultat nur auf Kosten
seiner logischen Reinheit erreicht hat; die logische
Funktion — diese besteht eben in jenen Prozessen —
scheute die dadurch begangenen Fehler und Wider-
sprüche nicht.
Somit bewegt sich das Denken durch Widersprüche
vorwärts, eine Beobachtung, die wir schon mehrfach
gemacht haben. Die Vorstellungsgebilde beharren in der
Seele, auch wenn ihr Zweck erreicht ist; auch wenn ver-
mittelst dieser logischen Prozesse die praktischen Zwecke
erreicht sind, bleiben jene Formen als Residuen
und Hüllen zurück. Diese Formen bildeten den Gegen-
stand der Philosophie, bis die Erkenntnislheorie sie als
180 Erster Teil: Prin2ip. Grundleg. C. Erkenntnistheoret. Konsequenzen.
bloße Formen fiktiven Ursprungs und Wertes nach-
wies.
Logisch betrachtet sind diese psychischen Gebilde Fik-
tionen: sie sind keine Hypothesen über die Beschaffen-
heit des Seins. Sie wurden freilich von vielen Philo-
sophen dafür gehalten, his die darin enthaltenen Wider-
sprüche zeigten, daß diesen Formen nichts Objektives
entspreche. Für den Kritizismus sind sie nur Fik-
tionen: d. h. Hilfsbegriffe, Hilfsvorstellungen.
Zweiter Teil.
Spezielle Ausführungen.
§ 1.
Die künstliche Einteilung.
Als eine der wichtigsten und fruchtbarsten fiktiven
Methoden ist die künstliche Einteilung zu Be-
trachten. Dieser scharfsinnige Kunstgriff^ durch den un-
ühersteigbare Hindernisse wenigstens für einige Zeit ganz
beseitigt werden, und welcher die Überwindung dieser
Hindernisse bedeutend vorbereitet, ist auch einer der am
häufigsten eingeschlagenen Umwege des Denkens. Die
künstiiche Klassifikation vertritt die Stelle der natür-
lichen, da, wo diese selbst wegen besonderer Schwierig-
keiten nicht möglich ist; ja, wo eine solche sogar an
sich unmöglich ist, wird ein Gebiet von Phänomenen
doch durch eine künstliche Klassifikation zu praktischen
Zwecken ein geteilt.
Das botanische System Linnes ist das berühmteste Bei-
spiel für diese fiktive Methode. Es nimmt die Anzahl
der Staubfäden und Stempel zum Einteilungsgrund. Nach
diesen Blütenteilen wurden die Klassen und Ordnungen
gebildet; aber auf diese Weise kamen teilweise Organis-
men in Eine Art zusammen, welche nur in diesem Merk-
male, nicht aber in allen w^entlichen und unveränder-
lichen Merkmalen übereinstimmen. Da, wo der ganze
Organisationsplan ein derartiger war, daß jene Bestand-
teile nach seinen spezifischen Eigenschaften sich modi-
fizierten, fand sich freilich das Verwandte zusammen.
Wo das nicht der Fall war, wurde Heterogenes (Eiche
und Veilchen) verbunden und in eine befremdliche Nach-
barschaft aneinander gerückt, und homogene Pflanzen an
'entlegene Stellen des Systems auseinandergerissen, bloß
.weil sie in dem einen, der Einteilung zugrunde gelegten
182
Zweiter Teil: Spezielle Ausführmigeii.
Organe voneinander abweichen. In diesen Fällen sind
die dijferentiae, welche Modifikationen des gewählten
Einteilungsgrundes X sind, eben nicht die wahrhaft be-
stimmenden und artbildenden, und anstatt daß diejenigen
Individuen zusammengestellt werden, welche in der
Totalform ihres Zusammenhangs ähnlich sind, werden
solche verbunden, welche nur eine beschränkte Merkmal-
gruppe teilen. Die Lagenbeziehungen der Arten ent-
sprechen nicht den eigenen Verwandtschaften derselben.
Allein nichtsdestoweniger gewährt dieses System von
24 Klassen und 117 Ordnungen doch einen großen Vor-
teil, nämlich, daß sich die Pflanzen nach diesen unschwer
aufzufindenden Merkmalen leicht bestimmen lassen.
Ebenso künstlich sind die Einteilungen der Pflanzen
nach der Farbe der Blüten, den Zacken der Blätter usw.
Auch die Einteilung von Jussieu und Tournefort
sind teilweise auf einzelne Organe (Staubbehälter,
Blumenkrone), statt auf die erforderlichen Eigenschaften
des Gesamtbaues gegründet; erst D ec and olle. End-
licher u. A. haben den inneren anatomischen Bau, das
Wachstum usw. der systematischen Anordnung zugrunde
gelegt.
Ähnlich ist es in allen anderen Naturgebieten. Die künst-
lichen Systeme in der Mineralogie waren und sind auf
mehr oder weniger willkürlich herausgegriffene äußere
Kennzeichen gegründet. Und so lange das auf die che-
mische Konstitution usw. zu gründende natürliche System
nicht auf gestellt ist, hat eine solche künstliche Einteilmig
einen vorzüglich praktischen Wert. Die Einteilmig der
Tiere nach Zehen und Klauen (von Aristoteles) oder die
nach den Zähnen (von Linne) sind weitere Beispiele.
In vielen Gebieten sind ’s^^ir gezwungen, vorläufig oder
sogar definitiv auf eine natürliche Einteilung zu ver-
zichten und, wie das Taine bei Gelegenheit seiner Klassi-
fikation der Sensationen ausdrückt, uns mit einer Art
von revue zu begnügen und „un casier commode garni de
cases'^ zu fabrizieren, oü Von retrouve aisement ce qu'on
veut considerer ; on n'a rien fait de plus. Solche Hilfs-
einteilungen, welche ein kunstreiches Fachwerk auf-
stellen, dienen eben oft nur zur leichteren Registrierung
und Rubrizierung der Dinge.
Die künstliche Einteilung.
183
Was nun die Frage betrifft, inwieweit diese Klassifi-
kationen mit dem Bewußtsein ihrer Künstlichkeit auf-
gestellt wurden, so ist wenigstens seit Liane, der die
arbiträre Natur seiner Einteilung wohl kamite, der Unter-
schied der natürlichen und künstlichen Einteilung all-
gemein bekannt, und da die Methodologie seitdem diesen
Punkt zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht hat,
so wurden solche Einteilungen meistens eben nur als
künstliche sogleich von vornherein aufgestellt. In anderen
Fällen wurden dagegen solche unnatürlichen Klassifi-
kationen zuerst für "Hypothesen angenommen, d. h. man
glaubte das natürliche System gefunden zu haben, bis
sich zeigte, daß auch nur eine unwirkliche Einteilmig
vorlag. Ist eine solche Hypothese für falsch erkarmt, so
kann sie doch noch als Fiktion gute Dienste leisten.
Kant hat bei seinen Versuchen über die Menschen-
rassen seine Aufmerksamkeit diesem Gegenstände zu-
gewandt und in der Abhandlung : „Über den Gebrauch
teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ den Unter-
schied zwischen Naturgattungen und Schulgattungen ge-
macht. Jene nennt er species naturales, diese species
artifieiales. „Die Schul einteilung geht auf Klassen,
welche nach Ähnlichkeiten, die Natureinteilung aber auf
Stämme, welche die Tiere nach Verwandtschaften in
Ansehung der Erzeugung einteilt. Jene verschafft ein
Schulsystem für das Gedächtnis, diese ein Natursystem
für den Verstand; die erstere hat nur zur Absicht, die
Geschöpfe unter Titel, die zweite aber, sie unter Gesetze
zu bringen.“ Er warnt davor, jene rein äußerlichen Ähn-
lichkeiten der Charaktere mirnittelbar für eine Anzeige
der Ähnlichkeit der Kräfte zu halten, und so die Un-
vorsichtigkeit zu begehen, die „Ideen in die Beobachtung
selbst hineinzutragen“, und die „bloß logische Absonde-
rung, welche die Vernunft unter ihren Begriffen zum Be-
hüte der bloßen V^ergleichung macht, mit der physischen
Absonderung zu \ eiwechseln, welche die Natur selbst
unter ihren Gesetzen in Ansehung ihrer Erzeugung
macht.“ Die natürliche Einteilung ist auf die „gemein-
schaftliche Ursache“ zu begründen, welche demselben
Wesenkreise zugrunde liegt, sie ist Sache der Natur-
geschichte; die künstliche oder Schuleinteihing beruht
184
Zweiter Teil : Spezielle Ausführungen.
nur auf der Vergleichung äußerer Merkmale und ist Sache
der Naturbeschreibung usw.
Noch sei Ampere erwähnt, welcher sich über diesen
Punkt dahin äußert, daß in der künstlichen Einteilung
einige willkürlich gewählte Charaktere dazu dienen,
um den Platz jedes Objektes- zu bestimmen; wir ab-
strahieren von allen anderen Charakteren, und dadurch
werden die Objekte oft in der bizarrsten Weise zu-
sammengestellt oder auseinandergerissen. Im natürlichen
Klassifikationssystem dagegen legen wir alle es ent-
liehen Charaktere zugrunde und bestimmen die Wich-
tigkeit eines jeden; die Resultate werden nur dann als
gültig anerkannt, wenn die Objekte, welche die größte
Ähnlichkeit zeigen, auch wirklich in dieselbe Klasse
gebracht sind; das arrangement le plus naturel, sagt
D’Alembert, „serait celui oü les ohjets se succederaient
par les nuances insensibles qui servent tout ä la fois
ä les separer et ä les unir'\
Künstliche Systeme sind somit „einseitige Systeme,
weil die Einteilung nur von einem einseitigen Merkmal
ausgehend kein reales Gegenbild des reichen Ganzen
geben kann“. Alle solche Einteilungen, die nur nach
äußerlichen, vereinzelten, abgeleiteten und zufälligen
Merkmalen gemacht sind, sind ein sehr praktischer Not-
behelf des Denkens, um vorläufige Übersicht zu ge-
winnen. Und häufig sind diese nach' dem Stande des
Wissens die einzig möglichen und sogar die einzig prak-
tisch brauchbaren.
Man reüssiert nicht immer, sagt Taine, mit dem Triebe
der Einteilung: plusieurs de vos demarcations denieurent
artificielles et ne sont que commodes.
Bei der künstlichen Einteilung muß eine Korrektur
eintreten, entweder nur ideell, daß man sich eben bewußt
ist, daß man eben nicht die Wirklichkeit getroffen hat,
oder in einzelnen Fällen reell, indem man die sich aus
der künstlichen und gezwungenen Einteilung ergebenden
Inkonsequenzen, welche ein beherzigenswertes Merkmal
der Fiktiv! tät des ganzen Prozesses sind, durch eine In-
konsequenz des Systems wieder gut macht; den streng
methodischen Regeln zürn Trotz wird dann etwa derselbe
Einteilungsgrund nicht in allen Abteilungen festgehaitem
Weitere künstliche ' Teilungen.
186
und anstatt der schroffen Durchführung des Prinzips
kommen die empirischen Ähnlichkeiten zu ihrem Rechte.
Außerdem aber haben gerade diese Unzuträglichkeiten
ihren guten heuristischen Wert, demi wenn die künst-
liche Einteilung Arten bildet, in denen Heterogenes zu-
sammengestellt ist, die also streng genomen auch un-
möglich, imaginär sind, werden diese Widersprüche mit der
Whklichkeit zu einer genauen Untersuchung anregen, und
die bewußte Abweichung von der Wirklichkeit, das Un-
wirkliche und Unmögliche dient dann zum Vehikel, um die
Wirklichkeit zu finden.
§ 2.
Weitere künstliche Teilungen.
Man kann nicht leugnen, daß es viele Fälle gibt, wo
wir willkürlich Einschnitte in die objektive Natur gemacht
haben, ohne daß wir eine hinlängliche Berechtigung dazu
hätten. So z.B. stehen in unserer gewöhnlichen Anschau-
ung das Tier der Pflanze, das Organische dem Unorgani-
schen, das Lebendige dem Toten mit großer Bestimmt-
heit und schroff gegenüber; und doch verlaufen bei
genauer Untersuchung jene Unterschiede ineinander, so
daß eine Trennung unmöglich wird ; Beweis : die vielen
Grenzfälle, bei denen die Wissenschaft zweifelt, welchem
Gebiet sie zuzuzählen sind. Zwischen Tier und Pflanze,
zwischen Unorganischem und Organischem gibt es Mittel-
formen, welche die alten Teilungen zersprengen, so daß
sie nur aus Bequemlichkeit beibehalten werden können.
Alle diese Grenzstreitigkeiten müssen uns daran erinnern,
daß rncht die Natur es ist, welche jene Abschnitte und
Linien gezogen hat, sondern daß sie nur unserer be-
schränkten Auffassung angehören. Sobald man aus
diesen fingierten Grenzen wirkliche Grenzen macht, dann
ergeben sich jene Streitigkeiten, ob eine Form diesem
oder jenem Gebiete zuzuzählen sei, dann ergeben sich
jene bekannten Widersprüche, welche bei allen Eintei-
lungen der Objekte wiederkehren, sobald man nicht zwi-
schen dem Faktischen und dem Fiktiven zu trennen
weiß. Fast die meisten Gruppen, in welche wir die
186
Zweiter Teil : Spezielle Ausführungen.
Dinge zusammenfassen, indem wir sie zugleich von ande-
ren Gruppen trennen und unterscheiden, sind von der fort-
geschrittenen Wissenschaft als unberechtigt nachgewiesen
worden, und man behält sie nur noch aus Bequemlichkeit
bei, um ihres praktischen Nutzens, nicht um ihres theoreti-
schen Wertes willen. So ist es z.B. mit der Gruppe „Metall“;
während man früher fest daran glaubte, damit eine ganz be-
stimmte natürliche Gruppe der Naturelemente zu bezeichnen,
wird der Begriff in der strengen Wissenschaft nur noch als
ein bequemer Übersichtsname beibehalten; denn neue Er-
scheinungen, welche nach dem einen Teil ihrer Merkmale
unter jene Gruppe zu rechnen waren, widerstreben mit
einem anderen Teil ihrer Eigenschaften dem hergebrach-
ten Begriffe, und es zeigt sich, daß die Natur selbst
eine solche Einteilung gar nicht kennt. Kein Merkmal
hält Stich und ist durchgreifend, Aveder Schwere, noch
Härtegrad, noch Schmiedbarkeit oder Dehnbarkeil, nocli
Undurchsichtigkeit; ja sogar die Einfachheit nichb denn
Berzelius äußerte bei einem entsprechenden Falle, daß
es kein Widerspruch wäre, ein „Metall“ zu haben, das
kein einfacher Körper wäre. Man kann in solchen Fällen
nie vermeiden, eine willkürliche Teilung zu machen und
Abschnitte zu treffen, welche die Natur selbst nicht ein-
mal andeutet. Die Natur hat keine Kasteneinteilung.
Gerade Berzelius machte in bezug auf die Erde, Alkalien,
Metalloxyde usw. darauf aufmerksam (Lehrbuch I, 688),
daß alle unsere Einteilungen nur künstliche seien, daß
man keine natürlichen Grenzen entdecken könne. Um
auf andere Gebiete überzugehen, so ist z. B. der Unter-
schied von Stoff und Kraft der neueren Betrachtungs-
weise so schwankend geworden, daß auch hier alle Ab-
grenzung nur willkürlich und konventionell ist. Solche
Teilungen sind Hilfsmittel der Wissenschaft, aber nicht
AVissenschaft selbst; nur die untergeordneten Arbeiter
in der Wissenschaft glauben hier absolutes und objek-
tives Wissen zu haben; die eigentlichen Forscher sind
sich wohl bewußt, daß solche und ähnliche Bestimmun-
gen nur provisorische Fiktionen sind, welche nur eine
dienende Rolle als Hilfsmittel zu spielen haben. Trotz
ihrer Ungenauigkeit und partiellen Falschheit leisten sie
der Wissenschaft doch große Vorteile.
Adam Smiths nationalökoiiomische Methode.
187
§3.
Adam Smiths nationalökonomische Methode.
Adam Smith stellt den fiktiven Satz — es ist, als ob
alle wirtschaftlichen, geschäftlichen Handlungen nur vom
Egoismus motiviert wären — als ein Axiom an die Spitze
seines Systems und entwickelt daraus deduktiv, mit syste-
matischer Notwendigkeit, alle Verhältnisse und Gesetze
des Handels mid Verkehrs und aller Schwankungen in
diesen komplizierten Gebieten. Bei der Wichtigkeit des
Gegenstandes in methodologischer, aber auch in materieller
Hinsicht mögen über diesen Punkt die Stimmen bedeu-
tender Autoritäten noch hinzugefügt werden. Es ist der
Punkt um so interessanter, als sich hier gerade um die
Frage, ob Smith die Annahme hypothetisch oder fiktiv
aufgestellt habe (wenn auch nicht unter diesen Ter-
minis, doch der Sache nach), ein heftiger Streit erhoben
hat. Aber auch abgesehen von dieser historischen
Frage ist die Frage an sich systematisch von größtem
Interesse.
Die „Geschichte des Materialismus“ von F. A. Lange,
jenes bewunderungswürdige Werk, das ein unvergäng-
liches Denkmal eines reichen und reinen Geistes ist, hat
über diese Frage einen höchst beherzigenswerten Ab-
schnitt, dessen Gedanken wir hier reproduzieren. In
dem Kampf gegen die „Dogmatik des Egoismus“ wird
Lange auf Smith, den Begründer der modernen National-
ökonomie, geführt, und anstatt, wie so viele andere, in
unflätigen Äußerungen sich über diesen großen Geist zu
ergehen, sucht er die methodologischen Grundlagen des
Gegenstandes zu untersuchen. Es ist bekannt, daß Adam
Smith, der schottische Verfasser der Moralphilosophie,
und Freund Humes, außer seiner Inquiry on wealth of
nations auch ein Werk: Theory of moral sentiments ge-
schrieben hat. Man hat neuerdings nachgewiesen, daß
der Wealth of nations strenggenommen kein selbstän-
diges und abgeschlossenes Werk war, sondern nur der
Teil einer vollständigen Moralphilosophie. Das eine
Werk betrachtet die Menschen vom Standpunkt des Egois-
mus aus, das andere von dem der Sympathie, des Wohl-
wollens. Ebensowenig als Ökonomik und Politik, wollte er
188
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
Ethik und Ökonomik absolut trennen. „Die Trennung
wurde nur in der Abstraktion und aus methodi-
schem Bedürfnis von ihm vorgenommen.“
„In der Lehre vom NationaJireichtum,“ sagt Lange
(a. a. O.ll, 454), „wird das Axiom aufgestellt, daß Jeder,
indem er seinem eigenen Vorteil nacligeht, zugleich den
Vorteil des Ganzen befördert. Die Regierung hat weiter
nichts zu tun, als diesem Kampf der Interessen möglichst
Freiheit zu geben. Von diesen Grundsätzen ausgehend,
brachte er das Spiel der Interessen, den Marktverkehr
von Angebot und Nachfrage auf Regeln, die noch heute
ihre Bedeutung nicht verloren haben. Ihm war immer-
hin dieser Markt der Interessen nicht das ganze Leben,
sondern nur eine wichtige Seite desselben. Seine Nach-
folger jedoch vergaßen die Kehrseite und verwechselten
die Regeln des Markts mit den Regeln des Lebens, ja
mit den Grundsätzen der menschlichen Natur. Dieser
Fehler trug übrigens dazu bei, der Volkswirtschaft einen
Anstrich von strenger Wissenschaftlichkeit zu
geben, indem er eine bedeutende Vereinfachung
aller Probleme des Verkehrs mit sich brachte. Diese
Vereinfachung besteht nun aber darin, daß die Menschen
als rein egoistisch gedacht werden, und als Wesen, welche
ihre Sonderinteressen mit Vollkommenheit wahrzunehmen
wissen, ohne je durch anderweitige Empfindungen ge-
hindert zu werden. In der Tat wäre nicht das mindeste
dagegen einzuwenden, wenn man diese Annahmen offen
und ausdrücklichzu dem Zwecke gemacht hätte, den
Betrachtungen über den gesellschaftlichen Verkehr durch
Fingierung eines möglichst einfachen Falles
eine exakte Form zu geben. Denn gerade durch die
Abstraktion von der vollen, mannigfach zu-
sammengesetzten Wirklichkeit sind auch andere
Wissenschaften dazu gelangt, den Charakter der
Exaktheit zu erhalten . . . Eine relative Wahrheit,
ein Satz, der nur auf Grund einer willkürlichen Vor-
aussetzung wahr ist, und welcher von der vollen
Wirklichkeit in einem sorgfältig bestimmten
Sinne ab weicht — gerade ein solcher Satz ist ungleich
eher fähig, unsere Einsicht dauernd zu fördern, als ein
Satz, welcher mit einem Schlage dem Wesen der Dinge
Adam Smiths nalionalökoiiomische Methode.
189
möglichst nahe zu kommen sucht, und dabei eine un-
vermeidliche und in ihrer Tragweite unbekannte Masse
von Irrtümem mit sich schleppt. Wie die Geometrie mit
ihren einfachen Linien, Flächen und Körpern uns vor-
wärts hilft, obwohl ihre Linien und Flächen in
der Natur nicht Vorkommen, obwohl die Maße
des Wirklichen fast immer inkommensurabel sind, so
kann auch die abstrakte Volkswirtschaft uns vorwärts
helfen, obwohl es in Wirklichkeit keine Wesen
gibt, welche ausschließlich dem Antrieb eines be-
rechnenden Egoismais, und zwar diesem mit absoluter
Beweglichkeit folgen, frei von allen etwaigen hemmenden
Regungen und Einflüssen, die von anderen Eigenschaften
herrüliren. Freilich ist bei der Volkswirtschaft die Ab-
straktion des Egoismus viel stärker, als in irgendeiner
anderen bisherigen Wissenschaft, da sowohl die entgegen-
stehenden Einflüsse der Trägheit und der Gewohnheit,
als auch diejenigen der Sympathie und des Gemeinsinns
höchst bedeutend sind. Dennoch darf die Abstraktion
dreist gewagt werden, solange sie als solche im
Bewußtsein bleibt. Denn wenn erst gefunden wird,
wie jene beweglichen Atome einer dem Egoismus
huldigenden Gesellschaft, die man hypothetisch an-
nimmt, sich der Voraussetzung gemäß benehmen müssen,
so wird eben damit nicht nur eine Fiktion gewonnen
sein, die in sich selbst widerspruchslos ist, sondern auch
eine genaue Erkenntnis einer Seite des menschlichen
Wesens . . . Man könnte wenigstens erkennen, wie der
Mensch sich verhält, insofern die Bedingungen seines
Handelns jener Voraussetzung entsprechen, wenn dies
auch niemals vollständig der Fall sein wird.“
In diesem Abschnitt hat Lange mit jener methodologi-
schen Klarheit, welche diesen geistreichen Kopf überall
auszeichnet, das Wesen der abstraktiven, neglektiven
Methode wunderbar charakterisiert an dem Beispiel der
Volkswirtschaft. Seinem Herzen macht es Ehre, daß er
es für das Wesen des praktischen Materialismus erklärte,
diese Abstraktion mit der Wirklichkeit zu verwechseln.
Buckles Ansicht ist, daß die beiden Hauptwerke
Smiths, die „Theory“ und die „Inquiry“ als zusammen-
gehörige Abteilungen desselben Systems zu betrachten
190
Zweiter Teil: Spezielle Ausfülirungen.
sind. Um die Philosophie dieses bei weitem größten aller
schottischen Denker zu verstehen, müsse man beide Werke
zusammennehmen und als eins betrachten, denn sie seien
in Wahrheit zwei Abteilungen eines und desselben Gegen-
standes. Das eine Mal untersuchte er die menschliche
Natur in ihrem mitfühlenden Wesen, das andere J\lal
in ihrem eigennützigen Verhalten i). Da wir alle sowohl
mitfühlend als eigennützig seien, so habe diese Trennung
nur der einzig richtige Weg sein können, um vermittels
der deduktiven Methode das Studium der mensch-
lichen Natur zu einer Wissenschaft zu erheben. Diese
selbständige Behandlungen Wahrheit verbundener Ele-
mente beruhe allerdings auf einer Abstraktion, einem
logischen Kunstgriff, indem wir die untrennbaren Tat-
sachen in Gedanken trennen und über eine Reihe
von Ereignissen argumentieren, die keine reelle und
unabhängige Existenz haben und nirgends an-
ders anzutreffen sind als in der Vorstellung
des Forschers. Aber dieser Kunstgriff sei vollkommen
haltbar und überall da anzuwenden, wo ein Gegenstand
keine Experimente zulasse oder sich zu viel verwirrendes
Detail um denselben angesammelt habe.
Was die Methode Smiths betrifft, so haben diese Be-
merkungen, wie Oncken mit Recht bemerkt, den Nagel auf
den Kopf getroffen.
Diese Methode ist nach Oncken eine kennzeichnende
Eigentümlichkeit von Smith. Es handelt sich, sagt eben
derselbe^ bei der ganzen Frage um nichts anderes, als um
das Wesen der rationalen Forschungsmethode überhaupt,
deren charakteristische Eigentümlichkeit es ist, die Dinge
in der Einbildung von allen äußeren Einflüs-
sen zu trennen, um sie ganz isoliert mit Rück-
sicht auf einen besonderen ZAveck zu betrach-
ten. Es ist, fügt derselbe richtig hinzu, die Methode,
welche durch Cartesius für die Untersuchung einzelner
Objekte in die Wissenschaft eingeführt, durch Kant und
Smith aber auf ganze Abteilungen der Philosophie aus-
gedehnt worden ist. Er hätte noch hinzufügen können,
daß diese Methode im 18. Jahrhundert viel gebraucht
Gesch. d. Zivilisation im Engl. TI, 422.
Benlhams staatswissenscliaftliclie Methode.
191
war, und daß im Laufe der Zeit und besonders im
19. Jahrhundert nach dem „Gesetz der Ideenverschie-
bung“ aus Fiktionen der Meister Dogmen der Schüler
geworden sind.
§4.
Benthams staatswissenschaftliche Methode.
Ein anderes, ebenso lehrreiches Beispiel für die fiktive
Abstraktionsmethode bietet die Benthamsche Behand-
lung der siaatswissenschaftlichen Probleme dar. Nur ist
bei diesem Falle die historische Frage, ob Bentham die
Methode mit Bevoißtsein angewandt habe, d. h. ob ihm
seine Annahme eine Fiktion und nicht eine Hypothese
gewesen sei, dahin zu beantworten, daß für Bentham seine
Ausführungen allerdings Hypothesen gewesen zu sein
scheinen, und daß erst seine Nachfolger in dieser als
Hypothese falschen Annahme eine wichtige und brauch-
bare Fiktion erkannt haben. Bentham gründet die all-
gemeine Lehre vom Staat auf die umfassende Voraus-
setzung, daß die Handlungen der Menschen immer durch
ihre Interessen, und zwar durch ihre rein persönlichen,
selbstischen Interessen bestimmt werden. Um nun den
Konstitutionalismus, den Parlamentarismus als notwen-
dige Regierungsform darzustellen, macht Bentham aus
jenem Axiom folgende Deduktion: Wenn die Handlun-
gen der Menschen im wesentlichen durch ihre selbst-
süchtigen Interessen bestimmt werden, so sind die ein-
zigen Herrscher, welche im Interesse der Beherrschten
regieren, nur diejenigen, deren selbstsüchtige Interessen
koinzidieren mit den Interessen des Volkes. Diese Ko-
inzidenz trete aber nur dann ein, wenn die Interessen
der Herrscher, durch Verantwortlichkeit, d. h. durch Ab-
hängigkeit der Regierenden von dem Willen der Regierten
mit den Interessen der letzteren in Harmonie gesetzt
werden. Daraus folgt also, daß das Verlangen, die Ge-
walt zu behaupten und die Furcht, sie zu verlieren, der
einzige Beweggrund ist, der als die Quelle eines mit
dem Gesamtinteresse des Volkes übereinstimmenden Ver-
haltens gelten könne. Das Gefühl der Identität des Inter-
192
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
esses kann nur durch die Verantwortlichkeit hervorge-
rufen und erhalten werden. Daraus leitet Bentham die
Regierungsform der Volksvertretung, Verantwortlichkeit
der Minister usw. ab.
§5.
Abstrakt-fiktive Methoden in Physik und Psychologie.
Es ist bekannt, daß man gerade in der mathematischen
Physik die abstractio logica sive mentalis in Fällen an-
wendet, wo eben von einer abstractio physica sive realis
keine Rede sein kann; die letztere wird angewandt, wenn
man ein Stück Holz in Teile spaltet, die erstere, wenn
man z. B. von Körpern ohne Schwere redet und solche
fingiert. Sie findet aber auch statt, wenn man von dem
erfüllenden Medium absieht und „zur Bequemlichkeit für
den Physiker dahin übereinkommt, den relativ leeren
Raum als absolut leer zu betrachten“, wobei „der Mathe-
matiker namentlich, welcher gewohnt ist, allle höheren
Potenzen einer unendlich kleinen Größe aus seiner Rech-
nung wegzulassen, nichts Bedenkliches finden kann“.
Wenn die wissenschaftliche Naturerklärung diskrete Mas-
senteilchen voraussetzt, „welche sich in einem' wenig-
stens vergleichsweise leeren Raume bewegen“, so
sieht sie damit eben ab von den Einflüssen, welche von
dem den Raum kontinuierlich erfüllenden Medium aus-
geübt werden; und diese Neglektion wirklich vorhandener
und in der Tat stets untrennbarer Elemente der Wirklich-
keit dient ungemein zur Erleichterung der Rechnung. Und
hierher ist es doch wohl auch zu rechnen, wenn die Physik
die Moleküle „der Einfachheit halber als kugelförmig“
betrachtet, eine Annahme, die mit den Anforderungen der
Chemie nicht völlig übereinzustimmen scheint. Es werden
daher die möglichen Unregelmäßigkeiten der geometri-
schen Gestalt vernachlässigt, und eben zur Simplifizierung
der Sache ein einfacheres Verhalten zugrunde gelegt, als
faktisch stattfindet. Wenn die theoretische Mechanik und
Physik deduktiv verfahren wollen, ist eine andere Be-
handlungsweise des Wirklichen gar nicht möglich. Denn
gerade hier sind die empirischen Erscheinungen so ver-
Abslrnkt-fiktive Methoden in Physik und Psychologie.
193
wickelt, daß mit ilusscliluß von Nebenumständen, welche
aber faktisch immer wirksam sind — abstrakte Verhält-
nisse zugrunde gelegt werden, und das Verhalten dann
so behandelt und berechnet wird, als ob es nur von
jenen abstrakten Faktoren abhinge und die anderen gar
nicht in Betracht kämen.
Dieselbe Methode leistet vortreffliche Dienste nicht nur
in dem Gebiete der angewandten Psychologie — als was
die Sozialwissenschaften seit Adam Smith und Bentham
zu betrachten sind — , sondern auch bei der Erforschung
der primären psychischen Phänomene. Auch hier macht
es die verwickelte Natur der Phänomene notwendig, ab-
sichtlich nur einen Bruchteil der lebendigen Wirklichkeit
an Stelle der ganzen Fülle der Ursachen und Tatsachen
zu setzen. Die psychologischen Verhältnisse sind so ver-
wickelter Natur, daß gerade hier Fiktionen, welche zu-
nächst nur ein Moment zur Geltung bringen und andere
vernachlässigen, um so die theoretische Berechnung leich-
ter anstellen zu können, sehr gut angebracht sind. Ins-
besondere, seit man in der Psychologie die Analogie der
psychischen Phänomene mit mechanischen Vorgängen
durchgeführt hat, hat diese Methode auch hier um sich
gegriffen. Speziell hat Lange mit feinem methodologischen
Auge die Formeln der Herbartschen Psychologie für
bloße Fiktionen erkannt, welche als Hypothesen falsch,
als Hilfsformeln aber nicht unbrauchbar sind. Herbart
selbst meinte damit nicht die volle Wirklichkeit getroffen
zu haben — auch er selbst schrieb seinen Formeln z. T.
nur methodologischen CharalHer zu. In der trefflichen Ab-
handlung : „Die Grundlegung der mathematischen Psycho-
logie, ein Versuch zur Nachweisung des fundamentalen
Fehlers bei Herbart und Drobisch“ (Duisburg 1865), hat
Lange jenen Nachweis geführt, wobei er freilich schließlich
nur wenigen der Formeln Herbarts Brauchbarkeit zumißt.
Diese Methode hat auch Drobisch befolgt; auch er macht
solche fiktiven Annahmen. Er spricht es in der Vorrede
zu den „Grundlehren der mathematischen Psychologie“
schon aus, daß die fundamentalen Annahmen der mathe-
matischen Psychologie nur vorläufige Annahmen seien,
welche der Wirklichkeit, wenn auch nahe kommen, so
doch nicht entsprechen.
Vaihingev , PhiloBopbie.
13
194'
Zweiter Teil: Spezielle Ausfühnmgen.
In späterer Zeit hat sich Steinthal dieser Methode
bedient und theoretische Formeln in der Psychologie auf-
gestellt, welche nur durch Vernachlässigung vieler empi-
rischer Faktoren gewonnen sind: er nennt sie „abstrakte
Bilder“ der seelischen Vorgänge.
§6.
Die fingierte Statue Condillacs.
Als ein hervorragendes Beispiel der fiktiven Abstrak-
tionsmethode ist hier die bekannte C ondil lacsche Fik-
tion zu erwähnen, welche den Tratte des Sensations so
berühmt und verdienstlich gemacht hat. Der Zweck dieser
Fiktion ist die Aufstellung dessen, was man später „Ideo-
logie'' nannte, d. h. eine Analyse aller Ideen, eine Re-
duktion aller Vorstellungen und Begriffe auf ihren Ur-
sprung aus der Erfahrung, kurz eine Theorie der Ideen-
bildung aus den Sensationen. Zu diesem Zwecke fingiert
(imaginer^ sapposer) Codillac eine Statue, die ähnlich
wie ein lebender Mensch zu denken ist, dessen Seele noch
ohne alle Vorstellungen ist. Um Eindrücke auf diese
Seele beliebig abschließen und zulassen zu können, läßt
er diesen fingierten Menschen von einer Marmorhülle um-
geben sein, die ihm den Gebrauch seiner Sinnesorgane
nicht gestattet. Dadurch kann Condillac nun die Vor-
stellungswelt isolieren, welche aus jedem Sinne für sich
folgen würde, wenn ein solcher Mensch nur je auf einen
Sinn beschränkt würde. Er beschränkt die Statue zuerst
auf den Geruchssinn, dann auf den Gehörssinn, dann auf
den Geschmack, dann auf den Gesichtssinn und schließlich
nur auf den Gefühlssinn, verbindet dann beliebig die ver-
schiedenen Sinne miteinander, indem er die Zugänge zu
dieser Statue je nach Bedürfnis geöffnet oder geschlossen
denkt. Bei dieser Betrachtungsweise abstrahiert er somit
beliebig von einem Teil der Faktoren, welche regelmäßig
das komplizierte Gewebe des menschlichen Seelenlebens
bilden. Durch diese fiktive Abstraktion kann er nun
zeigen, welchen Beitrag jeder Sinn zu dem menschlichen
Seelenleben liefert. Er konstniiert so sukzessive einen
Die fingierte Statue Condillacs.
195
Geruchs-, Gehörsmenschen usw. und zeigt, welche Vor-
stellungswelt in einem solchen einseitig sinnesbegabten
Menschen entstehen wird oder würde. An dieser Statue,
organisiert wie ein Mensch, beseelt von einem Geist, der
noch keine Ideen hat, an welcher die Sinne sukzessive
erwachen, zeigt er die Entstehung des Bewußtseins, der
Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, des Urteilens, der
Einbildungskraft, der Abstraktion, der Reflexion usw. Es
versteht sich von selbst, wie durch diese geniale Fiktion
die Untersuchung erleichtert wird. „Man weiß,“ sagt
der unbekannte Verfasser einer kleinen Abhandlung, „Die
Bildsäule“ in Engels „Philosoph für die Welt“ (21. Stück),
„zu welchem Endzweck Bonnet und sein Vorgänger Con-
dillac eine solche Bildsäule erdichteten. Sie glaubten
dadurch die Untersuchung zu simplifizieren und zu
erleichtern, wie hei Gelegenheit der sinnlichen Ein-
drücke sich nach und nach die Kräfte unserer Seele ent-
wickeln.“ Selbstverständlich ergibt sich daraus eine
Beihe von Unmöglichkeiten: „Sprache noch vor geöffne-
tem Ohr, Bewußtsein gleich auf die erste Rührung eines
der dunkelsten Sinne“ usw. Man muß jedoch beachten,
sagt Condillac selbst, „daß die Unsicherheit oder selbst
Unrichtigkeit mancher Vermutungen der Grundlage
dieses Werks nicht zu schaden vermag. Wenn ich diese
Statue beobachte, so geschieht es weniger, um mich
dessen zu versichern, was in ihr vorgeht, als um zu ent-
decken, was in uns vorgeht. Ich kann mich darin täuschen,
daß ich ihr Operationen zuschreibe, deren sie noch nicht
fähig ist, allein dergleichen Irrtümer bleiben ohne weitere
Folgen, wenn sie den Leser in den Stand setzen, zu
beobachten, wie sich jene Operationen in ihm selbst
vollziehen.“
Condillac bedient sich in dem genannten Werke noch
mehrmals der fiktiven Methode. Ein Fall ist noch als
hierhergehörig anzuführen. Er setzt jene Fiktion dahin
fort, daß dieser Statuenmensch, diese Menschenstatue
einsam lebe, und er sucht nun zu zeigen, wie die Bedürf-
nisse, Fertigkeiten und Vorstellungen eines solchen Men-
schen sich gestalten müßten, wenn z. B. die Natur für
alle oder wenn sie nur für einige oder für keine Bedürf-
nisse der Statue sorgen würde. Durch die Variierung der
196
Zweiter Teil: Spezielle Aiisführungen,
Möglichkeiten, welche er für diesen sich seihst überlasse-
nen Menschen konstruiert, ist er imstande, eine Reihe
der feinsten psychologischen Beobachtungen zu machen.
Alles dies wird mutatis mutandis auf den wirklichen
Menschen selbst angewandt. Diese Fiktion war schon im
Altertum und Mittelalter ausgebildet; Arnobius (p. Chr.
c. 300) macht schon die Fiktion eines von der Geburt an
in völliger Einsamkeit aufgewachsenen Menschen, um
Platos Erkenntnistheorie zu widerlegen.
Diese Fiktion des Arnobius wurde im 18. Jahrhundert,
von Lamettrie wieder aufgegriffen, welcher in seiner
Histoire naturelle de Väme (1745) die ,, belle conjecture
d. ^Ärnobe“ in abgekürzter Darstellung wiedergibt und gegen
die Cartesianische Doktrin von den angeborenen Ideen
ausspielt. „Man nehme an, so referiert Lange über diese
Fiktion, daß in einem schwachbeleuchteten unterirdischen
Gemach, von welchem jeder Schall und jeder Sinnes-
eindruck ferngehalten wird, ein neugeborenes Kind von
einer nackten und einer schweigenden Amme notdürftig
gepflegt, und so ohne irgendeine Pvenntnis der IVelt und
des Menschenlebens großgezogen würde bis zum Alter
von 20, 30 oder gar 40 Jahren. Dann erst soll dieser
Mensch seine Einsamkeit verlassen. Man frage ihn nur,
was er in seiner Einsamkeit gedacht, und wie er bis
dahin genährt und erzogen worden sei. Er wird nichts
antv.' orten, nicht einmal wissen, daß die an ihn gerichteten
Laute etwas zu bedeuten haben. Wo ist nun jener un-
sterbliche Teil der Gottheit? Wo ist die Seele, die so
gelehrt und aufgeklärt in den Körper eindringt? Wie
Condillacs Statue, zu welcher Lamettrie den Anstoß ge-
geben zu haben scheint, so soll nun dieses Wesen, wel-
ches vom Menschen nur die Gestalt und die physische
Organisation hat, durch den Gebrauch der Sinne Empfin-
dungen erhalten usw.“
Zu religionsphilosophischen Zwecken benutzte Avem-
pace (gest. 1138) in der „Leitung der Einsamen“ und
besonders Abubacer (1100 — 1,185) in dem „Haji Ibn
Jokdhän“ diese Fiktion. Abubacer zeigt darin die stufen-
weise Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen bis zur
Gemeinschaft seines Intellekts mit dem göttlichen, er ver-
selbständigt darin auf fiktive Weise seinen „Einsamen“
Lotzes hypothetisches Tier.
197
I
t
I
gegenüber den Institutionen und Meinungen der mensch-
lichen Gesellschaft; „er läßt“, wie Überweg sich ausdrückt,
„den einzelnen sich aus sich selbst entwickeln ; indem er
die Selbständigkeit des Denkens und Wollens, zu welcher
ihm die bisherige Gesamtgeschichte geholfen hatte, von
dieser (notwendigen) Bedingung ab löst und sie
in seinem Naturmenschen als außergeschichtliches Ideal
setzt“ (wie im 18. Jahrhundert wieder Rousseau). Auch
die im 18. Jahrhundert so beliebten Robinsonaden
gehören hierher, in denen, wie Pfleiderer sich etwas zu
witzig ausdrückt, „der Isolier schemel des abstrak-
ten in sich reflektierten Gedankens sich schematisch
kleidet in das Bild der einsamen Insel im weiten Welt-
meer als eines trefflichen Versuchsfeldes der
Theorie.“ Wie bei Condillac, dient auch hier die Fiktion
dazu, durch Abstraktion von regelmäßig mitwirkenden
Faktoren, hier besonders von der Gemeinschaft mit ande-
ren Menschenwesen, eine Untersuchung, eine Darstellung
zu vereinfachen, und die Pädagogen wie die Psychologen
verwerteten diese fiktive Abstraktion sehr häufig für ihre
besonderen Zwecke.
Zu den künstlichen Isolierungen gehören endlich alle
jene Beispiele, wo nicht bloß der einzelne Mensch, son-
dern etwa eine ganze Stadt oder ein ganzer Staat (eine
Insel usw.) isoliert gedacht werden, z. B. auch Fichtes
geschlossener Handelsstaat.
§7.
Lotzes hypothetisches Tier.
Wie gerade die Psychologie diese Methode verwertet
und mit Vorteil verwertet, zeigt auch jenes bekannte
„hypothetische Tier“, welches Lotze in seiner „medi-
zinischen Psychologie 1)“ einführt: dieses soll nur einen
einzigen, zugleich sensibeln und beweglichen Hauptpunkt
etwa an der Spitze eines Fühlhorns besitzen.
Laas’^) nennt dieses „hypothetische Tier“ „eine ge-
sundere, organischere und aufklärsamere Abstraldion und
1) § 33, S. 420.
Kants Analogien 297.
198
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
Fiktion^) als die Condillacsche Statue mit bloßem Ge-
ruchsinn, welcher der Tastsinn erst ganz zuletzt verliehen
wird“. Organisch nennt er dieselbe, weil der Tastsinn
wirklich in der Entwicklung der Tierreihe der erste ist
und sich allein, ohne die anderen Organe findet — wie
schon Aristoteles 2) bemerkt. Jene Äußerung von Laas
mag zu der methodologischen Bemerkung Anlaß geben,
daß solche Fiktionen eben „organisch und gesund“ sein
sollen, d. h. daß sie — es läßt sich dies wohl nur negativ
ausdrücken — nicht solche Vorstellungsgebilde formieren
sollen, welche den natürlichen Verhältnissen allzu ferne
stehen, also solche, welche sich an die gegebenen objek-
tiven Tatsachen möglichst gewandt und geschickt an-
schließen.
Der Wert dieser Fiktion besteht darin, daß durch die-
selbe die erkenntnistheoretisch-psychologische Frage er-
leichtert wird, durch welche Prozesse die Vorstellung der
Außenwelt zustande komme, und welchen Anteil die bloße
Sukzession von Perzeptionen an dem Weltbild besitzie.
Die Perzeptionen dieses Wesens sind nur sukzessiv: simul-
tane Perzeptionen sind eben durch die Natur der Fiktion
ausgeschlossen. Was folgt nun aus den aufeinanderfolgen-
den Perzeptionen dieses in verschiedenen Stellungen über-
gehenden und bewegten Fühlhorns? „Ist jenes hypothe-
tische Wesen nun psychisch geartet wie wdr, so wird es
das, was seiner willkürlichen Entscheidung parallel läuft,
als „subjektiv“, was von derselben unabhängig sich ein-
stellt, als „objektiv“, als fremd, als außer sich beti’achten.
Und hat es, wie wir, die Möglichkeit, Perzeptionen sowohl
mit ruhendem als mit bewegtem Organ zu erhalten, und
besitzt es wie wir Erimierungs- und Assoziationsver-
mögen, sowie das Vermögen räumlicher Auslegungen: so
muß es auch wie wir, trotz seiner dürftigen sinnlichen
Ausstattung, zur Unterscheidung eines sich gleichbleiben-
den und sich ändernden, eines ruhenden und bewegten
Objekts gelangen.“ Die Fiktion gewinnt nach Laas da-
durch einen hohen erkenntnistheoretischen Wert, daß durch
die Ausführung derselben, durch Ziehung der Konsequen-
') Der Terminus , hypothetisches“ Tier („hypothetischer“ Fall ih. 297)
ist daher besser zu ersetzen durch fiktiv.
») De An. U, 413b, 2, 37.
Die Fiktion der Kraft.
199
zen aus der munöglichen Annahme in diesem Falle eine
falsche Kantische Doktrin abgewiesen werden könne, näm-
lich, daß es eines mit Kategorien ausgestatteten spontanen
Verstandes bedürfe, um zu jenen objektiven Erkeimt-
nissen zu gelangen: „das Lotzesche Tier, mit unserem
Verstände ausgerüstet, wird an der Hand des unmittelbar
Gegebenen sich wohl über objektive Ruhe und Bewegung
ein Urteil verschaffen kömien“, ohne jene von Kant als
notwendig erachteten kategorialen Funl^tionen.
Die physiologische Psychologie bedient sich — wegen
der enormen Kompliziertheit ihres Gegenstandes — gern
und mit Erfolg solcher Fiktionen, zu denen z. B. auch
jene H elmhol tz sehe Annahmen eines Wesens, das nur
Auge ist, oder eines Menschen, der nur ein Auge und
dieses in der Mitte der Stirne hätte (Fiktion eines Zyklopen-
auges), zu rechnen sind. Auch der fiktive Mensch mit
mikroskopischen Augen gehört hierher. Helmholtz,
Aubert u. a. wenden diese Methode sehr häufig an.
§ 101).
Die Fiktion der Kraft.
Eine der wichtigsten Fiktionen, welche durch isolie-
rende Abstraktion entstehen, ist der Begriff der Kraft,
jenes berüchtigte und oft so verhängnisvolle Produkt der
Phantasie. In einer Kraft, z. B. der Lebensla*aft, werden
nicht nur viele einzelne Erscheinungen summatorisch zu-
sammengefaßt, es wird auch die Vorstellung darin aus-
gesprochen, daß eine solche Kraft etwas besonders Exi-
stierendes sei.
Wenn zwei Vorgänge, von denen der eine vorangeht,
der andere folgt, durch eine konstante Verbindung ver-
knüpft sind, nennen wir die Eigentümlichkeit des frühe-
ren, von dem späteren gefolgt zu sein, seine Kraft, und
man mißt diese Kraft an der Größe des Erfolges. Wir
haben in Wirklichkeit nur Sul^zessionen und Koexistenzen,
und wir dichten den Dingen „Kräfte“ an, indem wir die
1) Die Paragraphen 8 und 9 über den homo alalus und andere
Fälle der fiktiven Isolierung fielen aus.
200
Zweiter Teil: Spezielle Ausführujigeii.
wirklichen Phäuonienc als schon mögliciie an sehen, und
diese Möglichkeiten und Eigentümlichkeiten hypostasieren
und als reelle Entitäten loslösen. Par malheur, sagt Taino* *)
de cetie particularite qui est iin rapport, nous faisons, por
iine fiction de Vesprit, une substance: nous i'appelons d'un
nom substantif, force ou pouvoir; nous lui attribuons des
qualites; nous disons qu'elle est plus ou moins grande; nous
remployons dans le discours comme un suJet; nous oublions
que son etre est tout verbal, qu'elle le tient de nous, qu'elle
l'a regu par emprunt provisoirement, pour la commoditi de
discours et qu'en soi il n'est rien, puisqu'il n'est qu'un rapport.
Trompes par le language et par l'habitude, nous admettons
qu'il y a lä une chose reelle, et reflictissant ä faux, nous
agfandissons ä chaqiie pas notre erreur. Dieses betreffende
Wesen ist ein „bloßes Nichts“; durch eine „Illusion“ machen
wir daraus ein reines, unkörperliches Wesen; wir betrachten
es wie ein Wesen höherer Ordnung; und doch ist es an
sich nur ein Charakter, eine Eigentümlichkeit, eine Be-
ziehung, welche von dem einen Vorgang zum andern waltet,
detachee par abstraction, posee ä part par fiction,
maintenue ä l'etat d'etre distinct par un nom substantif distinct,
jusqu'ä ce que l'esprit, oubliant son origine, la juge indipendante
et devienne la dupe de l'illusion dont il est l'ouvrier. Taine
spricht von dieser Fiktion häufig: die Kräfte, welche die
Dinge haben sollen, sind nichts anderes als die konstanten
Notwendigkeiten der Folge, posees ä part considerees isole-
ment, des manieres d'etre extraites de l'evenement et isolees
par une fiction mentale'^). Man erhebt sie zu Substanzen,
setzt sie den flüchtigen Vorgängen als dauernden Hinter-
grund, als konstante Quelle entgegen und gibt ihnen eine
aparte Existenz. Indem wir die Bedingungen eines Ge-
schehnisses zusammenfassen, nennen wir sie die Kraft,
welche zu einem Geschehen notwendig ist, und stellen sie
uns als etwas Reelles, Besonderes vor: la condition, degagee,
isolie par une fiction de l'esprit, devient ainsi tout-ä-fait
generale et abstraite^).
Taine betont hier nur eine Seite : er weist auf die theo-
retische Wertlosigkeit und Falschheit des Begriffes der
Taine, De l’intelligence l, 376.
*) n, 49. cf. ib. 32-33, 52-53, 176, 190.
») U, 280.
Die Fiktion der Kraft.
201
Kraft hin, indem er seinen psychologischen Ursprung auf-
deckt: aber er betont zu wenig, wie praktisch und bequem
dieses Vorstellungsgebilde für den wissenschaftlichen
Hausgebrauch ist, und über den Eifer, zu verhindern,
daß die Fiktion für eine Realität genommen werde, ver-
gißt er die Anerkennung der nützlichen Dienste, welche
diese Fiktion dem Denken leistet. Diese zweite Seite der
Sache darf aber keineswegs vernachlässigt werden: die
kritische Einsicht in die theoretische Wertlosigkeit
und Fehlerhaftigkeit des Kraftbegriffes muß durch die
methodologische Einsicht in seine praktische Brauch-
barkeit und Bequemlichkeit ergänzt werden. Daß diese
Abstraktion, durch welche das einseitig Losgelöste zu-
gleich personifiziert wird, eben eine brauchbare Fiktion
sei, dafür sei noch eine Belegstelle von einem Schrift-
steller angeführt, welcher den kritischen Geist mit dem
Sinn für die methodologischen Bedürfnisse der Wissen-
schaft verbindet.
Bei Moleschott tadelt es Lange^) sehr lebhaft^ daß er
sagt: „Wo sich auch immer Sauerstoff befinden mag,
hat er Verwandtschaft zum Kalium,“ und daß er damit
die Kraft als etwas denkt, das im Sauerstoff dauernd sitzt.
Er nennt diese Vorstellungsweise „die Verwüstungen des
Möglichkeitsbegriffes“; er tadelt die Verkörperung einer
menschlichen Abstraktion. Er stimmt Dubois-Reymond
bei, der findet, daß es im Grunde weder Kräfte noch
Materie gebe, sondern daß beides nur Abstraktionen
seien. Aber er stimmt auch demselben bei, wenn er in
jener bekannten Stelle — die Kraft einen rhetorischen
Kunstgriff unseres Gehirns nennt, das zur tropi-
schen Wendung greife, weil ihm zum reinen Ausdruck
die Klarheit der Vorstellung fehle; die Kraft, insofern sie
als Ursache der Bewegung gedacht werde, sei nichts als
eine versteckte Ausgeburt des unwiderstehlichen Hanges
zur Personifikation. Diese Vorstellung der Kraft, als eines
Ausflusses des Stoffes, als eines Werkzeuges, gleichsam
einer Hand, eines Armes desselben, ist allerdings ein
Kunstgriff, gegen dessen Anwendung aber weder Natur-
wissenschaft noch Methodologie etwas einzuwenden
*) Geschichte des Materialismus II, 203.
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
haben, sobald man sieb der tecbiiiscben Natur der Vor-
stellung bewußt bleibt, welche uns das Denken, das
schnelle Rechnen mit Gedanken erleichtert. Wenn man
sich übersinnliche Kräfte hinzudenkt, bringt man aller-
dings, wie Lange sich ausdrückt, einen falschen Fak-
tor in Rechnung. Jene Vorstellungsweise der Kraft
als eines zum Stoff hinzukommenden und auf seine
Äußerung lauernden Faktors ist durchaus erlaubt, so-
lange man sich dieser Vorstellung nur als eines Hilfs-
mittels der Gedankenbewegung bedient, und wenn man
methodologisch so streng geschult ist, um den falschen
Faktor, den man damit in die Gedankenreihe einführt, zur
rechten Zeit wieder zu entfernen.
§11-
Materie und Materialismus als Hilfsvorstellungsweisen.
Nicht anders verhält es sich mit einer anderen ein-
seitigen Abstraktion, deren Tragweite eine unübersehbare
ist: die ganze naturwissenschaftliche Betrachtungsweise,
welche eine unabhängige materielle Außenwelt ihren Be-
rechnungen zugrunde legt, ist nur eine einseitige Ab-
straktion. Dies wollte Lange sagen, wenn er überall das
methodologische Recht des Materialismus,
aber auch ebenso stark sein metaphy sisiches
(oder vielleicht besser — erkenntnistheore-
tisches) Unrecht betonte: Die materialistische Betrach-
tungsweise der Welt ist eine notwendige und nützliche
Fiktion, ist aber falsch, sobald man in ihr eine Hypo-
these sieht. Der Kampf Langes, der so häufig miß-
verstanden wurde, weil er einerseits für und andererseits
gegen den Materialismus sich ins Zeug warf, gewinnt
durch diese Formulierung eine neue, und wie ich glaube,
auch erhellende Beleuchtung.
Nicht allein die Empfindungen der sogenannten höheren
Sinne, auch die der niederen haben wir kein Recht,
auch ohne uns, die Subjekte, absolut existierend an-
zunehmen : nicht bloß die farbige und tönende Welt be-
steht nur aus und in unseren Empfindungen, auch die
Materie und Materialismus als Hilfsvorstellungsweisen. 203
Aussagen des Tastsinnes geben einzig und allein Modifi-
kationen unseres psychologischen Organismus an. Die
alte, schon von Demokrit zur Geltung gebrachte Wahrheit,
daß die sogenannten sekundären Eigenschaften nur rela-
tive Vorgänge sind, ist in neuerer Zeit auf die primären
Eigenschaften ausgedehnt worden ; wie nun aber die
Farbenlehre eines Goethe von den Farben spricht, als
wären sie objektiv existierende Eigenschaften, so spricht
der Materialismus von Materie, Stoff und Handgreiflich-
keit, als wären dies reale Dinge, die auch ohne unsere
Empfindung genau so da sind, wie wir sie empfinden.
Wie aber ferner jene Betrachtungsweise der Farben eine
bequeme Abstraktion von dem Beisatz des Subjekts
sein kann, welche z. B. zu Zwecken ästhetischer, kunst-
wissenschaftlicher Studien wohl unentbehrlich ist, so muß
auch die Naturwissenschaft ihrerseits von jenen Eigen-
schaften reden, als wären sie objektiv und absolut.
Sie sieht zum Zweck des bequemeren Vortrages ganz ab
von dem Ichbeisatz, von dem Subjekt, davon, daß ja
alle diese vermeintlich objektiven Eigenschaften nur rela-
tiv in bezug auf das Subjekt Geltung haben, und spricht
und rechnet, als ob wirkhch die materielle Außenwelt
so fest außer uns stünde, und a 1 s o b auch ohne das Sub-
jekt die Dinge so wären, wie sie uns erscheinen. Während
faktisch alles, was wir erfahren, nur unsere Sensationen
sind, die daher immer nur in bezug auf das Ich Gültigkeit
haben, sehen wir bei der naturwissenschaftlichen Be-
trachtungsweise ganz von diesem Tatbestände, von dem
Subjekte ab und legen unseren Berechnungen viel ein-
fachere Verhältnisse zugrunde, als die genau beobachtete,
reine Wirklichkeit sie uns darbietet.
Diese Loslösung unserer Sensationen von dem Mutter-
boden unserer Subjektivität ist in neuerer Zeit im An-
schluß an Berkeley und Hume, insbesondere von Mi 11
und Taine zum Gegenstand eingehender Untersuchung
gemacht worden, und in Deutschland hat in Erneuerung
Kantischer Doktrinen dasselbe Lange nachdrücklich be-
tont. Der feine analytische Geist der Engländer hat ins-
besondere jene Loslösung bis in ihre feinsten psychologi-
schen Motive verfolgt, während Lange methodologisch mid
systematisch, mehr die Notwendigkeit und das Recht, die
204
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
losgelöste materielle Außenwelt der naturwissenschaft-
lichen Betrachtungsweise zugrunde zu legen, gegenüber
sinnlosen Angriffen verteidigte, nicht ohne aber dabei eben
stets von neuem darauf aufmerksam zu machen, daß der
ganze Materialismus nur eine provisorische, methodolo-
gisch erlaubte, aber nicht mit einer metaphysischen Wirk-
lichkeit zu verwechselnde Hilfsvorstellung sei.
§ 12.
Die abstrakten Begriffe als Fiktionen.
In der abstrakten Vorstellung wird V/irklichkeitsfak-
toren, welche faktisch unselbständiger Natur sind^ „die
Form der gegenständlichen Selbständigkeit geliehen,
jedoch mit dem Bewußtsein, daß dieselbe nur eine fin-
gierte, nicht eine reale ist^)“. Die Einzelexistenz, welche
wir an selbständigen Objekten beobachten und auffassen,
wird auf unselbständige Teilvorstellungen leihweise über-
tragen; diese werden substantiviert; so entstehen alle
jene Begriffe wie Süßigkeit, Röte, Raum, Kausalität, Iden-
tität, Grund, Folge, Verhältnis, Tugend, Schönheit, Liebe,
Allmacht, Haß, — also ein ungemein wichtiger und zahl-
reicher Bestandteil unseres Vorstellungsschatzes verdankt
dieser Fiktion seine Entstehung. „Abstraire“, sagt Con-
dillac^), „c’est separer une idee d’une a.utre ä laqueile
eile paroit naturellement unie . . . voilä l’artifice des
idees que nous nous formons 3). Nous pouvons donc
les observer comme si elles existoient sepa-
rees de la substance qu’elle modifient . . . c’est ce
qu’on nomme une idee abstraite^).“ Wie wir die uns be-
kannte Formel der Fiktion bei Condillac finden — ob-
server comme si — so sagt Bachmann^): „Abstrahie-
ren von etwas, heißt dasselbe aus dem Bewußtsein weg-
lassen und nur das andere festhalten. Wenn A und B au
h Überweg, Logik, § 47.
Tratte des sensations 96.
Condillac, L’art de Penser, 93, 94.
h Condillac, Grammaire LXX, LXXIl.
Bach mann, Logik 1828, § 44.
Die abslrakfen Begriffe als Fiktionen.
205
sich ZU einem Objekte verbunden sind, so abstrahieid man
von A, wenn man B allein, in seiner Reinheit denkt,
gleich als ob A gar nicht da wäre.“
Condillac bat das dabei waltende Gesetz der ent-
gegengesetzten Operationen vollständig richtig er-
kannt, und es ist daher in der Ordnung, wenn wir uns mit
seinen Gedanken über diesen Gegenstand noch näher be-
schäftigen. ^
Abstrahieren ist dekomponieren : es ist die Trennung u»-
einer Sache von einer anderen, deren Teil sie ist: die-JL
abstrakten Begriffe sind somit Partialbegriffe, welche
von ihrem Ganzen losgerissen sind. Indem wir die
Farbe oder die Gestalt logisch loslösen von dem köi^er-
lichen Substrat, erhalten wir eigene Wissenschaftssphären,
welche sich mit diesen Qualitäten allein beschäftigen,
ohne die Substanzen, an v/elchen allein sie zur Erschei-
nung gelangen.
Allein dieser Prozeß birgt eine große Gefahr in sich
und führt leicht zu vielen und schweren Irrtümern, welche
schlimme Konsequenzen nach sich ziehen. „Viele Philo-
sophen sind in diesen Irrtum gefallen : sie haben alle ihre
Abstraktionen realisiert oder haben sie als Wesen be-
trachtet, welche eine reelle Existenz haben, unabhängig
von derjenigen der Dinge.“ Pielationen, Modifikationen
und Formen werden hypostasiert. Da unser Geist zu be-
schränkt ist, um eine große Anzahl Modifikationen zu
gleicher Zeit der Betrachtung zu untenverfen, nimmt er
eine nach der anderen und trennt sie daher von ihrer
Substanz; er nimmt ihnen damit eigentlich ihre Realität.
Da aber, föhrt Condillac fort, doch diese abstrakten Quali-
täten, welche von ihrem Mutterboden losgerissen sind,
Gegenstände des Geistes werden sollen, so ist das nur so
möglich, daß er diese unrealen Qualitäten doch als
Realitäten betrachtet: „Gewöhnt, immer wenn er
sie an ihrem Objekt betrachtet, sie mit einer Realität
zusammenzusehen, von der sie dann nicht unterschieden
sind, behält er für sie so sehr wie möglich diese Realität
bei, auch wenn er sie von ihrem Substrat unterscheidet
(oder besser aus dem immer zusammenseienden Qualitäten-
verband willkürlich in der Vorstellung herauslöst). Der
Geist widerspricht sich damit: einerseits faßt er diese
206
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
Modifikationen ohne irgendeine Beziehung zu dem reellen
Objekte auf, und dann sind sie strenggenommen nichts
mehr; auf der anderen Seite, weil man das Nichts nicht
erfassen kann, betrachtet er sie als ein Ding und
fährt fort, ihnen dieselbe Realität zu geben, mit welcher
er sie anfangs beobachtet hat, obgleich sie ihnen nicht
mehr gebührt. Mit einem Wort: diese Abstraktionen,
obgleich sie nur Teilvorstellungen waren, haben sich mit
der Vorstellung eines selbständigen Dinges verbunden.“
„Wie fehlerhaft auch dieser Widerspruch
sein mag, er ist nichtsdestoweniger not-
wendig.“
Die Abstraktionen, welche wir als etwas Reales zu
betrachten gezwungen sind, sind somit Kinder der Ein-
bildungskraft; und der Fehler aller Scholastik besteht
darin, daß sie aus diesen Fiktionen selbständige Wesen
macht; die qualitates occultae (z. B. Lebenskraft) sind
Folgen dieser verhängnisvollen Verwechslung: „Les ab-
stractions sont donc souvent des fantömes, que les philo-
sophes prennent pour les choses memes.“
Ein weiteres Beispiel sind die Seelenvermögen. Schon
Locke spricht die Befürchtung aus, daß die Art und
Weise, wie man von diesen Vermögen spricht, bei vielen
die konfuse Vorstellung von ebenso vielen gesonderten
Agentien in uns erwecke, welche als besondere Wesen
verschiedene Gebiete beherrschen. Es hat dies eine große
Menge nichtiger Dispute, dunkler und unsicherer Unter-
suchungen über diese vermeintlichen Seelenvennögen her-
beigeführt, z. B. ob das Urteil dem Verstände oder dem
Willen angehöre, ob diese beiden gleich frei und selb-
ständig seien, ob der Wille der Erkenntnis fähig sei, oder
ob er eine blinde Kraft sei; ob der Wille den Verstand
oder dieser jenen lenke usw. Auf diese Weise ist die
Seele vervielfacht worden, indem man aus bequemen Ab-
straktionen Wirklichkeiten machte: denn Abstraktionen
sind jene Fakultäten, da in Wirklichkeit kein einziger
Willensakt ohne Vorstellungstätigkeit, kein Vorstellungs-
akt ohne Willen oder Gefühl vor sich geht. In allen
solchen Fällen ist die Hauptschutzmaßregel gegen Ge-
fahren die Vermeidung der Hypostasierung und der Rück-
gang zu den wirklichen, elementaren Vorgängen, aus
Die abstrakten Begriffe als Fiktionen.
207
denen jene Abstraktionen sich erst gebildet haben, also
zur Beobachtung des Einzelnen und Wirklichen in seiner
erscheinenden Mannigfaltigkeit und seinen unauflöslichen
Verbindungen.
Den deutlichsten Ausdruck erhalten diese fiktiven Ab-
straktionen in der Sprache, indem wir von ihnen durch-
aus sprechen, wie von Einzelsubstanzen: wir geben ihnen
. Adjektiva, wir fügen ihnen Verba an; wir sagen: der
Raum hat drei Dimensionen ; der Krieg rafft die Menschen
hinweg ; wir sprechen von Eigenschaften und Handlungen
des Ruhms, der Tugend, der Weisheit, der Gerechtig-
keit WSW. Wir leihen diesen Abstraktionen also Sub-
stantialität, als ob sie etwas Besonderes, selbständig
Existierendes wären ohne die Objekte, an denen wir sie
faktisch finden.
Dieser Zusammenhang der Abstraktionen mit der
Sprache ist insbesondere von Gruppe (im Anschluß an
Condillac) betont worden, und derselbe hat die schlimmen
Verheerungen, welche die eben durch den Sprachgebrauch
begünstigte Verwechslung der Abstrakta, d. h. also der
Fiktionen mit Wirklichkeiten in der Philosophie ange-
richtet hat, einer scharfen Kritik unterworfen.
In dem „Antäus“, dem bedeutenden Monument eines
trotz der Jugend des Verfassers ungemein unabhängigen
und selbständigen Denkens, — der „Antäus“ erschien
1831, also fünfzig Jahre nach Kants Kr. d. r. V. — hat
sich Gruppe die Aufgabe gestellt, „zu untersuchen, wel-
chen Anteil die Sprache und deren Mittel und Ausdrucks-
weise am Denken habe“. Wir bedienen uns einer Anzahl
abstrakter Ausdrücke, und nur mittels ihrer ist
Spekulation möglich. Lassen sie nun ihrer Natur
nach eine solche Anwendung zu?
In der gewöhnlichen Sprechweise (ibidem 276) sind
aber die Abstraktionen nicht nur ohne Irrung und Gefahr,
sondern auch heilsam, sowie schnell zum Ziele führend.
Allein die spekulative Philosophie reißt die Abstrakta
aus ihrem Zusammenhänge heraus und macht aus ihnen
Realitäten. „Für den gewöhnlichen Sprachgebrauch sind
sie nichts als geschickte Abbreviaturen; sie
sind aus der sprachlichen Praxis ent^rungen und leiden
nur praktische Anwendung; aus ihnen selbst aber
20«
Zweiter Teil: Spezielle Austüljrungeii.
ist nichts Theoretisches abziileilen; man kann nichts
aus ihnen heraiisklauben ; sie sind nur Mittel, nicht In-
halt; nur Abbreviaturen und Hilf sau s drücke.“
Es sind die Abstrakta Rechnungsvorteile und über-
heben uns vieler Weitschweifigkeit. Wir können mittels
ihrer in die Nuancen der Objekte viel feiner eindringen,
indem wir Merkmale ohne die Objekte, an denen sie sich
finden, zum Gegenstand der Aussage machen. Aber
schließlich muß immer wieder auf die Konkreta zurück-
gegangen werden datier der Name Antäus — , an denen
jene Merkmale, aus welchen wir selbständige Abstrakta
gemacht haben, sich vorfinden. Sonst bewegt sich das
Denken in der Luft, statt auf dem Boden der Erfahrung.
Sobald die Abstrakta zu Aussagen mißbraucht werden,
weiche, sobald man die konkreten Dinge und ihre Ver-
hältnisse dafür einsetzt, sinnlos werden, hat man die nöti-
gen Vorsichtsmaßregeln außer Augen gelassen. Welchen
Mißbrauch hat die Hegelsche Philosophie mit Abstraktis
wie: Zahl, Größe, Geschwindigkeit, Quantität, Qualität,
Negation, Nichts, Sein, Werden, Einheit, Unterschied usw.
getrieben. Alles das sind, sagt Gruppe treffend (285),
sehr begreifliche Abstraktionen, „ganz arglose, grund-
ehrliche Worte; allein man vergesse einen Augenblick,
was es mit ihnen zu bedeuten hat, so ist’s nicht mehr
unsere treue Muttersprache, sondern ein Rotwelsch, eine
Gaunersprache, die zu unserem Verrate dient; es sind
Irrlichter, die in Sümpfe führen.“ Durch keine philo-
sophische Tortur kann man ihnen etwas abfragen.
So notwendig die Abstrakta zum Denken und Sprechen
sind, so wenig Aufschluß läßt sich aus ihnen über die
reale Welt gewinnen; und sobald man sie hypostasiert
und sie sich vorstellt als besondere Wesen, ausgestattet
mit Leben und mit Eigenschaften — und so denkt sie
sich alle spekulative Philosophie mit Hegel — , so hat
m.an den Fundamentalirrtum begangen, Fiktionen in
Wirklichkeiten, provisorische logische Mitte 1-
gebildein reale, definitive Wesen zu verwandeln.
Aus diesem Irrtum entstehen dann jene „questions frivoles"',
wie sie Condillac nennt, jene verz\vickten und anschei-
nend tiefsinnigen Fragen, die in ihrer Falschheit mid
Verkehrtheit nur erkennbar sind, wenn man auf die kon-
Die absfrakt.en Begriffe als Fiktionen.
200
kreten Dinge zurückkehrt. „Ein bösartiger Geist“, ruft
Gruppe aus (311), „gab dieses Mittel dem Menschen, —
und doch war es eben der Geist der Kultur selbst, welche
ohne dieses Mittel kaum einen Schritt tun konnte.“ So-
mit sind die Abstrakta zwar notwendige Hilfsmittel des
Denkens, und sie entsprechen einem praktischen Bedürf-
nis — aber sie geben keine theoretische Erkenntnis, man
mag sie drehen und wenden, definieren und distinguieren,
wie man will. Man verwechselt Faktum und Fik-
tum, Sache und Mittel, wenn man aus diesen Hilfs-
ausdrücken etwas folgern will. Es ist ein gänzliches
Verkennen des Instrumentes, dessen man sich bedient:
man nimmt das Instrument für die Sache, zu
deren Bearbeitung es dient.
Gruppe spricht das Gesetz der Fiktionen ganz allgemein
ans mit den denkwürdigen Worten: „Unsere for-
schende Wissenschaft ist eine stete Regula
falsi^ sie muß, um nur einen Ansatz ihres
Exernpels zu haben, von irgendeiner Voraus-
setzung und Annahme ausgehen, welche sie
dann im Verfolg zu korrigieren und modifi-
zieren sucht.“ Als ein Beispiel dieser allgemeinen
Regel sind die Abstrakta und ihr Gebrauch zu betrachten;
wir machen hei denselben Fehler, welche nach-
her wieder zu korrigieren sind. Wir setzen an
Stelle des Konkreten Abstraktes, und nachher muß für
das Abstrakte wieder Konkretes eingesetzt werden. Was
wir bei ihrer Bildung wegnehmen, subtrahieren, muß bei
der definitiven logischen Rechnungsablage wieder hin-
zugefügt, addiert werden.
Obgleich Hegel die Leerheit der abstrakten Begriffe voll-
ständig einsah, obgleich er erkannte, daß das Denken
mit ihnen auf Widersprüche führt, fand er gerade darin
das Wesen des Realen. Hatte Platon die abstrakten Sub-
stantiva als höhere, mit bevorzugter Realität ausgestattete
Wesen betrachtet, so findet Hegel in ihnen wirksame kos-
mische Kräfte. Es sind diese Abstrakta aber nur Rech-
nungsvorteile, logische Kunstgriffe; „die Frage nach ihrer
Realität hat“, wie Gruppe ganz richtig bemerkt, „hier
gar keinen Sinn, und das Unmögliche kann ebensogut
als vorübergehender Ausdruck das Seinige leisten, wie
Vaihinger, Philosophie. 14
210
Zweiter Teil; Spezielle Auslühriingen.
in der Mathematik der Ausdruck ^ — 1 ; ganz wie letzterer
eine imaginäre Größe, d. h. eine bloße Fiktion ist, so auch
mit der Sprache, welche man in vielen Fällen für nichts
anderes als ein Papiergeld zu achten hat.“ So hat Gruppe
in bezug auf die abstrakten Begriffe die Natur der Fik-
tion sehr richtig eikannt, ohne damals gehört zu werden.
§13.
Die Allgemeinbegriffe als Fiktionen.
Ein beliebter Kunstgriff des Denkens, der sich an die
Abstraktion unmittelbar anschließt, sind die Zusammen-
fassungen, welche zu Allgemeinbegriffen führen.
Das Wort ist ein fruchtbares Hilfsmittel für die Fixie-
rung von Allgemeinbildern. Das Wort unterstützt den
begrifflichen Typus. Dieser bekommt eben eine neue
Art Anschaulichkeit, resp. eine sinnliche Stütze durch
das hörbare Wort. Aber es läßt sich z. B. für das Wort
„Baum“ keine deckende Anschauung nachweisen. Die
Anschauung hat immer entweder einen grünen oder einen
trockenen, einen hohen oder niedrigeren usw. Ba.um zum
Inhalt: Das Wort „Baum“ dagegen bezeichnet ein Etwas,
welches in allen Anschauungen vom Baume vorkommt,
welchem aber jede nähere Bestimmung fehlt = es be-
deutet einen Baum, welcher nicht belaubt und nicht
blätterlos, nicht reich und nicht arm an Zweigen usw. ist.
Was ist nun aber im Verhältnis zur realen Wirklich-
keit das Allgemeinbild, was der Begriff? Objektiv gibt es
nur Einzelnes, gibt es nur Getrenntes. Wir sahen
eben, daß der Vorstellung „Baum“ nichts Reales ent-
spricht, was sich mit ihr deckt. Also weicht auch hier
das Denken von der Wirklichkeit ab. Es gibt
nur einzelne „Sterne“, keinen „Stern“, es gibt nur ein-
zelne „Hunde“, keinen „Hund“ überhaupt. Es gibt nur
einzelne „Menschen“, keinen „Menschen“ überhaupt. Alle
diese Vorstellungen stellen absolut nichts Wirkliches dar:
wirklich ist nur das einzelne Geschehen, welches der
Seele zugetragen wird, welches sie aufnimmt und ver-
arbeitet. In diesem allgemeinen Flusse bilden sich Knoten-
Die Allgemeinbegriffe als FikUonen.
211
punkte, indem sich einige prominente Eigenschaften als
Kern konstituieren.
Also „Stern“, „Hund“, „Mensch“ sind Vorstellungen,
denen keine Wirklichkeit entspricht. Diese Be-
griffe sind demnach psychische Gebilde, welche das Den-
ken aus dem gegebenen Material herausarbeitet vermöge
des dargelegten psychischen Mechanismus. Allein diese
rein mechanischen Produkte des psychischen Lebens er-
füllen einen ungeheuer wichtigen Zweck. Der Begriff,
die Allgemeinvorstellung für sich bedeuten noch keine
Erkenntnis; — abgelöst und isoliert vom Satz sind sie
fiktive Gebilde, denen nichts Wirkliches korrespondiert.
Allein an die Allgemeinvorstellung knüpft sich der Satz
an, sie drängt von selbst zum Satz. Vermittels dieses
an die Allgemeinvorstellung angehefteten Satzes wird
nun der eigentliche Zweck des Denkens erreicht; nur da-
durch ist das allgemeine Urteil möglich; und darauf
beruht alles Klassifizieren, Ordnen, alles Begreifen, Be-
weisen und Schließen.
Was ist denn aber jenes Allgemeinbild, unter das der
einzelne Fall subsumiert wird? Es ist eine reine Fik-
tion — denn ihm läßt sich nichts Wirkliches
als in der Außenwelt existierend und ihm kor-
respondierend nachweisen. Nichtsdestoweniger ist
doch auch hier der Gewinn, welcher durch diesen
Kunstgriff des Denkens, nämlich die Bildung von
Allgemeinbildern durch Generalisation, erreicht wird, ein
sehr erheblicher. Es werden durch die Allgemeinvorstel-
lungen auch die allgemeinen Urteile ermöglicht; z.B.
„der Stein ist hart“, „der Hund ist treu“, „der Mensch ist
sterblich“. Allein bei genauerer Betrachtung zeigt sich,
daß diese Redeweise, diese Denkweise, so sehr sie den
Ausdruck und das Denken erleichtert, doch nur auf einem
Kunstgriff beruht. Es wird hier von Dingen ge-
sprochen, und es werden ihnen Eigenschaften zugefügt, —
aber es wird von Dingen gesprochen, welche doch
nimmermehr existieren. Es wird auf diese reinen
Vorstellungsgebilde die Dingkategorie angewandt, sie wer-
den also als objektive Wesen behandelt, denen Eigen-
schaften angehören. Diese Ausdrucksweise ist zwar sehr
bequem und fruchtbar; denn sie gestattet die Zusammen-
212
Zweiler Teil; Spezielle Ausfüliruiigen.
fassung vieler Einzelnen, nichtsdestoweniger ist daran
festzuhalten, daß der durch Abstraktion gebildete Begriff
nur ein Vorstellungsgebilde, d. h. eine Fiktion ist.
Es wäre unnötig, hierüber weiter Worte zu verlieren,
wenn nicht in der Philosophie die Meinung aufgetreten
wäre, diesen Vorstellungsgebilden entspreche etwas Objek-
tives, sie seien also keine Fiktionen, sondern Hypo-
thesen, wenn also nicht an Stelle des allein existieren-
den Einzelnen das Allgemeine und Begriffliche für real er-
klärt Avorden wäre. Hier ist ein Beispiel, wie ein for-
meller Kunstgriff des Denkens zu einem Irrtum Anlaß
gegeben hat.
Vermittels der Fiktion eines allgemeinen Din-
ges ist es nun dem Denken möglich, viel rascher und
sicherer zu operieren, als wmnn es alles Einzelne stets
einzeln aufzählen müßte. Nur durch diese praktische Zu-
sammenfassung ist der eigentliche Bau der Wissenschaft
möglich: Das Beweisen, Schließen, Deduzieren, die durch
die Allgemeinbegriffe erst ermöglichten allgemeinen Sätze
vermitteln den wissenschaftlichen Verkehr. Allein es darf
nicht vergessen werden, daß die allgemeinen Urteile, wenn
an ein allgemeines Subjekt angeknüpft, nur eine be-
queme Ausdrucksweise sind. Ein solches Allgemein-
subjekt existiert ja nicht.
Die schlimmen Folgen einer entgegengesetzten Auf-
fassung machten sich geltend. Aber indem die Begriffe
von Philosophen, von Platon bis Hegel, und bis über
diesen hinaus weit hinein in die Gegenwart, als objek-
tiv existierend aufgefaßt werden, sollen ihnen Dinge
an sich entsprechen; sie sollen gegenüber dem Einzelnen
das bleibende Wesen ausdrücken; dieses bleibende
Wesen wird zu einem Kraftding hypostasiert, welches
dann als der allgemeine reale Grund der einzelnen
Erscheinungen gefaßt wird. Zu allem Wahrgenommenen
wird nun das Ding als dessen Grund und Wesen hinzu-
gedacht. Und je allgemeiner, desto mächtiger und
wirksamer soll dieser Grund sein, der immer mehr
hypostasiert wird. Die Allgemeinbegriffe gelten nun als
das subjektive Gegenbild wirklich existierender
kraft begabt er Substanzen, welche als die hinter
Die Allgeineinbegriffe als FiklioneM,
213
und über den Einzelnen stehenden Kräfte, Quellen, aus
denen das Einzelne fließen soll, aufgefaßt werden.
Hier haben wir nun den Gipfel des ]\lißbrauches, dei
mit den logischen Formen, die doch bloße Kunst-
griffe des Denkens sind, getrieben wird. Die Pro-
dukte des Denkens werden hypostasiert, und das wirklich
Seiende wird verachtet. Wirklich sind aber nur die ein-
zelnen Phänomene, die einzelnen sukzedierenden und
koexistierenden Phänomene. So werden wiederum die
bloßen Hülsen des Denkens an Stelle des Kerns gesetzt.
Es wird eine wahre Hierarchie der Begriffe ge-
bildet, wonach die niederen sukzessive in höhere ein-
geschlossen werden, bis zuletzt nur ein ganz allgemeiner
und umfassender Begriff, der des Etwas, übrig bleibt. Die
künstlich und kunstreich ausgedachten Begriffe bilden
nicht nur ein maschenreiches Netz, dessen einzelne Ringe
ineinander eingreifen, sondern auch eine Leiter, deren
Sprossen Übereinanderliegen. Das Denken schafft sich so
ein überaus künstliches Hand w e r k s z e u g zur Erfassung
und Bearbeitung des Wirklichkeitsstoffes, aber eben ein
bloßes Werkzeug, das wir oft für die Sache selbst nehmen.
Der extreme Nominalismus verwirft den Gebrauch von
Denkformen, auf denen doch alle menschliche Wissen-
schaft beruht, und verkennt die praktische Brauchbarkeit
solcher logischen Kunstgriffe. Der Begriffsrealismus da-
gegen folgt dem ebenso unvernünftigen als unverwüst-
lichen Hange des Menschengeschlechts, alles Subjektive
zu objektivieren, alles bloß Logische zu hypostasieren.
Jener Personifikationstrieb des menschlichen Geschlech-
tes, den Lange in seiner „Geschichte des Materialismus“
häufig gekennzeichnet hat, ist auch bei der Realisierung
der Allgemeinbegriffe im Spiele : wir bringen das Allge-
meine unter die beliebte Substanzkategorie, fassen es als
Ding mit Eigenschaften und Kräften. Der unkritische
Sprachgebrauch hat aus dem alles personifizierenden
Kindeszeitalter der Menschheit diese Redeweise mit her-
übergenommen : wie der Astronom noch vom Auf- und
Untergang der Sonne spricht, so wenden auch wir jene be-
quemen Hilfsausdrücke, die Allgemeinbegriffe an^ als ob
das Allgemeine wirklich etwas Existierendes
wäre. Wenn sie die Seele des Allgemeinen als ein Ding mit
214
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
Eigenschaften betrachtet, so soll ihr das bequeme
und brauchbare Spiel nicht versagt sein, nur soll
sie nicht Ernst daraus machen und das Als ob
nicht in ein starres Daß verwandeln. Sonst wird aus den
Hülsen ein Kern gemacht, und das wahrhaft Kernhafte am
Dasein, die Einzelerscheinung und der Einzelvorgang wer-
den als bloße Nebensache angesehen. In diesem Sinne hat
daher Mill mit vollem Recht das Allgemeine nur als
logischen Durchgangspunkt für das Einzelne be-
trachtet: das Allgemeine, die Bildung von Allgemein-
hegriffen ist ein bequemes Denk mittel.
Mit dieser Vermittlung ist die Leistung des Allgemeinen
zu Ende, und es wird aus der Denkrechnung herausf allen,
wenn es gelungen ist, vermittels desselben das Einzelne;,
das uns interessiert, zu bestimmen. Die Allgemein-
begriffe und Allgemeingesetze spielen also nur
ein3 dienende Rolle.
Vieles von dem, was über die abstrakten Begriffe ge-
sagt wurde, gilt auch von den Allgemeinbegriffen“. Be-
sonders das meiste von dem, was dort von Coiidillac
angeführt wurde, ist auch für diese Art von Begriffen be-
stimmt, da Condillac beide Gattungen nicht trennt. Er
nennt die Allgemeinbegriffe des idees sornmaires et des
expressions abregees, denen man nicht mehr Realität zu-
schreiben solle, als sie haben; sie sind notwendige
Hilfsmittel des Denkens; sie sind notwendig wegen
der Enge unseres Geistes; nur der diskursive Verstand
bedarf ihrer, nicht der intuitive, göttliche. Condillac ver-
gleicht die Begriffe mit Hebeln, welche der Verstand an-
wendet, um sich die Natur zu unterwerfen; mittels ihrer
nimmt der Geist seinen Aufschwung*, erhebt sich, gelangt
zum Unbekannten und bringt Ordnung in seine Kennt-
nisse. Darin liegt eben, daß die Allgemeinbegriffe
nur fiktive Hilfsmittel des Denkens sind.
Dieselben Irrtümer, welche aus dem Mißbrauch und
der Verkennung der Abstrakta sich ergeben, finden sich
auch hier. Der Begriffsrealismus ist heutzutage noch
nicht ganz überwunden, und man denkt sich die Arten
häufig genug noch als selbstänclig existierende Kräfte oder
Substanzen.
Die Allgemeinbegriffe als Fiktionen.
215
Die formae substantielles ^ die species intentionales, die
Essentiae, das Wesen usw. sind nach Condillac die Fol-
gen dieser Verwechslung von Fiktion und Realität ge-
wesen. Die Begriffe: Körper, Tier, Mensch, Metall, Gold,
Silber usw. enthüllen, wie er bemerkt, in den Augen der
Philosophen Wesen, welche den übrigen Menschen ver-
borgen sind. Es entstehen daraus jene questions frivoles:
ob Eis und Schnee Wasser seien, ob eine Mißgeburt ein
Mensch sei, ob die Geister Substanzen seien usw., Fra-
gen, welche voraussetzen, daß die Fragenden an die
Existenz gewisser Essentien, gewisser Realitäten glauben,
welche mit den Allgemeinbegriffen bezeichnet werden.
Auch die Meinung, durch subsummierende Definition eines
Dinges, durch Angaben seines Gattungsbegriffes eine Er-
kenntnis zu gewinnen, ist — nach Condillacs richtiger
Bemerkung — einer jener daraus resultierenden Irrtümer.
Ganz so betrachtete schon Locke die Allgemeinbegriffe.
Die Allgemeinvorstellungen sind Gebilde oder Erfindun-
gen der Seele. Locke hebt hervor, daß diese Allge-
meinvorstellungen in sich widerspruchsvoller Natur seien,
weil z. B. ein Dreieck weder schief- noch rechtwinklig,
weder gleichseitig noch ungleichseitig sein dürfe und doch
zugleich alle diese Formen umfassen müsse. Somit ist
eine Gesamtvorstellung etwas, was nicht bestehen könne,
denn es seien darin unverträgliche Vorstellungen verbun-
den. Allerdings aber, setzt er hinzu, „braucht die Seele,
bei ihrem unvollkommenen Zustande, solche Vorstellun-
gen und sucht sie wegen der Beweglichkeit für den Ver-
kehr und der Ausdehnung des Wissens so schnell als
möglich zu gewinnen“. In diesen Worten spricht Locke
das Wesen der Fiktion mit klarem Bewußtsein aus:
die Allgemeinbegriffe tragen in der Tat den Charakter
echter Fiktionen an sich: sie sind widerspruchsvolle Ge-
bilde, sie sind logisch unmögliche Erdichtungen, aber sie
sind unentbehrliche, nützliche Hilfsmittel des Denkens:
sie sind logisch nützlich, weil sie logisch unmöglich sind.
Das Denken kann sie nur darum für seine Zwecke ge-
brauchen, weil sie, vom streng logischen Standpunkt aus,
theoretisch widerspruchsvoll sind. Man kann mit einem
Oxymoron sagen: sie sind logisch nur darum brauchbar,
weil sie — logisch unbrauchbar sind.
216
Zweiter Teil : Spezielle Ausfüliruiigeii.
§14.
Summatorische Fiktionen; Nominalhktionen,
Substitutionen.
Derselbe Prozeß, welcher der Bildung der Allgeineiii-
begriffe zugrunde liegt, wird in wenig veränderter Weise
auch sonst häufig angewandt und gibt dann Anlaß zur
Entstehung der summatorischen Fiktion. Als ein
prominenter Fall dieser Klasse ist der Siibstanzbegriff
anzuführen, also das Ding. Wir sprechen Von Dingen mit
Eigenschaften: wir sagen, der Baum, dieser Baum, der
vor mir steht, hat die Eigenschaften der Ausdehnung,
Härte, Glätte, diese oder jene Figur, diese oder jene Größe.
Was ist nun dieses Ding, das diese Eigenschaften hat?
Diese Substanz, sagt Taine richtig, ist der unbestimmten
Reihe ihrer bekannten und unbekannten Eigenschaften
vollständig äquivalent. Wenn man alle Eigenschaften
sukzessiv wegnimmt, so bleibt keine Substanz mehr; sie
ist das Zusammen, die Eigenschaften sind die einzelnen
Faktoren dieses Zusammen: das Subjekt ist die Summe
seiner Attribute. „Mein Substanzbegriff ist also nur ein
Resümee; er ist äquivalent der Summe der Vorstellungen,
welche ihn zusammensetzen, wie eine Zahl der Summe
der Einheiten, wie ein Abbreviatursymbol den Dingen, für
welche es als abkürzendes Zeichen steht i).“
Somit ist der Begriff eines Dinges nichts als
eine summatorische Fiktion, und die Redeweise,
daß das Ding die und die Eigenschaft habe, beruht auf der
Hilf s vor Stellung, als ob dieses Zusammen noch etwas
außer und neben den Eigenschaften wäre, wie die Gat-
tung noch als etwas außer und neben der Vielheit der
Einzeldinge Existierendes gedacht wird.
Solche Abbreviaturen vermittels Hilfsworten, die man
daher auch Verbalfiktionen nennen kann, werden
in allen Wissenschaften angewandt. Eine ganze Reihe
wohlbekannter Begriffe, z. B. „Seele“, „Kraft“, die ver-
schiedenen „Seelenvermögen“ usw. gehört hierher. Wäh-
rend diese Begriffsgebilde früher häufig und auch jetzt
noch als Ausdrücke realexistierender Entitäten galten
q Taine, de ITntelligence II, 12.
Summa torische Fiktionen, Noniinalfiktionen, Substitutionen. 217
und gelten, sind sie in Wahrheit nur zusainmenfassende
Ausdrücke für eine Reihe zusammengehöriger Phäno-
mene und zusammenhängender Prozesse. Ein lehrreiches
Beispiel hierfür ist „die Anziehungskraft“. Newton sagt
ausdrücklich, daß er ferne davon sei, eine solche Kraft
als etwas Besonderes neben den Erscheinungen anzu-
iiehmen; er betrachtet den Ausdruck nur als eine summa-
torische, abkürzende Redensart für das Zusammen aller
hierhergehörigen Erscheinungen und naturgesetzlichen
Vorgänge.
So ist auch „Lebenskraft“ — im Munde der neueren
Naturwissenschaft - - nur eine Abbreviatur für das Ganze
der die Lebenserscheinungen beherrschenden Ursachen,
Nur im Kopfe von Dilettanten spukt die Lebenskraft noch
als eine besondere Realität, so daß also hier das Vorstel-
lungsgebilde als Hypothese oder gar als sicheres Dogma
gilt: die exakte Physiologie und Medizin gebraucht deu
Ausdruck nur als ein bequemes Hilfswort. Ein solcher
Begriff hat weiter keinen Wert als den praktischen, näm-
lich um der Zusammenfassung des Vielen und der Er-
leichterung der Ausdrucksweise zu dienen. In solchen
Nominalfiktionen ist nichts weiter gesagt, als was
die einzelnen Phänomene selbst sagen können, und wenn
man durch solche Worte etwas begriffen und gesagt zu
haben glaubt — eine Naivetät, die noch weit in die
Gegenwart hineinreicht — , so vergißt man, daß diese Aus-
drücke rein t autologisch sind.
„Kraft überhaupt“ ist eine solche tautologische Fiktion.
Kraft ist nichts als eine leere Verdoppelung der Tatsachen,
nämlich der kausalen Sukzessionsverhältnisse. Man
schiebt in der Phantasie ' dieses Gebilde ein und glaubt
damit den Sachen genug getan zu haben. Für die posi-
tive Wissenschaft und eine auf ihr aufgebaute Philo-
sophie hat daher dieser Begriff nur den Wert einer be-
quemen Fiktion, welche, wie die Vorstellungs-, so
die Ausdrucksweise erleichtert. Die Annahme geheimer
Kräfte, welche die Sukzession der Phänomene beherr-
schen, hilft zur theoretischen Erklärung gar nichts und
kann deshalb nicht als eine Hypothese anerkannt werden,
wenn sie auch historisch fast immer als eine solche auf-
getreten ist. Mit dem Fortschritt der Kritik dorren solche
218
Zweiter Teil: Spezielle Ausfühniugen.
Fehlzweige am Baume der Wissenschaft ab und tun nur
noch praktische Dienste, indem sie die Vorstellung
unterstützen. Die wahre und exakte Wissenschaft be-
gnügt sich damit, die Fakta zu sammeln, um in ihnen
die gemeinsamen Grundzüge und kausalen Folgen aufzu-
finden. Die Einbildung früherer Jahrhunderte^ daß gewisse
Erscheinungskreise unter der Wirkung gewisser „Kräfte“
stehen, diese Einbildung ist als solche durchschaut, und
man behält die ganze Vorstellungsweise nur noch bei,
weil sie ein bequemes Vehikel der Darstellung
und des Ausdruckes ist. Die Verdoppelung der Er-
scheinungen, indem man sie nochmals als Kräfte ansetzt,
ist wissenschaftlich wertlos, hat aber einen gewissen
praktischen Nutzen.
In bezug auf die „Seele“ ist man in wissenschaftlichen
Kreisen jetzt allgemein darüber einig, daß man in diesem
Begriff nur eine Fiktion besitzt. Man spricht von einer
Seele, als ob es wirklich ein getrenntes, einheitliches,
einfaches Seelenwesen gäbe, obgleich man sich wohl be-
wußt ist, sich dabei nur einer Fiktion zu bedienen. Auch
die „Seele“ ist nur eine summatorische Fiktion, ohne
eigene Realität. An diesem Begriff läßt sich das Gesetz
der Ideenverschiebung sehr gut studieren: zuerst ist
„Seele“ Dogma, dann Hypothese, dann Fiktion. FürHume
und Kant ist die Seele nur eine Fiktion. Kants Nachfolger
haben, unfähig, die Fiktion in ihrem labilen Zustand fest-
zuhalten, und aus Bedürfnis nach stabileren Begriffen,
aus der Fiktion vielfach eine Hypothese oder gar ein
Dogma gemacht. Für den Kritizismus ist „Seele“ nichts
als ein bequemer Hilfsausdruck für die Gesamtheit der
psychischen Vorgänge. Man spricht so, als ob es eine
Seele gäbe.
Für diese Hilf sw orte gilt der Satz, daß eben, wo
Begriffe fehlen, die Worte sich zur rechten Zeit ein-
stellen. Denn wenn z. B. die Chemie eine Reihe ihr un-
erklärlicher Prozesse einer „katalytischen Kraft“ zu-
schreibt, so will sie mit dieser Nominalfiktion nur
einen bequemen Ausdruck geschaffen haben, welcher
einstweilen dienend fungieren soll, bis die richtige Er-
klärung gefunden ist. Solche Worte sind nur Schalen,
welche den sachlichen Kern Zusammenhalten und auf-
NaturkrUfte und Naturgesetze als Fiktionen.
219
bewahrea sollen. Und wie die Scliale sich in ihrer Form
dem Kerne anschmiegt und seine Gestalt verdoppelt
wiedergibt, so sind auch diese Hilfsworte nur lauter
logische Wiederholungen ohne sachlichen Wert. Die be-
kanntesten Beispiele sind ja die vis dormitiva und der
nisus formativiis. — Aber solche Ausdrücke zu ver-
werfen, das hieße ihre praktische Brauchbarkeit und
Handlichkeit verkennen und sich ohne Not eines be-
quemen Mittels berauben, zumal da heutzutage die
Gefahr des Mißbrauches nicht mehr so nahe liegt und
durch methodologische Einsicht vollständig überwunden
werden kann.
Es wird bei diesen Ausdrücken eine Substitution
vorgenommen, indem wir an Stelle des realen Einzelnen
den summatorischen Ausdruck setzen. Diese Methode der
Substitution dient auch sonst als bequemes Hilfs-
mittel des Denkens. Es können sogar alle Fiktionen als
Substitutionen im weiteren Sinn betrachtet werden, indem
ja an Stelle der Wirklichkeit irgendein Unwirkliches pro-
visorisch gesetzt wird. Als Substitutionen im engeren
Sinn sind hier solche logischen Operationen aufzuzählen,
bei denen eine Vorstellung stellvertretenderweise als
Symbol für ein anderes fungiert.
Die substitutive Verwendung ist insbesondere in der
Mathematik gebräuchlich. Es ist einer der häufigsten
Kunstgriffe der Mathematik, solche stellvertretenden Sym-
bole zu bilden. Die ganze Algebra beruht auf solcher
substitutiven Verwendung der Buchstaben an Stelle der
Zahlen, und wenn dann weiterhin z.B. für x y etwa u
gesetzt \vird — zur Erleichterung der Rechnung — so ist
dies ebenfalls ein substitutiver Kunstgriff.
§15.
Naturkräfte und Naturgesetze als Fiktionen,
Im Gebiete der Naturerscheinungen bedarf es häufig
zusammenfassender Ausdrücke, welche eine b e -
queme, handliche Formel für eine Reihe — an sich
Linerforschlicher oder auch bekannter — Phänomene bil-
220
Zvveiler Teil: Spezielle Ausführungen.
den. So ist es z. ß. mit dem ßegriff der Affinität. Für
die wissenschaftliche Chemie ist dieser Ausdruck „nur ein
zusammenfassender Oberbegriff für eine Klasse von genau
beobachteten und streng begrenzten Erscheinungen^).“
Ursprünglich war die Affinität eine echt scholastische
Qualität, die zum Lieblingsapparat der Alchimisten ge-
hörte. ,,Im Anfänge des 18. Jahrhunderts erhoben sich
viele, namentlich die Physiker jener Zeit, gegen diesen
Ausdruck, indem sie in dem Gebraucli desselben die An-
erkennung einer neuen vis occiilta fürchteten. In Frank-
reich besonders waltete zu dieser Zeit x\bneigung gegen
den Ausdruck „Affinität“ vor, und St. Geoffroy, um diese
Zeit (1718 und später) eine der bedeutendsten Autoritäten,
was chemische Verwandtschaft angeht, vermied den Ge-
brauch desselben. Statt zu sagen: zwei vereinigte Stoffe
werden zersetzt, wenn ein dritter dazukommt, der zu
einem der beiden vorigen mehr Verwandtschaft hat,
als diese unter sich, drückte er sich aus : „wenn er zu einem
derselben mehr rapport hat 2).“
Der Kraftbegriff überhaupt ist, neben seiner abstrak-
tiven Funktion, welche früher zur Sprache kam, ein
Hilf saus druck, wie dies insbesondere Fechner mit
Energie betont hat. „Weiter ist nichts gegeben als Sicht-
bares und Fühlbares, Bewegungen und Gesetze der Be-
wegungen. Wo ist denn da von Kraft die Rede? Kraft ist
der Physik überhaupt weiter nichts als ein Hilfsaus-
druck zur Darstellung der Gesetze des Gleichgewichts
und der Bewegung, und jede klare Fassung der physischen
Kraft führt hierauf zurück. Wir sprechen von Gesetzen
der Kraft; doch sehen wir näher zu, sind es nur Gesetze
des Gleichgewichts und der Bewegung, welche beim
Gegenüber von Materie und Materie gelten. Sonne und
Erde äußern eine Anziehungskraft aufeinander, heißt
nichts weiter als : Sonne und Erde bewegen sich im
Gegenübertreten gesetzlich nacheinander hin: nichts als
das Gesetz kennt der Physiker von der Kraft; durch nichts
sonst weiß er sie zu charakterisieren . . . Alles, was der
Physiker aus Kräften ableitet, ist nur eine Ableitung aus
Gesetzen mittels des Hilfs Wortes Kraft.“
h Lange a. a. 0. II, 186.
Ko pp, Geschichte der Chemie II, 209.
Die AtomisUk als Fiklion.
2*21
Auch „das Gesetz“ ist schließlich nur ein Hilf saus -
druck für die Gesamtheit der Relationen unter einer
Gruppe von Erscheinungen i). Das „Gesetz“ steht formell
durchaus dem Gattungsbegriffe gleich, den wir schon
als eine zusammenfassende Fiktion erkannt haben. Wenn
die bezüglichen Erkenntnisobjekte Vorgänge sind, so heißt
der Begriff Gesetz. Der Gattungsbegriff geht auf das
Gebiet des (relativ beharrend erscheinenden) Seins^ auf
Reihen gleichartiger oder ähnlicher Individuen, das Ge-
setz auf das Gebiet des Geschehens, auf die Gleichförmig-
keiten regelmäßig wiederkehrender Veränderungen. Das
„Gesetz“ ist weiter nichts als die Zusammenfassung kon-
stanter Relationen, wobei von den Zufälligkeiten und
scheinbaren Unregelmäßigkeiten im einzelnen abgesehen
wird: das „Gesetz“ ist somit eine summatori-
sche Fiktion. Ist dies der Fall, so muß dasselbe auch
die Eigenschaften einer solchen an sich tragen; es muß
ein praktisch Vv'ertvolles und unentbehrliches, theoretisch
dagegen ziemlich wertloses Gebilde sein; und ferner wird
es, wie alle Fiktionen, der Verwechslung mit Realitäten
leicht ausgesetzt sein.
§18.
Die Atomistik als Fiktion.^)
Ein vorzügliches Beispiel der illustrativen Fiktion
ist die Atomistik. Die Beobachtung zeigt, daß die che-
mischen Verbindungen nach bestimmten, sehr einfachen
Zahlenverhältnissen zustande kommen. Dieses Faktum
erfordert eine theoretische Bearbeitung, und es fragt sich,
worauf diese quantitativen Erscheinungen beruhen mögen.
Dal ton stellte die Theorie auf, daß jene einfachen Zahlen
der Verbindungsgewichte auf der atomistischen Natur der
Elemente beruhen möchten. Jene auffallende Regelmäßig-
keit glaubte er am besten durch eine entsprechende
Gruppierung der Atome anschaulich vorstellig machen zu
können. Wenn man sich je ein Atom der einen Substanz
b Die weggelassenen p 16 u. 17 handeln von der , schematischen“
bzw. „illusorischen“ Fiktion.
222
Zweiter Teil : Spezielle Ausführungen.
mit einem Atom der anderen, oder auch mit mehreren ver-
bunden denlct, so gewinnt jene Regelmäßigkeit eine sinn-
lich klare und einfache Deutung. F.A. Lange bemerkt nun
zu diesem Beispiel, daß das Bedürfnis der sinnlichen An-
schaulichkeit eine unentbehrliche Bedingung für unsere
Orientierung in den Erscheinungen sei, und daß diese
anschauliche Vorstellungsweise fast immer glänzende Er-
folge erziele, „so oft sich auch schon gezeigt habe, daß
alle diese Vorstellungsweisen nur Hilfsmittel zur durch-
gängigen Herstellung des Kausalzusammenhanges seien
und daß jeder Versuch, in ihnen eine definitive Erkenntnis’
der Konstitution der Materie zu finden, alsbald scheitert.
Wenn man hierzu die Äußerung von Li e big herbei-
zieht, welcher mit dürren Worten bemerkt, „wie man sich
die Elemente in der chemischen Verbindung gruppiert
denke, beruhe nur auf Übereinkunft, die bei der herr-
schenden Ansicht durch die Gewohnheit geheiligt sei“,
wenn man ferner das Urteil Schönleins damit ver-
gleicht, welcher sich so äußert: „Wo die Begriffe fehlen,
da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein, und sicher-
lich ist ganz besonders in der Chemie mit Molekülen und
ihrer Gruppierung seit Cartesius’ Zeiten ein arger Miß-
brauch getrieben worden in dem Wahn, durch derartige
Spiele der Einbildungskraft für uns noch durchaus dunkle
Erscheinungen erklären und den Verstand täuschen zu
können“ — wenn man diese Urteile zweier Fachautori-
täten überlegt, so kann man jener Auffassimg Langes
nicht ohne weiteres die Berechtigung versagen. Lange
hat außerdem' zu diesem Punkte noch eine wichtige metho-
dologische Bemerkung hinzugefügt, deren Berücksichti-
gung wir hier nicht umgehen können. Gegenüber dem ver-
werfenden Tadel Schönleins macht er mit Recht darauf auf-
merksam, daß tatsächlich „diese Spiele der Einbildungs-
kraft“ gewiß nicht dazu dienen, „den Verstand zu täu-
schen, sondern eher ihn zu leiten und zu stützen nach der
tief in der Erkenntnistheorie begründeten Maxime, daß
nur die strenge Durchführung sinnlicher Anschaulichkeit
imstande sei, unsere Erkenntnis vor dem weit gefähr-
licheren Spiel mit Worten zu bewahren“. Und dazu die
höchst wichtige Bemerkung, daß eine streng durchgeführte
Anschauung, selbst wenn sie materiell falsch sei,
Die Atomistik als Fiktion.
228
oft in ausgedehntem Maße als Bild und einstweiliger
Ersatz der richtigen Anschauung diene.
Schon die Analogie Gay-Lussacs, der die Atome nach
Analogie der Differentiale sich vorstellte und auffaßte^
wies darauf hin, daß wir es hier nur mit einer Fiktion zu
tun haben; denn wenn irgendein Vorstellungsgebilde, so
ist das Differential eine methodologische Fiktion.
Wenn man mit Cauchy, Ampere, Segnin und Moigno die
Atome als ausdehnungslose Zentra bestimmt, so hat man
damit nur den Kraftbeziehungen einen substantiellen Unter-
grund gegeben, der aber bei schärferer Untersuchung sich
als ein höchst sonderbares Gebilde enveist. Denn etwas
Ausdehnungsloses, das substantieller Träger von Kräften
sein soll — das sind nur Wortverbindungen, ohne daß wir
damit einen bestimmten Sinn verbinden könnten. „Ein-
fache Atome“, die also doch noch etwas Materielles sein
sollen, können nicht causae verae^ können keine realen
Dinge sein. Da nun aber der Physiker doch zu seinen
Konstruktionen die Atome braucht, wie lösen wir den
Zwiespalt, wie erretten wir die Wissenschaft aus diesem
Dilemma? Und dazu kommt noch der Unbegriff eines
leeren Raumes oder leerer Zwischenräume zwischen den
Atomen, in dem man wohl eine äußerst anschauliche Vor-
stellung erblicken kann, der aber nichtsdestoweniger in
logischer Beziehung an den ärgsten Widersprüchen krankt.
Es ist wohl, was man bisher nicht erkannt hat, Kant,
welcher zum erstenmal auf den Ausweg geriet, die atomi-
stische Vorstellung als eine bequeme Hilfsvorstellung
gelten zu lassen, im übrigen aber definitiv die dynamische
Ansicht der stetigen Raumerfüllung anzunehmen.
Kant vertritt in den „Metaphysischen Anfangsgründen
der Naturwissenschaft“ die dynamische Theorie der Ma-
terie und nimmt eine unendliche Teilbarkeit derselben an ;
damit wird natürlich auch der leere Raum verworfen, da
seiner Anschauung nach jene dynamische Raumerfüllung
eine stetige ist. Kant war aber doch andererseits zu sehr an
physikalisches Denken gewöhnt, als daß ihm nicht der
auffallend methodologische Vorteil bekannt gewesen wäre,
der darin besteht, sich die Materie, statt kontinuierlich,
sie als ein Zusammen getrennter Teilchen vorzustellen.
Die mechanische Erklärungsart, sagt er daher (Met. Auf.
224
Zweiter Teil: Spezielle Ausfüliningen.
d. Nat. ü. Hauptst. Allgem. Anni. 4), ist „der Mathematik
am fügsamsten“. Allein (ib. 11. Hauptst. Lehrs. 4. Anm. 1)
„man verfehlt gänzlich den Sinn der Mathematiker und
mißdeutet ihre Sprache, wenn man das, was zum Ver-
fahren der Konstruktion eines Begriffes notwendig gehört
(hier nämlich die Entfernung der Teilchen der Materie
voneinander), dem Begriffe im Objekte selbst beilegt;
denn nach jenem kann eine jede Berühr img als eine
unendlich kleine Entfernung vorgestellt werden, welches
in solchen Fällen auch notwendig geschehen muß, wo ein
großer oder kleiner Raum durch eben dieselbe Quantität
der Materie als ganz erfüllt vorgestellt werden soll.
Bei einem ins Unendliche Teilbaren darf darum noch keine
wirkliche Entfernung der Teile, die bei aller Erweite-
rung des Raumes des Ganzen immer ein Kontinuum aus-
macheii, angenommen werden, obgleich die Möglichkeit
dieser Erweiterung nur unter der Idee einer unendlich
kleinen Entfernung anschaulich gemacht werden kann.“
Sonach unterscheidet Kant eine mathematische (mecha-
nischej Vorstellung der Materie, welche er nur methodisch,
nicht aber ernsthaft verwerten will, und eine dynamische,
welche er für die wahre hält, welche aber für die mathe-
matische Rechnung nicht so bequem ist.
Dieser von Kant hier eröffnete Ausweg, die mathe-
matisch-mechanische Vorstellungsweise für bloße Rech-
nungshilfe zu erklären, ist von da an sehr häufig von
den Philosophen eingeschlagen worden.
Nach Fechner gibt es Physiker und Chemiker, welche,
„weil sie die höheren Vorzüge und Vorteile der Atomistik
nicht anzuerkennen wissen, ihr abgeneigt sind, die aber
zugestehen, daß sie die bequemste Weise sei, die Dinge
darzustellen, und man sich ihrer Ausdrücke wohl bedienen
könne, die Verhältnisse vorstellig zu machen; dieselben
wollen aber keine Konsequenz daraus gezogen, der
V^orstellungsweise keine Realität beigelegt wissen“.
Fechner kann es nicht unterlassen, hierzu folgende spöt-
tische Bemerkung zu machen ; diese Leute erscheinen ihm
wie Personen, die sich zwar ihrer natürlichen Beine be-
dienen, weil sie die „bequemsten“ Mittel sind, vorwärts
zu kommen, doch ohne damit im mindesten zu behaupten,
daß das auch ihre wahren Beine sind, die vielmehr noch
Dio Atomistik uis Fiktion.
‘i25
ganz im Verborgenen ruhen und hoffentlich einmal an das
Licht kommen werden. Ich möchte dafür ein anderes
Bild setzen: mir scheinen jene Leute vielmehr da, wo
ein unwegsames Terrain ist, es so zu machen, wie jene
Bewohner einer französischen Gegend, welche, anstatt
auf ihren natürlichen Beinen zu gehen — weil dies bei
dem Terrain schwierig ist — , auf künstlichen gehen, näm-
lich auf Stelzen, durch welche das Gehen erleichtert und
beschleunigt wird.
In seiner „Anthropologie“ (1856) hat J. H. Fichte die
mechanische Atomistik heftig bekämpft. Im Anschluß an
einzelne Naturforscher erklärt Fichte der „gemeinen Ato-
mistik“ den Krieg; sie ist ihm eine in sich gänzlich
widerspruchsvolle Hypothese, also als Hypothese zur
Erklärung der Wirkliclikeit völlig unbrauchbar. Aber
Fichte gesteht ausdrücklich zu, daß sie eine sehr bequeme,
brauchbare Fiktion sei: er gibt zu (S. 204), „daß sie eine
bequeme, an sich unschädliche Fiktion sei, sofern sie nur
für nichts anderes und für nichts mehr erkannt werde“;
„sie ist eine zulässige Fiktion zum Behufe mathematischer
Messung und Berechnung“ (205); sie ist zwar „eine will-
kürliche Voraussetzung“ (216), aber eine „zulässige An-
nahme“ (215); daher sagt Fichte, die echte Naturwissen-
schaft „wendet die xVtomistik bloß einstweilen als zu-
lässige Fiktion an, bis die rechte Erklärung gefunden ist“
(22); um jene Fiktion brauchbar gestalten zu können,
muß die Naturforschung sogar noch Hilfsfiktionen (308)
ausdenken. Zur Erläuterung und Rechtfertigung dieser
Auffassung beruft sich Fichte (203) auf die „dem Geo-
meter gestattete Fiktion“, „die gerade Linie aus unend-
lich vielen aneinandergerückten Punkten bestehen zu
lassen, den Kreis als ein Vieleck von unendlich vielen
Seiten zu betrachten u. dgl. Es ist überall Stetigkeit, als
unendlich Unterscheidbares, Diskretes auf gefaßt“.
Viele, welche also die Schwierigkeiten oder vielmehr die
Widersprüche der atomistischen Theorie erkennen, be-
dienen sich ihrer doch als eines Surrogates der Erklärung;
die meisten Physiker und Chemiker unserer Zeit halten die
Atome für provisorische Hilfsmittel der Veranschaulichung
und Rechnung. So sagt Preyer: „Man mag den BegriH
des Atoms fassen, wie man will, immer bleibt er nicht
Vaihinger, Philosophie. 15
22«
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
etwa eine Hypothese, die man hoffen dürfte, dermaleinst
zu beweisen, sondern eine Fiktion, die schon deshalb un-
beweisbar ist, weil sie in jeder ihrer bisherigen Gestalten
in unvermeidliche Widersprüche verwickelt. Nur darum
hat sich der Atombegriff so lange erhalten und hält sich
noch, weil wir kein besseres Aushilfsmittel besitzen, um
zahlreiche Erscheinungen in Zusammenhang zu bringen.
Hierdurch allein fristet die Atomistik als ein Provisorium
ihr Dasein. Die ungeheure heuristische und mnemotech-
nische Leistungsfähigkeit der Atomistik hat oft genug zu
einer Venvechslung der Untersuchungs mittel und Unter-
suchungsobjekte geführt und ihr eine Bewunderung ein-
getragen, welche sie nicht verdient.“
Die Atomistik dient besonders dazu, unsinnlichen Be-
griffen, z. B. dem der Kraft eine sinnliche Grundlage zu
geben, und noch geheimnisvolle Vorgänge, z. B. chemische
Mischung, Kohäsion, Krystallisation usw. in der Phantasie
vorstellig zu machen, ohne daß bei dieser Verwendung
aus dem subjektiv-methodologischen Hilfsmittel eine ob-
jektiv-metaphysische Realität gemacht würde. Man darf
das Versinnlichungs- und Rechnungsmittel — so betrach-
ten auch Faraday, Schönlein, Magnus, Dubois-Reymond,
Fick die Atomistik — nicht als ein objektives Verfahren
der Natur ansehen. Viele Naturforscher sprechen von
Atomen, ohne doch solche in eigentlicher Meinung anzu-
nehmen; einige verwerfen sogar die Realität eines leeren
Raumes und fahren doch fort, von Atomen zu sprechen,
obgleich die Annahme des leeren Raumes das notwendige
Korrelat der Atomistik ist: die Vorstelhmgsweise ist un-
leugbar die bequemste, Avas aber kein Beweis für ihre
objektiv-metaphysische Gültigkeit ist.
Nach der neueren Auffassung der Physiker, z. B. Kirch-
hof fs, werden alle Erscheinungen auf Kräfte und relative
Kraftwirkungen reduziert. Für den Physiker von Fach ist
die Materie selbst gar nicht abhängig von der Annahme
ausgedehnter kleinster Körperchen. Der Stoff bildet zu
den Kräften ein an und für sich ganz leeres und nichtiges
Subjekt, und es ist nur eine ungenaue Nachwirkung der
an die Vorstellung ausgedehnter, getrennter Körper ge-
wöhnten Anschauung, wenn man auch den elementaren
Kräften Stoffe als Träger unterschiebt. Aber aus diesem
Fiktionen der mathematischen Physik.
227
Grunde dient diese Vorstellungsweise zur Erleichterung
der Theorie, nicht allein indem überhaupt Stoff teilchen
als Träger dieser Kräfte, sondern auch indem sie als
unendlich klein angesetzt werden. Jenes dient mehr
zur Veranschaulichung des abstrakten Gedankens der
Kraft, dies mehr zur Erleichterung der Rechnung. Aus
diesem Grunde läßt man die Atome stehen, obwohl doch
alles Seiende in den Kräften seinen adäquaten Ausdruck
gefunden hat. Man schiebt diese Hilfsvorstellung ein und
unter, weil sie zu unserer Bequemlichkeit dient. Es ist
buchstäblich ein hypostasiertes Nichts, mit dem wir es
bei dem Atom zu tun haben; denn wenn alles in Krä,fte
aufgelöst und verdampft ist, wo bleibt da der Stoff? Und
wenn die Atome als unendlich klein vorgestellt werden
sollen, wie unterscheiden sie sich dann noch vom mathe-
matischen Punkt, der doch auch nur ein hypostasiertes
Nichts ist?
§ 19-
Fiktionen der mathematischen Physik.
In der Physik, besonders der mathematischen, sowie
in der Mechanik bedient man sich einer Anzahl von fik-
tiven Vorstellungsgebilden, welche teils nur zweckdienlich,
teils sogar unentbehrlich sind. So sind z. B. die Fara-
day sehen „Kraftlinien“ ohne Masse und Trägheit als
bloße, zur Veranschaulichung dienende Hilfsvorstellungen
zu betrachten. Maxwell wollte in diesen Kraftlinien Fa-
radays mehr als bloß mathematische Symbole sehen.
Daß Maxwell aber mit dieser Interpretation den Inten-
tionen Faradays, des Erfinders dieses Begriffs, wider-
spricht, daß er also den alten und häufigen Fehler begeht,
eine Fiktion in eine Hypothese, eine mathematische Hilfs-
vorstellung in eine physikalische Theorie zu verwandeln,
dafür sind Faradays eigene Worte das beste Zeugnis. Die
Linien der magnetischen Kraft der Gravitation, die Linien
der elektrostatischen induktiven Kraft und die gekrümm-
ten Kraftlinien sind nach seiner eigenen Erklärung nur
imaginär. Man solle mit diesen Ausdrücken keinen spe-
zielleren Sinn verbinden; er ist überzeugt, damit nicht die
228
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
reale Naturwahrheit au szu sprechen, trotzdem diese Vor-
stellungsweise scheinbar zutreffe und schön sei. Er
wünscht die Bedeutung des Wortes Kraftlinie (line of
force) derartig einzuschränken, daß dasselbe nichts ande-
res als den Zustand der Kraft hinsichtlich ihrer Größe und
Richtung bezeichne, und nicht irgendeine Vorstellung von
der Beschaffenheit der physischen Ursache der Erschei-
nungen involviere; wie z. B. die magnetische Kraft durch
die Körper oder durch den Raum übertragen wird, wissen
wir nicht. Nach diesen Äußerungen Faradays ist Zöllner
ohne Zweifel im Recht, wenn er die Maxwellsche Inter-
pretation dieser Kraftlinien als physischer Wesen als ein
grobes Mißverhältnis zurückweist, und es ist kein Zweifel,
daß Maxwell diese Vertauschung aus Mangel an metho-
dologischer Einsicht in den Unterschied der
Fiktion von der Hypothese begangen hat. Es liegt
das um so klarer, als Faraday in einem Brief an TyndaJl
(14. März 1855) sich ganz unumwunden so äußert; Sie
wissen es, daß ich die Kraftlinien nur als Repräsentanten
(repräsentations) der magnetischen Kraft hingestellt habe
und nicht zu wissen behaupte, welche physische Vorstel-
lung sie später präzisieren oder worin sie sich selber auf-
lösen werden. Faraday ließ sich durch die große mathe-
matische Nützlichkeit und Brauchbarkeit seiner neuen Vor-
stellung, welche zur analytischen Herleitung der phy-
sikalischen Erscheinungen außerordentlich z^veckdienlich
war, keineswegs verleiten, in derselben mehr als eine
„repräsentative“ Vorstellung zu sehen. Er wies die Miß-
verständnisse schon seiner Zeitgenossen energisch zurück,
so des holländischen Mathematikers Van Rees, der in
dieser Vorstellung auch eine physikalische Hypothese zu
finden schien, entgegen den deutlichen Erklärungen Fa-
radays selbst.
Mit der Unterscheidung von Hypothese und Fiktion
deckt sich auch die von Wilhelm Weber gemachte
Unterscheidung realer und idealer Hypothesen.
Ein ingeniöser Kunstgriff des Denkens ist nun ferner die
Durchschnittsfiktion {the fictitions mean nach der
Bezeichnung von Jevons: The principles of Science, an
die wir uns im folgenden anschließen), welche in mehr-
facher Weise Verwendung findet. Sehr beliebt ist sie in
Fiktionen der mathematischen Physik.
229
der inatliematischen Physik in Fälleri, wo ein Bündel oder
eine Pteihe zusammengehöriger Kräftebeziehungen in einem
idealen Durchschnittspunkte vereinigt gedacht wird, um,
wenn es die Umstände erfordern, mit jenem Zusammen auf
einmal in die Rechnung einzutreten; da die Berücksichti-
gung jeder einzelnen Beziehung eine komplizierte Berech-
nung abgeben würde, wird an die Stelle der vielen Ein-
zelnen ein Einziges gesetzt, in dem die Vielen verbunden
gedacht werden.
Es ist Archimedes, dem man die erste Anwendung
dieser fiktiven Methode verdankt. Er kam auf die inge-
niöse Idee, in einem Körper einen Punkt zu konstruieren,
in dem das Gewicht der sämtlichen Teile desselben kon-
zentriert gedacht werden könne, so daß das Gewicht
des ganzen Körpers exakt durch das Gewicht dieses
Punktes repräsentiert wird. Das Gravi tätszentmm tritt so
an die Stelle der Gewichte der unzählig vielen, unendlich
kleinen Partikeln, deren jedes an einem besonderen Orte
wirkt; um die durch letzteren Umstand bedingte unge-
meine Komplexion der Rechnung zu vermeiden — denn das
einfachste mechanische Problem löste sich sonst in eine
unendliche Anzahl besonderer Probleme auf — wird eben
jenes Gravitätszentrum fingiert, welches — ein Punkt —
so gedacht und behandelt wird, als ob in ihm alle Kräite
der einzelnen Teile vereinigt wären. Die Methode, dieses
Zentrum aufzufinden, hat Archimedes gezeigt. So tritt an
Stelle einer Kugel als Gravitätszentrum der unteilbare
Mittelpunkt derselben, der also hier noch innerhalb des
Gesamtkörpers gelegen ist. Allein schon beim Ringe ist
dieses Gravitätszentrum vollständig imaginär, indem an
Stelle der kreisförmig lozierten Kräftepunkte der in den
leeren Zwischenraum fallende Mittelpunkt tritt. Dasselbe
ist der Fall bei zwei oder mehreren Körpern, mögen diese
verbunden oder getrennt sein; auch hier kann ein Punkt
gefunden werden, der so behandelt werden kann, als ob
in ihm die vereinigte Kraft der beiden Kräftebündel kon-
zentriert wäre : so z. B. kann man ein gemeinschaftliches
Gravitätszentrum der Erde und der Sonne fingieren, d.h.
einen Punkt, welcher so betrachtet und in die Rechnung
eingeführt werden kann, als ob an Stelle jener beiden
Himinelskörper dieser Punkt als unteilbares Zentrum träte.
230
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
welches nun genau dieselben Wirkungen etwa auf einen
dritten Punkt ausüben würde, als jene beiden Körper
faktisch ausüben.
Als eine eigentümliche und wertvolle Hilfsvorstellung
ist hier auch die Fiktion eines absolut festen Punk-
tes zu erwähnen.
Das empirische Wahrnehmen aller Veränderung und Be-
wegung ist stets gebunden an empirische Beziehungs-
punkte, in bezug auf welche erst die Bewegung uns als
Bewegung erscheinen kann; m. a. W. alle beobachtete
Bewegung ist relativ, relativ zu uns, dem Vorstellungs-
zentrum, relativ weiterhin zum festen Hintergrund, relativ
etwa weiterhin zur (scheinbar) ruhenden Erde, zur Sonne
— es sind das lauter Beziehungspunkte, welche wir der
Reihe nach annehmen müssen; der Mensch fängt mit sich
selbst als Beziehungspmikt an, und die Wissenschaft setzt
immer andere Beziehungspunkte ein, weil die anfänglich
angenommenen sich als illusorische erweisen, insofern sie
selbst in Bewegung sich befinden. Um eine Bewegung de-
finitiv, endgültig zu konstatieren, müssen wir einen abso-
lut festen Punkt haben, in bezug auf welchen Geschwin-
digkeit und Richtung jener Bewegung gemessen werden
kann. Da nun nach moderner Anschauung im ganzen
Weltall kein solcher absolut starrer Körper gefunden
Vvmrden kann, so befindet sich die Wissenschaft in einer
eigentümlichen Schwierigkeit.
Neumann^) hat das Verdienst, hierauf hingewiesen zu
haben. Galilei und Newton formulieren ihre Gesetze so,
daß sie eine absolute Bewegung voraussetzen. Das Ga-
lileische Trägheitsgesetz kann nach Neumann als Aus-
gangspunkt mathematischer Deduktionen unmöglich stehen
bleiben. Denn man weiß ja nicht, was unter einer Be-
wegung in gerader Linie zu verstehen ist; man weiß sogar,
daß diese Worte in sehr verschiedenartiger Weise inter-
pretiert werden können, unendlich vieler Bedeutungen
fähig sind. Denn eine Bewegung, welche mit Bezug auf
einen Himmelskörper geradlinig ist, wird mit Bezug
*) Neumann, Über die Prinzipien der Gallilei-Newtonschen Theorie.
Leipzig 1870,
Fiktionen der mathematischen Physik.
231
auf jeden anderen Himmelskörper krummlinig er-
scheinen. Also muß uns irgendein spezieller Körper im
Weltall gegeben sein, als Basis unserer Beurteilung, als
derjenige Gegenstand, mit Bezug auf den alle Bewegun-
gen zu taxieren sind — nur dann erst würden wir mit
jenen Worten einen bestimmten Inhalt zu verbinden im-
stande sein.
Welcher Körper ist es nun, dem wir diese bevorzugte
Stellung einräumen sollen? Bei Galilei und Newton erhält-
man hierauf keine Antwort. Sie setzten eben die absolute
Bewegung voraus, ohne sich klarzumachen und ohne
sich bewußt zu werden, daß diese Voraussetzung die Exi-
stenz eines solchen absolut festen Beziehungspunktes in-
volviert. Diese notwendig involvierte Bedingung ist
von Neumann zum erstenmal zum klaren Bewußtsein er-
hoben worden, obgleich indessen schon Cartesius eine be-
stimmte Hinweisung auf dieselbe gibt. Deshalb stellt nun
Neumann als erstes Prinzip der Galilei-Neiwtonschen
Theorie den Satz auf, daß sämtliche im Universum vor-
handenen (Oder überhaupt denkbaren Bewegungen zu be-
ziehen sind auf ein und denselben, absolut starren Körper,
dessen Figur, Stellung und Dimensionen für alle Zeiten
unveränderlich sind. Er nennt diesen Körper „den Körper
Alpha“. Unter Bewegung eines Punktes ist nun nicht etwa
seine Ortsveränderung in bezug auf Erde oder Sonne, son-
dern seine Ortsveränderung in bezug auf jenen Körper
Alpha zu verstehen.
Was ist nun durch diese Vorstellung erreicht? Die
Bestimmung der Geradlinigkeit in dem Galileischen
Gesetz hat dadurch erst einen deutlich erkennbaren Inhalt
bekommen: die geradlinige Bev/egung ist zu verstehen
mit Bezug auf jenen Körper Alpha; mit anderen
Worten ist dies dahin zu erläutern, daß nunmehr jede Be-
wegung als absolut gedacht werden kann. Der Charakter,
das eigentlich Wesentliche der sogenannten absoluten Be-
wegung besteht eben darin, daß alle Ortsveränderungen
bezogen werden auf ein und dasselbe Objekt, und zwar
auf ein Objekt, das, wie Neumann sich ausdrückt, räum-
lich ausgedehnt und unveränderlich, im übrigen nicht
näher angebbar ist. Nimmt man aber keine absolute Be-
wegung an, so fällt die ganze Galilei-Newtonsche Theorie;
232
Zweiter Teil : Spezielle Ansfühningen.
denn dann konnte man, da sich faktiscli jeder Körper in
der Welt in Bewegung befindet, jede Bewegung nur als
eine relative Ortsveränderung zweier Punkte gegen-
einander definieren, und dadurch würde man zu einer
Theorie gelangen, welche von der Galilei-Newtonschen
wesentlich verschieden ist, und deren Übereinstimmung
mit den beobachteten Erscheinungen sehr zweifelhaft sein
dürfte. Folglich ist die absolute Bewegung im absoluten
Raum eine notwendige Voraussetzung des Galileischen
Trägheitsgesetzes. Um diese Vorstellung der absoluten
Bewegung zu erleichtern, dazu dient der Körper Alpha.
Ein empirischer Punkt, der diesen oben dargestellten
Erfordernissen entspricht, läßt sich nimmermehr finden.
Also fingiert man einen ideellen Punkt, der
dieselben Dienste leistet. So allein versteht auch Neumann
seinen Körper Alpha.
Es ist somit eine eigentümliche Fiktion, mit welcher wir
es bei diesem Gebilde zu tun haben. Es ist ein Zusatz
zur Wirklichkeit, ein Einschiebsel, das die Vorstellungs-
bewegung, die Bestimmung der Begriffe erleichtern soll.
Bei der definitiven Betrachtung der Wirklichkeit muß da-
her dieses Einschiebsel wieder herausfallen, wieder eli-
miniert werden; sobald die Anknüpfung und Vermittlung
geschehen ist, um derentwillen die Fiktion gebildet und
eingeschoben wurde, so verliert diese damit auch ihre Be-
deutung imd fällt daher aus dem Schlußergebnis der
Rechnung heraus. In der empirischen Physik ist somit
von diesem Körper Alpha auch gar keine Rede mehr, der
wegfällt, sobald die mathematischen Formeln gefunden
und angewandt sind. So dienen auch andere Hilfsvor-
stellungen der Mechanik und Physik eben nur zur Ver-
anschaulichung und zur Anknüpfung der Rechnung, und
das Intermediäre fällt weg, nachdem die Vermittlung zu-
stande gekommen ist. Diese Zwischenhändler werden bei
der definitiven Feststellung der Wicklichkeitsbeziehungen
nicht zu Rate gezogen und aus den engeren und eigent-
lichen Prinzipien wie provisorische Hilfspersonen aus-
geschlossen.
Die Fiktion des reinen absoluten Raumes.
233
§20.
Die Fiktion des reinen absoluten Raumes.
Von der falschen Annahme, daß die Mathematik in
einem anderen Sinne a priori verfahren könne, als jede
andere Wissenschaft, und daß in ihr alles aus dem Geiste
selbst hervorgezaubert werde, hängt unmittelbar eine ver-
kehrte Anschauung über die logische Bedeutung
der Raumvorstellung ab. Die Frage ist: Was ist der
Raum, seinem logischen Werte nach betrachtet?
Welchen logischen Rang nimmt der mathematische
Raum ein^)? Er ist die Voraussetzung der Mathematik.
Aber „Voraussetzung“ ist ein zweideutiges Wort, daskeinen
bestimmten logischen Wert ausdrückt. „Voraussetzung“
kann sein so viel als etwas empirisch Gegebenes,
auf dem die Mathematik als erstem fußt; es kann aber
auch heißen, der Raum sei eine Hypothese, ohne
welche die Mathemaiik nicht bestehen könne. Ohne
Zweifel ist der mathematische Raum eine notwendige
Voraussetzung, aber weder in jenem noch in diesem
Sinne, d. h. eine reine Ausdehnung nach drei Di-
mensionen — daß diese Vorstellung nicht etwas em-
pirisch Gegebenes, also kein Faktum sei, ist unschwer
zu erweisen. Empirisch sind uns immer nur einzelne
Körper gegeben, welche die fundamentale Eigenschaft der
Ausgedehntheit besitzen, niemals aber der allgemeine und
reine Raum. Freilich der Umstand, daß sich die Gegen-
stände von einem einfarbigen (meist helleren) Hintergrund
abheben, sowie die Durchsichtigkeit und Farblosigkeit der
Luft geben den Anschein, als ob die Einzeldinge in einem
gleichsam wahrnehmbaren leeren Raum sich befänden.
Dieser eigentümliche Umstand hat ohne Zweifel die Los-
reißung der unabhängigen, absoluten Raumvorstellung
sehr begünstigt; allein er kann nicht dahin ausgebeutet
werden, daß der mathematische Raum ein empirisch Ge-
gebenes sei. Es ist darum auch noch niemand eingefallen,
dies im Ernste zu behaupten. Den logischen Wert einer
Erfahrung hat also die mathematische Raiimvorstel-
Es handelt sich also hierbei nicht in erster Linie um die
psychologische Frage und auch nicht um die erkenntnistlieo-
rethische Frage, sondern vielmehr um ein rein logisches Problem.
234
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
lung nicht. Dann also vielleicht den einer Hypothese;
allein damit gelangen wir auf noch größere Schwierig-
keiten. Wie kann eine Vorstellung, welche so absurd, so
widerspruchsvoll ist, auf den Rang einer Hypothese An-
spruch machen? Der mathematische Raum ist ein Etwas,
welches ein Nichts ist^ ein Nichts, welches ein Etwas ist.
Die Widersprüche, welche in dem Begriff des leeren, des
mathematischen Raumes liegen, sind ja bekannt. Ein
leerer Raum wäre ein Neben- und Außereinander, in wel-
chem nichts neben- und auseinander ist. Ist der Raum
das Verhältnis der Koexistenz von realen Dingen, so
kann er eben ohne diese selbst nichts sein, er fällt mit
diesen selbst hinweg. Da aber das Haupterfordernis einer
brauchbaren Hypothese ihre Widerspruchslosigkeit ist, so
kann eine so widerspruchsvolle Vorstellung wie die des
absoluten, leeren, mathematischen Raumes keine Hypo-
these sein. Und eben diese widerspruchsvolle Beschaffen-
heit gestattet nun auch nicht, uns ohne weiteres mit der
beliebten Wendung der Mathematiker, diese und ähnliche
Begriffe seien „Postulate“, zu begnügen; denn letzterer
Begriff ist selbst unklar und unbestimmt. Wir müssen
vielmehr die scharfe, die peinliche Frage stellen : Welche
logische Stellung kann die Raumvorstellung demnach noch
einnehmen ?
Bei der fundamentalen Wichtigkeit dieses Punktes für
alle folgenden Argumentationen und bei der großen Klar-
heit, mit welcher Leibniz diesen Punkt im Wesentlichen
behandelt hat, müssen wir bei ihm und bei seinem Streit
mit Clarke verweilen. Der Streit, um den es sich hier
handelt, ist, was den Raum betrifft, ob die Vorstellung
des absoluten, geometrischen oder leeren Raumes eine
berechtigte sei, d. h. ob ihr in der Wirklichkeit ein leerer
Raum entspreche. Aus hier nicht weiter diskutierbaren
theologischen Gründen ist Clarke mit Newton für die
Existenz eines absoluten Raumes (und datier auch einer
absoluten Bewegung). In diesem absoluten Raum befindet
sich an einer beliebigen, aber bestimmten Stelle das Uni-
versum, d. h. die Körpenvelt; und zwischen den Körpern,
die im Raume gleichsam schwimmen, befindet sich noch
leerer, absoluter Zwischenraum. Diese Theorie bekämpft
Leibniz.
Die Fiktion des reinen absoluten Raumes.
235
„11 n’y a point de vuide du tont“ (Erdm. 748), dies ist
die These, welche Leibniz mit theologischen, physi-
kalischen, mathematischen und logischen Gründen zu
beweisen bestrebt ist. „L’espace reel absolut“ ist (751)
eine „idole de quelques Anglois modernes. Je cfis , Idole ,
non pas dans un sens Theologique, mais Philosophique
comme le Chancelier Bacon disoit autrefois, qu’il y a
Idola Tribus, Idola Specus.“ Er zählt mehrfach die grari-
des difficultes und die contradictions auf, auf welche
diese Vorstellung führt. Es ist insbesondere das „Prin-
cipe de la raison suffisainte“, auf welches gestützt er die
Gegner und ihre „imaginations“, ihre „suppositions chi-
meriques“, ihre „fictions impossibles“ zu widerlegen
sucht. Faktisch führt auch die Vorstellung des absoluten
Raumes und der absoluten Zeit auf sonderbare Wider-
sinnigkeiten, und Leibnizens Widerlegung ist vollständig
gerechtfertigt. Wiederholt nennt er daher jene Vorstellun-
gen von absoluter Zeit und absolutem Raum „chim^res
toutes pures“ et „imaginations superficielles“. Es sind
„fictions impossibles“ (771). Man könnte jede beliebige
Raumstelle der Welt im absoluten Raum mn eine beliebige
Entfernung verrückt denken; da man nun aber diese beiden
Punkte nicht unterscheiden könnte, darum sind sie eben
nur ideell, imaginär, und die Voraussetzung, daß
diese Verschiebung möglich wäre, d. h. die Voraussetzung
des absoluten Raumes ist eine bloße Fiktion. Gerade die
Tatsache, daß es keinen zureichenden Grund dafür gibt,
daß Gott die Welt in einem früheren Moment geschaffen
hätte, als er sie schuf, beweist, daß diese ganze Betrach-
tungSAveise und die Voraussetzung der absoluten Zeit,
auf welche sie gestützt ist, falsch ist — und was von der
Zeit gilt, gilt auch vom Raume. Dieser Gedanke, daß
der absolute Raum eine chimärische Supposition, eine
unmögliche Fiktion sei, zieht sich durch diese ganze,
für die Leibnizsche Philosophie so wichtige Korrespon-
denz in allen möglichen Variationen hindurch.
Wir müssen sogleich darauf hinweisen, inwiefern sich
dieser Streit durch eine einfache methodologische Unter-
scheidung löst, denn um den logischen, methodologischen
Wert der Vorstellung des absoluten Raumes handelt es
sich. Da er jedenfalls kein Objekt der Erfahrung ist.
236
Zweiter Teil: Spezielle Ausfülirungcn.
SO kann es sich nur darum handeln^ ist er eine berech-
tigte Hypothese oder eine berechtigte Fiktion,
Fiktion in unserem, anfänglich festgestellten Sinne. Wir
sehen, wie Leibniz nachweist, daß die bezügliche Vor-
stellung widerspruchsvoll, unmöglich sei, weshalb er die-
selbe eben verwirft. Wir werden andererseits sehen, daß
Clarke ihre praktische Notwendigkeit und Nützlichkeit
betont, gestützt auf Newtons mathematische Naturphilo-
sophie. Schon Leibniz nennt die Vorstellung eine Fik-
tion, freilich im tadelnden Sinne. Er gebraucht diesen
Begriff überhaupt sehr häufig, und zwar in den zwei
unterschiedenen Bedeutungen, der guten und der
schlechten Fiktion. Hätte hier nicht die Parteiwut
gegen die Newtonianer und die dabei beiderseits ent-
standene Leidenschaftlichkeit und Animosität Leibnizens
klares Auge getrübt, wäre der Briefwechsel mit Clarke
nicht in jene späte, durch allerlei Mißgeschick getrübte,
äußerlich und innnerlich vereinsamte Periode Leibnizens
gefallen, so hätte er wahrscheinlich die schon früher in
anderen Punkten ihm aufgegangene fundamentale Er-
kenntnis, daß es notwendige und berechtigte Fiktionen
gäbe, auch hier angewandt, und die einzig richtige Lösung
ausgesprochen, daß die Vorstellung des absoluten Rau-
mes eine unentbehrliche Hilfsvorstellung sei, d. h. daß
diese Vorstellung zwar widerspruchsvoll und darum ima-
ginär, ideal sei, daß sie aber zur Konstruktion der Mathe-
matik und mathematischen Physik notwendig gebildet
werden müsse.
Diese einfache Lösung erhellt mit einem Male jenen
durch Leidenschaft so getrübten Streit zwischen Leib-
niz und dem Newtonianer. Alle Gründe Leib-
nizens beziehen sich darauf, daß die Vorstellung imaginär
sei; .alle Gegengründe Clarkes darauf, daß sie notwendig
sei. Wie so oft, sehen wir eine solche widerspruchsvolle
V^orstellung (deren exakte Definition wir in diesem Falle
Newton verdanken), anfänglich bekämpft ob ihrer logi-
schen Härten ; wir sehen sie dann ins allgemeine Bewußt-
sein übergehen, zu einer alltäglichen Vorstellung werden,
bis sie aufs neue bekämpft wird, so daß ihr schließlich
zwar ihre Realität genommen, ihr aber ihre Unentbehr-
lichkeit gelassen und zugestanden wird.
Die Fiktion des reinen absoluten Raumes, 2.M7
In der Zweideutigkeit und Zweischneidigkeit des Be-
griffes „Supposition“ erkennen wir wieder jene Dualität
der logischen Bedeutungen, welche diesen Vorstellungen
des absoluten Raumes, des Atomes usw. ein so schillern-
des und schwankendes Ansehen gibt. Clarke stützt sich
auf die Notwendigkeit dieser Supposition, auf die Tat-
sache, daß Leibniz sie selbst mache, Leibniz aber nennt
sie chimärisch, sophistisch, imaginär. In der von uns
entwickelten Bedeutung der „Fiktion“ ist dies beides
vereinigt; die Vorstellung ist widersinnig, aber sie
ist fruchtbar.
Diese Lösung hatte Leibniz schon an der Hand, ohne
sie jedoch ganz deutlich auszusprechen. Weist er doch
selbst darauf hin, daß solche „choses purement
ideales“ doch (trotzdem man ihre Irrealität einsehe)
nützlich seien („dont la consideration ne laisse
pas d’etre utile“). Damit haben wir eben den wahren
Begriff der methodologischen Fiktion, und es ist nur aus
der Leidenschaftlichkeit Leibnizens zu erklären, daß er
diesen, ihm sonst so geläufigen Gedanken hier nicht gänz-
lich durchgeführt hat, sondern ihn bloß gelegentlich
hinwirft. Dann hätte er eben in ruhiger Diskussion die
Supposition en Clarkes als notwendige und nützliche Fik-
tionen anerkannt.
Bei der grundlegenden Wichtigkeit dieses Punktes ist
es von Interesse, noch andere Stellen von Leibniz her-
beizuziehen, aus denen seine Meinung unzweideutig her-
vorgeht. So bemerkt er z. B. in der Replique aux Re-
flexions de Bayle (Erdm. 189; sie ist 17 Jahre vor dem
Streit mit Clarke geschrieben}, daß die mathematischen
Vorstellungen Zeit, Ausdehnung, Bewegung und Konti-
nuum nur seien: des choses ideales. Er stimmt
Hobbes bei, nach dem der Raum nur ist: ein Phan-
tasma existentis. Die Ausdehnung ist „die Ordnung der
möglichen Koexistenzen“. Besonders bemerkenswert ist
aber die Stelle (190), daß, obgleich die meditations der
Mathematiker ideal seien, dies ihnen nichts von ihrer
utilite nehme. So wußte er denn also wohl den Nutzen
solcher Vorstellungen zu schätzen, wenn er auch sich
wohl bewußt ist (191), daß Mathematik noch nicht die
tiefste Erkenntnis sei und gebe, sondern daß diese im
28S
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
wichtigeren Kalkül der Metaphysik zu suchen sei, in
der „Analyse der Ideen“, an deren Stelle wir — ohne zu
erheblich von Leibniz’ Meinung abzuweichen — wenig-
stens in einer Richtung die Erkenntnistheorie und eine
mit ihr liierte Methodologie zu setzen haben.
Der reine, mathematische Raum ist eine
Fiktion. Der Begriff desselben enthält die Merkmale der
Fiktivität: der Gedanke einer Ausdehnung ohne Aus-
gedehntes, eines Außereinander ohne Dinge, welche außer-
einander sind, ist ein Ungedauke, ist absurd und unmög-
lich. Der Begriff ist aber für die Mathematik notwendig,
nützlich und fruchtbar, weil der Mathematiker nur die
Eigenschaften und Gesetze der ausgedehnten Objekte als
Ausgedehntes, nicht aber ihre Materialität und sonstigen
physischen Eigenschaften zum Gegenstände der Unter-
suchung macht. Der Begriff des reinen Raumes entsteht,
indem das Verhältnis der Dinge festgehalten wird, wäh-
rend die Dinge seihst weggedacht werden; während wir
die Materie und ihre Intensität allmählich bis zu 0 ab-
nehmen lassen, behalten wir das bloße Verhältnis der
materiellen Dinge zurück. Während der Raum streng-
genonamen in demselben Moment mit verschwinden sollte,
in welchem die Materie zu 0 abgenommen hat und ver-
schwindet, behalten wir das Verhältnis zurück, während
die bezogenen Dinge verschwunden sind. Betrachtet
man ein kontinuierlich ausgedehntes Ding, und läßt
man in Gedanken die Materie sich immer mehr verdünnen
und zu 0 ahnehmen, so ist der reine Raum die Grenze,
wo die Materie im Verschwinden begriffen ist, wo die In-
tensität der erfüllenden Materie im Aufgezehrtwerden,
Verfließen begriffen ist, — diesen Moment halten wir fest;
im nächsten Sloment träte schon das Nichts, die Null an
Stelle der Materie ein, die in dem letzten Momente ihres
Verfliegens und Verfließens erhascht wird.
Wir haben in dem bisherigen Verlauf unserer Unter-
suchung als Resultat gefunden, daß der Raumbegriff,
d. h. der Begriff des reinen, mathematischen Raumes
durch einen eigentümlichen Prozeß unseres Vorstellungs-
vermögens gebildet wird, in welchem Abstraktion
und Imagination auf eine merkwürdige Weise Zu-
sammenwirken. Auf der einen Seite löst die Abstrak-
Die Fiktion des reinen absoluten Raumes.
tion etwas, was wir nur an einem Anderen erfahren
(sei es als Eigenschaft, sei es als Verhältnis), los von
diesem Anderen, an welches es doch so fest und unzer-
reißlich gebunden ist, daß, wenn man das Losgerissene
genau logisch analysiert, man sich gestehen muß, man
habe eben nichts mehr in der Hand. Die Abstraktion
nimmt die Eigenschaft, nimmt das Verhältnis weg vom
Substrat, von den Elementen, und genau genommen
haben diese losgerissenen Stücke ohne das, wovon sie
losgerissen sind, keinen Sinn, sie verfließen in das Nichts,
sie führen auf das Absurde. Der Abstraktion, welche
auf diese Weise das Gegebene gleichsam in Nichts auf-
löst, so daß sie diesem Ergebnis ihrer Tätigkeit ratlos
gegenübersteht, kommt die Imagination zu Hilfe,
welche vermittelst ihrer eigentümlichen Gaben Rettung
bringt. Die Imagination schiebt dem losgelösten Ver-
hältnis die Vorstellung der in Verhältnis stehenden Ele-
mente wieder unter, aber in einer Form, in welcher sie
gleichsam nur noch ein Schatten dessen sind, als was
sie in Wirklichkeit sich uns darstellen. So gibt sie dem
Abstraktionsprodukt eine Stütze, so daß es nicht im Ab-
grund des Nichts verschwindet.
Es kommt darauf an, sich klar zu machen, daß der
Raum des Mathematikers schlechterdings nichts anderes
ist, als ein wissenschaftliches, künstliches Präparat, wel-
ches sich von den künstlichen Präparaten, von schema-
tischen Hilfsgebilden usw. anderer Wissenschaften nur
durch die Art des zu untersuchenden Gegenstandes, nicht
aber durch die Methode unterscheidet. Die Einheit
der Methode ist es, welche stark betont werden muß.
Nur diese methodische Betrachtimgsweise vermag die
alten Vorurteile über die Objekte der Mathematik aus-
zurotten. Nur der Methodologe kann, indem er den
verschlungenen Gängen des menschlichen Verstandes
nachgeht, zeigen, wie auch in der Mathematik genau die-
selben methodologischen Prinzipien walten, wie in den
anderen Wissenschaften. Die Objekte der Mathematik
sind künstliche Präparate, Kunstgebilde, fiktive Abstrakta,
abstrakte Fiktionen, wie dies unten noch von den ein-
zelnen mathematischen Gebilden erwiesen wird. Hier
handelte und handelt es sich um den Raumbegriff im
244)
Z\v(4ler Teil: Spezielle Ausfüliriingen.
allgemeinen, nm den reinen, absoluten Raum, ein Muster-
beispiel einer normalen, wissenschaftlichen Fiktion. Eben
deshalb hat es keinen Zweck, die in diesem Begriff liegen-
den eklatanten Widersprüche hinwegdisputieren zu wollen.
Als echte Fiktion muß die Raumvorstellung in sich selbst
widerspruchsvoll sein. Wer die Raum Vorstellung von
diesen Widersprüchen „befreien“ will, der nimmt ihr ihr
Charakteristikum, sozusagen ihre Ehre als Musterfall
einer echten und gerechten Fiktion.
§ 21.
Fläche, Linie, Punkt usw. als Fiktion.
Was vom reinen, absoluten Raume gilt, das gilt —
mutatis miitandis — nun auch von den einzelnen mathe-
matischen Räumen und Raumteilen, zunächst von der Vor-
stellung der sog. mathematischen Körper, wie Kugel,
Zylinder, Kubus, Prisma usw. Die Grundlagen für die
psychologisch-logische Entstehung dieser Gebilde sind
die entsprechenden empirischen körperlichen Gegenstände.
Aber Aviederum sind Abstraktion und Imagination in der-
selben Weise tätig, wie es oben beschrieben wurde. Das
Körperliche wird auf ein Mimimum, zuletzt auf Null redu-
ziert; damit mußten nun streng logisch die Umgrenzungen
jener körperlichen Gegenstände ebenfalls Avegfallen und
sozusagen in sich zusammenfallen. xAber indem eben
nur vom erfüllenden Inhalt abstrahiert wird, wird die
Form noch festgehalten, und ehe jene Umgrenzungen,
alles Gehaltes entleert, in sich selbst zusammenbrechen,
werden sie von der Imagination gestützt, welche, ent-
sprechend der Evakuation des Inhalts und Reduktion
desselben auf eine unendliche Verdünnung, die Umgren-
zungen als unendlich dünne Schalen, als leere Hülsen,
als Haut, als Deckblatt, ja als bloße Gestelle aufrecht
erhält. Solche Formen ohne Inhalte sind an sich nichts,
ja schlimmer als nichts, denn sie sind widerspruchsvolle
Gebilde, ein Nichts, das doch noch als ein Etwas vor-
gestellt wird, ein Etwas, das schon in ein Nichts über-
geht — aber eben diese widerspruchsvollen Gebilde,
Fläche, Linie, Punkt usw. als Fiktion.
241
diese fiktiven Wesenheiten sind die unentbehrlichen Grund-
lagen des mathematischen Denkens. Die Umgrenzungen
des empirischen Körpers werden für sich genommen,
werden abstrahiert und hypostasiert, und mit diesen
imaginativen Gebilden operiert die Mathematik, speziell
die Geometrie.
Dasselbe ist — wiederum mutatis matantis — der
Fall mit Fläche, Linie, Punkt. Daß die Fläche die Grenze
des Körpers sei, ist eine uralte Definition. Geschichtlich
und psychogenetisch kommen natürlich zuerst nur wirk-
liche „Flächen“, d. h. flache Umgrenzungen in Betracht:
der Begriff der krummen Fläche entsteht erst später.
Flache, also wirklich ebene Gebilde gibt es in der Natur,
sowie schon durch primitives Eingreifen des Menschen
sehr viele : aber hier wird nun abstrahiert von demjenigen
Material, das die Fläche bildet, die formale Beschaffen-
heit wird allein für sich genommen und von der Imagi-
nation verselbständigt. Auch hier ist es an sich ein
Widerspruch, von einer Fläche als solcher zu sprechen,
aber über solche und noch viel härtere Widersprüche
geht das wissenschaftliche Denken unbedenklich seinen
Weg. Würde das Denken sich über alle derartigen Wider-
sprüche aufhalten, so käme es nie vom Fleck.
Und so ist es auch mit der Linie — als „Grenze
der Fläche“. Auch Linien zeigt uns die Natur, sowie
die primitive Kunst genug in Wirklichkeit, aber doch,
sozusagen, ins Körperliche versenkt. Erst die Abstrak-
tion reißt diese Linien heraus als etwas Besonderes,
für sich Seiendes, und ruft die Imagination zu Hilfe,
um diese Gebilde nun zu hypostasieren. Daß nun diese
Gebilde nur fiktive Vorstellungen sind, liegt auf der
Hand. Was der Mathematiker, was der Geometer auf
die Tafel zeichnet, aufs Papier zieht als Linie, das
ist ja keine Linie im^ mathematischen Sinne, denn es hat
immer noch eine, wenn auch auf ein Minimum reduzierte
zweite (ja sogar dritte!) Dimension. Eine Linie im
mathematischen Sinne kann nie sinnlich dargestellt wer-
den, sie ist eine Sache der Abstraktion und der Imagi-
nation, und sie bleibt auf alle Fälle ein widerspruchs-
volles Gebilde.
Dasselbe gilt schließlich natürlich auch vom Punkte,
Vfti h ir< 8ro ?, Phllosop])!©. 16
242
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen,
den man die Grenze der Linie zu nennen pflegt. Auch
hier hat die Mathematik im Anschluß an gewisse sinn-
liche Erfahrungen, deren es ja genug in Natur und Men-
schenwelt gibt, die unsinnliche, ja übersinnliche Idee
eines nach jeder Dimension hin ausdehnungslosen Punk-
tes gebildet — eine in sich haltlose und widerspruchs-
volle Idee, einen trotz seines Minimums monströsen Be-
griff eines Etwas, das schon ein Nichts ist, eines Nichts,
das doch noch ein Etwas sein soll. Der mathematische
Punkt ist vollends eine vollendete echte Fiktion der mathe-
matischen Wissenschaft.
Der Punkt als ein null-dimensionales Gebilde ist eine
in sich gänzlich widerspruchsvolle Idee, aber ebenso
notwendig als absurd. Ein Gebilde ohne jegliche Di-
mension ist ein Nichts in sich selbst. Aber auch das ein-
dimensionale Gebilde der Linie, das zwei-dimensionale
Gebilde der Fläche sind widerspruchsvolle Ideen. In
Wirklichkeit kennen wir nur materielle körperliche Dinge,
aus deren ausgedehnter Eigenart wir die drei Dimen-
sionen abstrahiert haben. Das zwei-dimensionale Gebilde
der Fläche und das ein-dimensionale Gebilde der Linie,
das wir an diesen Körpern gelegentlich zu beobachten
glauben, sind nur Abstraktionen, durch die Imagination
verselbständigt, also Fiktionen, mit denen wir rechnen, als
ob ihnen Wirklichkeiten entsprächen, notwendige Vorstel-
lungshilfen und Hilfsvorstellungen, die uns wohl im
Denken unterstützen, die uns aber keinen realen Auf-
schluß gewähren können. Wir rechnen hier mit Un-
dingen, statt mit Dingen, aber es sind nützliche und un-
entbehrliche Undinge. Wir aber halten diese Undinge
für Dinge, weil wir gewöhnt sind, alles, dem wir einen
Namen geben, für real zu halten, ohne zu bedenken, daß
wir nicht bloß Reales, sondern auch Irreales durch Namen
fixieren können. Wer letzteres einsieht, und wer weiter
einsieht, daß gewisse irreale Vorstellungen uns notwendig
und nützlich sind, der hat den wahren, wissenschaftlichen
Begriff der Fiktion erfaßt.
Bei der Betrachtung von Fläche, Linie und Punkt
kann nun noch ein anderer Gesichtspunkt angewendet
werden. Bisher nahmen wir diese Gebilde als Grenzen
in dem Sinne, daß 'die Grenzen durch unsere Imagination
Die Fiktion des Unendlich-Kleinen.
243
verselbständigt sind, obgleich sie doch nur Grenzen
an einem Etwas sind, die nur durch unsere Ab-
straMion von ihren realen Gegenständen losgelöst wer-
den. Aber wir können auch hier den Begriff des Fließens,
des fließenden Abnehmens vom Realen bis zu Null ein-
führen, und die betreffenden Gebilde dann so entstehen
lassen, daß wir den Verschwindungsprozeß im' letzten
Augenblick aufhalten, wie wir das schon früher bei der
Entstehung des reinen, mathematischen Raumes getan
haben.
§ 22.
Die Fiktion des Unendlich-Kleinen.
Um die Funktion, welche das Unendlich-Kleine spielt,
zu ermessen, müssen wir die Natur der Objekte, bei denen
es ins Spiel kommt, näher betrachten. Die mathemati-
schen Gebilde sind die abstrakten Formen des räumlichen
und zeitlichen Nebeneinander- und Nacheinanderseins.
Eine fundamentale Eigentümlichkeit derselben, die in
letzter Linie etwas durchaus definitiv Gegebenes ist, ist
ihre Einteilung in Gattungen und Arten. So haben wir
z. B. die Gattung der Kegelschnitte, welche sich in die
verschiedenen Arten: Kreis, Ellipse, Parabel, Hyperbel
teilt. Es sind ganz bestimmte und genau definierbare
Modifikationen der allgemeinen Form des Begriffs, welche
aus der Gattung einzelne Arten machen. Man kann von
der einen Art zur anderen nur durch einen begrifflichen
Sprung gelangen.
Nun haben die mathematischen Gebilde freilich eine
Eigenschaft: die Möglichkeit der unaufhörlich fortgesetzten
Verkleinerung und Vergrößerung. Und dazu kommt die
Eigenschaft, haß durch fortgesetzte Verkleinerung (oder
Vergrößerung) eines Elementes eines solchen Arthegriffes
sich derselbe einem benachbarten immer mehr nähert.
Die begriffliche Formel der Ellipse verlangt z. B. das
Vorhandensein zweier Brennpunkte, welche sich also
auch in einer endlichen Entfernung befinden müssen.
Diese Entfernung selbst aber ist unbestimmt, und sie
kann beliebig groß oder beliebig klein sein; solange
2+4 Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
die Bedingung noch innegehalten ist, haben wir eine
Ellipse. Es ist nun aber eine objektiv^e und unleugbare
Tatsache, daß sich, je näher sich die Brennpunkte rücken,
die Ellipse desto mehr dem Kreise nähert. Daraus folgt,
daß, wenn jene Entfernung ganz verschwunden ist, die
Ellipse in einen Kreis übergegangen ist. Allein dieser
Übergang von der einen zur anderen Art ist zuletzt doch
nur möglich durch einen plötzlichen Sprung, der auf ein-
mal in ein ganz neues Gebiet führt. Die Definition der
Ellipse verlangt, daß sie eine Exzentrizität, daß sie zwei
Brennpunkte F und F’ besitze, welche die Entfernung m
haben. Es entsteht eine durchaus anders geartete Ge-
stalt, wenn diese Entfernung wegfällt. Zwischen Vor-
handensein von m und Fehlen von m gibt es nun aber
absolut kein Drittes. Der Begriff der Ellipse besitzt m
als variables Element.
Tatsache ist also, die Ellipse wird durch sukzessivef
Verkleinerung von m dem Kreis stets genähert; wird jene
Distanz m zu 0, so tritt an Stelle der Ellipse der Kreis.
Aus diesen Tatsachen macht nun aber die Vorstel-
lung noch ein Weiteres, was aber rein im Gebiete der
Vorstellung, der Imagination bleibt. Je mehr ich m teile,
desto kleiner wird es. Diese Teilung kann ich ins Uiv
endliche fortsetzen; wie wenn ich es nun wagte, mir
vorzustellen, d. h. die Fiktion machte, diese ins Unend-
liche fortschreitende Teilung — sei vollendet? Freilich
begehe ich damit einen recht krassen, logischen Wider-
spruch, aber ich erhalte doch auch dadurch einen Vorteil.
VVäre nämlich — was ich freilich nur imaginativ,
fiktiv setzen kann — jene unendliche Teilung vollendet,
so wäre der letzte Teil nicht mehr endlich, sondern eben
— unendlich klein. Wemi nun dadurch jene Distanz
m unendlich gering würde, so würden ja auch F und F'
zusammenfallen und doch eigentlich nicht zusammen-
fallen. Es wäre noch eine Distanz da, die aber doch
keine eigentliche Distanz mehr wäre, weil sie eben nicht
mehr endlich ist. Fingieren wir einmal diesen ganz chi-
märischen Fall. Was hätte ich damit bezweckt, w^as
erreicht ?
Es war uns dabei darum zu tun, einen stetigen Über-
gang zwischen Ellipse und Kreis zu statuieren oder mit
Die Fiktion des Unendlich-Kleinen.
245
anderen Worten, es war uns darum zu tmi, den Kreis
als einen Spezialfall der Ellipse zu denken.
Wir wollten nicht aus den Artgrenzen heraus, um' zum
Kreis zu gelangen. Was kann denn das aber für einen
Wert haben ? Ist das nicht eine bloße Spielerei ? Keines-
wegs. Denn wenn ich sagen kann, der Kreis ist als eine
Ellipse zu betrachten, so habe ich auch das Recht,
die Gesetze dieses Gebildes auf jenen anzuwenden.
Man kann die Sache auch so ausdrücken: ich mache
mit der Behauptung, der Kreis sei eine Ellipse, einen
Fehler. Denn bei der Ellipse sind zwei Brennpunkte,
beim Kreise ist nur ein Mittelpunkt : aber ich mache jenen
Fehler immer kleiner, indem ich rn immer verkleinere;
der Fehler wird unendlich klein sein, wenn ich m auch
als „unendlich klein“ setze. Freilich bediene ich mich
dabei eines sehr widerspruchsvollen Begriffes und mache
eben damit einen zweiten Fehler; aber ich erreiche da-
mit doch mein Ziel, den Kreis nach Analogie einer Ellipse
fassen und behandeln zu können.
Es handelt sich also um eine erzwungene und ge-
zwungene Analogie, um eine unberechtigte Übertragung,
ich tue, als ob der Kreis eine Ellipse wäre, ich erreiche
dies durch die Vorstellung, als ob es eine unendlich
kleine Distanz gäbe — ich bewege mich also in lauter
fingierten Vorstellungen, aber es sind fruchtbare Fiktionen.
Betrachten wir nunmehr die Funktion des „Unendlich-
Kleinen“ allgemeiner, so sehen wir, daß dieser Begriff
dazu dient, Gebilde, welche nahe verwandt sind und deren
Eines durch eine Verminderung (oder Vermehrung) eines
seiner Begriffselemente sich dem Anderen stets nähert,
ohne doch jemals mit ihm zusamenzufaJlen, solange
jenes Begriffselement noch überhaupt da ist, als gleich-
artig fassen zu können. Wo aber eine Art auf
eine andere und auf deren Gesetze reduziert werden
kann, wird die Aufgabe des Denkens vereinfacht. Somit
dient der Begriff durch Stiftung einer gezWun-
genenAnalogie, eines Bandes zwischen verschiedenen
Arten zur Vereinfachung des Denkens.
Der Begriff des „Unendlich-Kleinen“ muß
freilich eben darum widerspruchsvoll sein. Da,
wie wir feststellten, zwischen den mathematischen Arten
246
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
ein begrifflicher Sprung ist, weil zwischen Nichts und
Etwas eine emge Kluft bleibt, so muß der besagte Be-
griff selbst ein Zwitterding zwischen Etwas und
Nichts sein. Wenn er zwei Arten vermitteln soll,
welche sich durch Anwesenheit und Abweserjieit eines
Elementes unterscheiden, wenn es gelingen soll, die eine
Art als Spezialfall der anderen zu fassen, so muß ent-
weder die Anwesenheit jenes Elementes als Abwesenheit,
oder die Abwesenheit als Anwesenheit aufgefaßt, vor-
gestellt, fingiert werden können. Diese widerspruchs-
volle Aufgabe übernimmt jener Begriff, indem er aller-
dings die Abwesenheit eines Elementes als die Anwesen-
heit eines unendlich kleinen Teiles dieses Elementes
faßt. Im „Unendlich-Kleinen“ steckt eben das Nichts
und das Etwas zugleich. Als Vermittelungsbegriff
muß das Unendlich-Kleine jene kontradikto-
rischen Bestimmungen in sich vereinigen —
das „Unendlich-Kleine“ ist somit eine echte und rechte
Fiktion.
Es gibt auch Fälle, wo jene fiktive Betrachtungsweise
mehr als bloße dialektische Spielerei und unnötige Ver-
mittelung ist, nämlich dann, wenn die direkte Ableitung
einer Formel nicht gelingen will; dann ist dieser indirekte
Weg, dieser Schleichweg, das einzige Mittel, um zmn Ziele
zu gelangen. Schon bei der Berechnung der Kreisfläche
tritt dieser Fall ein. Aus der Betrachtung des Kreises als
Kreis können wir wohl niemals zu der Flächenformel
gelangen, schon deshalb nicht, weil ja das Verlangen, die
Fläche des Kreises zu bestimmen, auf der fiktiven
Vorstellung berulit, es lasse sich ein gemeinschaft-
liches Maß für geradlinige und krummlinige Figuren fin-
den. Wo wir also eine solche Formel nicht direkt ableiten
können, da tut jener bezeichnete Umweg durch das Un-
endlich-Kleine vortreffliche Dienste; indem wir in diesem
Falle bekanntlich den Kreis als einen Spezialfall, als den
Grenzfall eines Vieleckes betrachten, erhalten wir jene
Formel durch diese fiktive Behandlung desselben. Wir
tun, wir sprechen, wir denken, wir rechnen — als ob der
Kreis ein regelmäßiges Vieleck mit unendlich vielen, un-
endlich kleinen Seiten wäre. Wir machen also die Fiktion
unendlich ^^eler, unendlich kleiner Seiten. Somit ist
Die Fiktion (ies Unendlich-Kleinen.
247
hier die Fiktion des Unendlich-Kleinen nicht nur
eine wertlose Spielerei, sondern sie hat ihren guten Sinn
und ihr gutes Recht, und sie ist, wie gezeigt, wenigstens
eine bequeme Rede- und Vorstel-
lungsweise. Aus der Formel der Viel-
ecksfläche F =-h CM (AB + BC + CD
-f- N A) (wo G M = dem Radius
des eingeschriebenen Kreises ist) er-
halten wir die Formel für die Kreis-
fläche durch die Erwägung, daß in
diesem Falle, wenn wir den Kreis N
als ein regelmäßiges Vieleck von
unendlich vielen, kleinen Seiten be-
trachten, der Radius des umschriebenen Kreises (Seite der
Dreiecke, in die man das Vieleck zerlegt) und der des ein-
geschriebenen Kreises (Höhe derselben Dreiecke) unendlich
wenig differieren, und wir also das Recht haben, an Stelle
des Faktors GM den Radius des bezüglichen Kreises selbst
zu setzen, wodurch wir nebst den übrigen Modifikationen
die bekannte Formel F = rV erhalten.
Diese Reispiele, welche sich beliebig vermehren ließen,
weisen alle darauf hin, daß das „Unendlich -Kleine“
und ebenso auch das „Unendlich-Große“ Vermittelungs-
begriffe zwischen ungleichartigen Gebilden sind, hinter
denen keineswegs etwas Mysteriöses zu suchen isU). Der
„Durchgang durchs Unendliche“, wie man diesen Kunst-
griff getauft hat, ist ein durchaus durchschaubarer metho-
discher Vorgang, wie unsere Analyse desselben gezeigt
hat. Der Widerspruch ist für diese beiden Be-
griffe eben darum unentbehrlich, weil sie Ge-
biete vermitteln sollen, die ungleichartig sind, deren De-
finition sie einander ausschließt, weil in dem Begriff des
einen ein Element fehlt, das in dem anderen enthMten ist.
h In bezug auf das Unendliche sei hier noch angeführt, was
Gauß darüber sagt (Briefwechsel II, 271). Er sagt, das Unendliche
sei nur ,eine Fa^on de 'parier^ indem man eigentlich von Grenzen
spricht, denen gewisse Verhältnisse so nahe kommen, als man will,
während anderen ohne Einschränkung zu wachsen verstattet ist“ usw.
Wagon de parier — ganz so bezeichnet schon Leibniz das Unendliche
in ieder Hinsicht: als einen modus dicendi.
248
Zweifer Teil: Spezielle Ausführungen.
Aber wir bilden trotzdem jene widerspruchsvollen Begriffe
mit vollem Bewußtsein ihrer widerspruchsvollen Natur:
mit vollem Bewußtsein bilden wir falsche, unmögliche Be-
griffe um eines praktisch-wissenschaftlichen Zweckes
willen — Fiktionen.
Wenn man die Frage aufwirft, wie sich denn das
Rätsel erkläre, daß man gerade durch solche unlogischen,
ja unsinnigen Begriffe richtige Rechnungsresultate er-
halte, so liegt die Antwort hierauf schon in dem, was wir
bei den früheren Fiktionen als gemeinsames Gesetz fan-
den, nämlich in der Korrektur der gemachten Fehler.
Das Denken macht offenbar einen Fehler, der in dem
zuletzt betrachteten Falle eklatant genug ist. Dieser Fehler
besteht einfach darin, daß der Kreis überhaupt als ein
Vieleck betrachtet wdrd. Da, wie aus den elementaren
Definitionen leicht erhellt, jene beiden Gebilde — Kreis
und Vieleck — spezifisch verschieden sind, so ist schlech-
terdings logisch unmöglich, das eine Gebilde unter die
andere Spezies zu subsumieren. Der Fehler besteht somit
offenbar. Es ist aber selbstverständlich, daß sich ein
irgendwo eingeführter Fehler in dem Schlußergebnis stö-
rend geltend machen muß; da nun aber im vorliegenden
Falle dies nicht stattfindet, indem' ja das Resultat und die
daraus gezogenen Konsequenzen, speziell die Flächen-
berechnung, zutreffen, so kann das nur so erklärt wer-
den, daß jener Fehler wieder auf irgendeine Weise rück-
gängig gemacht worden ist. Das ist denn auch der Fall.
m V Betrachten wir das Bogenstück m n,
welches als äquivalent mit der Ecke m p n
angesehen wird (m n = m p -f- P n), so
P liegt der Fehler auf der Hand und das
Gleichheitszeichen ist hier positiv falsch. Der Fehler wird
aber dadurch rückgängig und unschädlich gemacht, daß
beide Seiten der Gleichung unendlich klein angenommen
werden, sowohl das Bogenstück als die Ecke, und daß,
wie schon oben bemerkt war, daraus dann als Folge sich
ergibt, daß jener Kreis als ein Vieleck mit unendlich
vielen, unendlich kleinen Seiten betrachtet wird. Durch
Die Fiktion des Unendlich-Kleinen.
249
die stetige Verkleinerung von m n und durch entsprechende
Vervielfachung der Zahl der Ecken des eingeschriebenen
Vielecks wird der gemachte Fehler ebenso stetig verklei-
nert; und weil dies ins Unendliche fortgesetzt gedacht
w'ird, wird eben der begangene Fehler dadurch selbst un-
endlich klein, oder vielmehr = Null. Somit besteht das
ganze Geheimnis hierbei in der Kompensation des
gemachten Fehlers. Diese Korrektur spezifiziert sich
nun in diesen und in ähnlichen Fällen dahin, daß der
eine Fehler durch einen anderen Fehler kompensiert wird,
weshalb man dieses ganze Verfahren die „Methode der
doppelten Fehler“ zu nennen berechtigt ist. Dieser zweite
Fehler ist hier eben die unlogische Annahme eines Un-
endlich-Kleinen oder, wenn man will, eines Unendlich-
Großen (jenes bezieht sich auf die Größe der Vielecks-
seiten, dieses auf ihre Zahl, was beides voneinander
abhängig ist). Jene obige Gleichung ist, so wie sie dasteht,
falsch; sie verliert an Unrichtigkeit mit der zunehmenden
Kleinheit und Anzahl der Seiten, bleibt aber eine endliche,
solange die beiden betreffenden Größen selbst endliche
bleiben. Sie wird, wie bemerkt, unendlich klein, d. h.
= Null, sobald jene Größen selbst ins Unendliche über-
gehen; nur daß diese Setzung eines Unendlich-Kleinen, wie
bemerkt, ein neuer Fehler ist, der aber den ersteren kom-
pensiert. Nachdem so die beiden Fehler sich gegenseitig
gleichsam vertilgt haben, wird die Rechnung von beiden
zugleich befreit; das Resultat wird ein richtiges, nach-
dem der erste Fehler durch einen zweiten gutgemacht ist.
Jetzt lassen sich viele Sätze, die von Vielecken gelten,
mutatis mutandis auf den Kreis' übertragen, wenigstens
diejenigen, welche diese Umwandlung ertragen und zu-
lassen. Durch die fiktive Analogie ist also ein bestimm-
ter, sehr nützlicher Zweck erreicht. Die Betrachtung des
Kreises, als ob er ein Vieleck w'äre, hat sich als eine
fruchtbare Vorstellungsweise erwiesen; ich tue, spreche,
denke, rechne, als ob es unendlich kleine Vielecksseiten
gäbe, als ob es unendlich viele solcher gäbe, und als ob
die unendlich große Anzahl derselben doch in einer end-
lichen Größe vollendet summiert wäre: durch alle diese
falschen Vorstellungen hindurch komme ich zu einem
schließlich doch richtigen Resultat.
250
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
Bekanntermaßen steht dieses Beispiel — die Reduk-
tion des Kreises auf ein Vieleck — nicht isoliert da. Viel-
mehr wird dieselbe fiktive Analogiemethode sehr häufig
angewendet. Nach ganz denselben Prinzipien betrach-
tet man den Zylinder als ein regelmäßiges Prisma von
miendlich großer Seitenzahl, und vermöge dieser Fiktion
ist die Jnhaltsformel des Prisma: V = h*F in der Form
V — h*r^7r auch auf den Zylinder anwendbar. So kann
man den Kegel als eine regelmäßige Pyramide von u|n-
endlicher Seitenzahl betrachten, und die Inhaltsformel
der Pyramide V = h • F gilt unter der Form V = h • r^/r
vom Kegel. Genau so ist es bei der Kugel, deren Ober-
fläche berechnet werden soll. Man sucht zu diesem
Zwecke zuerst die Fläche, welche ein um eine Achse
rotierendes Vieleck beschreibt, und überträgt das hier
gefundene Gesetz auf die von einem Halbkreis beschrie-
bene Fläche. Um den Inhalt zu berechnen, kann man
sich die Kugel in eine unendliche Anzahl um den Mittel-
punkt herumliegender dreiseitiger Pyramiden von unend-
lich kleiner Grundfläche zerlegt denken.
Wir finden hier überall dasselbe Prinzip der fik-
tiven Analogie, nach dem' das Krumme als aus' un-
endlich vielen, unendlich kleinen geraden Linien zusam-
mengesetzt gedacht wird. Nach streng logischen Re-
geln könnte man, wie bemerkt, niemals das Krumme
unter das Gerade subsumieren. Alle Gesetze geradliniger
Figuren gelten nur für solche, und die geradlinigen Figu-
ren bleiben geradlinig, auch wenn man die Zahl der
Ecken ins Unbestimmte vermehrt. Man kommt damit
nie zu einer Grenze, und es gibt keinen angebbaren Punkt,
wo das Geradlinige plötzlich umspränge und krummlinig
würde. Freilich werden sich beide immer mehr nähern,
aber Näherung ist noch keine Berührung, ist noch kein
Zusammenfallen. Keine Vervielfältigung der Seiten kann
zu einem Zusammenfallen führen. Der Fehler, den
man also mit der Identifiziermig macht, ist da. Wie er
korrigiert wird, wurde schon oben bemerkt.
Es gibt noch mehrere belehrende Beispiele derselben
Methode. Es kann nämlich z. B. auch umgekehrt von
Wert sein, das Gerade unter das Krimime zu subsumieren.
I
Die Fiktion des Unendlich-Kleinen.
251
I Da nun eine Kreislinie von sehr großem Durchmesser sich
sehr dem Geradlinigen annähert, so läßt sich das letztere
als Ausschnitt eines Kreises mit unendlichem Durch-
messer betrachten; eine Gerade wird so betrach-
tet und behandelt, als ob sie Teil der Peripherie eines
S Kreises mit unendlich großem Durchmesser wäre.
Ähnlich ist es mit dem Punkte, d. h. dem mathe-
! matischen, bei dem es von Interesse sein kann, ihn als
' Fläche (oder Körper) zu betrachten. Man betrach-
i tet den mathematischen Punkt zu diesem Zweck, als
ob er ein Kreis oder eine Kugel von unendlich kleinem
I Durchmesser wäre.
Dieselbe Vermittlerrolle, welche wir das Unendliche,
speziell das Unendlich-Kleine hier spielen sehen, über-
nimmt derselbe Begriff bekanntermaßen in viel ausge-
dehnterer Weise in der „Infinitesimalmethode“. In dieser
wird dasselbe Prinzip, das wir bisher verfolgten, weiter aus-
gedehnt, und, was das Auszeichnende und Unterscheidende
ist, die Rechnung bemächtigt sich jener fiktiven Methode
in eigentümlicher Weise. Bei den bisher betrachteten
Fällen bot ja die Rechnung keine Schwierigkeiten dar;
1 sobald die Betrachtungsweise gerechtfertigt war, sobald
die Übertragung ihre Begründung gefunden hatte, konnte
, man die Vieleckssätze ohne weitere Umschweife auf den
: Kreis anwenden; denn jene unendlich kleinen Größen
spielten nur in der Begründung, nicht aber in der Rech-
nung .eine Rolle. Einen anderen Aspekt gewinnt aber
die Sache in der eigentlichen Infinitesimalrechnung, deren
auszeichnende Eigentümlichkeit nicht, wie man häufig
meint, in der Infinitesimalkonzeption als solcher zu suchen
ist — diese war auch schon vor Leibniz und Newton
aufgekommen — sondern vielmehr in der Auffindung
eines analytischen (algebraischen) Ausdrucks für das
Unendlich-Kleine.
Eine andere bekamite Anwendmig des Unendlichen
mittels einer gewaltsamen Subsumtion ist folgende: Man
kann einen der drei Eckpunkte eines Dreiecks beliebig
von der ihm gegenüberliegenden Seite allmählich immer
weiter und weiter ins Unbeschränkte hinausrücken. Dabei
werden selbstverständlich die zwei Winkel an jener Seite
immer größer, während der Winkel an dem besagten Eck-
252 Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen;
punkte sich ins Unbeschränkte verkleineil. Da alle drei
Winkel zusammen zwei Rechte ausmachen, so werden
also jene zwei Winkel an der Seite zusammen sich
immer mehr der Summe von zwei Rechten nähern, ohne
sie jedoch, solange jene Hinausschiebung eine endliche
ist, zu erreichen. Nimmt man nun hier den Begriff des
Unendlich-Großen zu Hilfe, indem man jenen Eckpunkt
in unendlicher Entfernung denkt, so verwandeln sich die
beiden Seiten in Parallellinien, und die zwei Winkel
werden genau gleich zwei Rechten. Man kann also die
beiden parallelen Geraden in Verbindung mit dem von
ihnen auf der dritten Geraden abgeschnittenen Stücke be-
trachten, als ob sie ein Dreieck mit zwei unendlich
langen Seiten bildeten. Und daraus folgt dann sogleich,
daß das sog. 11. Axiom, nach dem die Summe der
beiden inneren Gegenwinkel zweier parallelen geraden
Linien, welche von einer dritten Geraden geschnitten wer-
den, 180 0 betrage, als ein Spezialfall des Satzes zu be-
trachten ist, daß die Summe der drei Winkel in einem
ebenen Dreiecke gleich zwei Rechten sei. Wir haben
also auch hier wieder dieselbe Anwendung : der Begriff
des Unendlich-Großen dient zur Subsumtion eines hete-
rogenen Falles unter einem anderen, als dessen sogenann-
ten Grenzfall er sich betrachten, d. h. fingieren läßt.
Aber gerade die fiktive Annahme dieses Grenzfalles ist
eben der Fehler, welcher durch Einführung des fiktiven
Unendlichkeitsbegriffes korrigiert wird.
§ 26.
Der Sinn der Als-Ob-Betrachtung.*)
Qxio melior grammaticus,
eo melior philosophus.
Dieser alte Satz mag trotz der Übertreibung, welche
er einschließt, als Motto zu der folgenden Untersuchung
dienen, durch welche wir unsere frühere Darstellung er-
Die fortgefallenen §§ 23—25 enthalten historische Ergänzungen
zur Infinitesimalfiktion, ergänzende Bemerkungen über mathemathische
Hilfslinien u. a.
Der Sinn der Als-Üb-Betrachtung.
253
weitern und vertiefen. Wir htaben aufs neue in den vorher-
gehenden Paragraphen die weittragende Bedeutung der
„Als-Ob-Betrachtung“ besonders in der Geschichte der
neueren Mathematik kennen gelernt. Und so mag eine
erneute grammatische Analyse des Als ob unsere logische
Untersuchung verstärken.
Nehmen wir zur Verdeutlichung zunächst zwei Stel-
len aus Kants Kritik der praktischen Vernunft 1. Teil,
1. Buch, 1. Hauptstück : „Von den Grundsätzen der rei-
nen praktischen Vernunft..“ 1. Deduktion der Grundsätze.
1. „Wenn die Maxime, nach der ich ein Zeugnis ab-
zulegen gesonnen bin, durch die praktische Vernunft ge-
prüft wird, so sehe ich immer darnach, wie sie sein
würde, wenn sie als allgemeines Naturgesetz gälte.“
2. „Wir sind uns durch die Vernunft eines Gesetzes
bewußt, welchem, als ob durch unseren Willen zugleich
eine Naturordnung entspringen müßte, alle unsere Maxi-
men unterworfen sind.“
Ferner folgendes Beispiel aus Kants „Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten“, 3. Abschnitt.
3. „Ich sage nun: ein jedes Wesen, das nicht anders,
als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist
eben darum, in praktischer Hinsicht wirklich frei, d. i.
es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit
unzertrennlich verbunden sind, ebenso, als ob sein Wille
auch an sich selbst, und in der theoretischen Philosophie
gültig, für frei erklärt würde. Nun behaupte ich, daß wir
jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, not-
wendig auch die Idee der Freiheit leihen müs-
sen, unter der es allein handle.“
Dazu daselbst die erläuternde Anmerkung:
. . . „so gelten doch dieselben Gesetze für ein We-
sen, das nicht anders, als unter der Idee seiner
Freiheit handeln kann, die ein Wesen, das wirklich frei
wäre, verbinden würden.“
Diese Beispiele genügen als Basis für unsere folgende
Untersuchung, deren Thema dahin zu präzisieren ist,
daß wir den Sinn, den logischen Wert und Gehalt, die
gedankliche Bedeutung der Partikelverhindung „als ob“
zu erforschen haben.
Welche logische Funktion oder welche Art
254
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen
und Modifikation der allgemeinen Urteil s f o nn.
wird durch die sprachliche Formel „als ob“ (wie
wenn) ausgedrückt? Welche Wendung des Den-
kens wird durch diese Form angedeutet und zum,
Ausdruck gebracht ?
Nehmen wir das dritte der obigen Beispiele, so ist
der kürzeste Ausdruck des Gedankens: Der Mensch muß
handeln, und in bezug auf seine Handlungen beurteilt
werden, als ob er frei wäre, wie wenn er frei wäre. Zu-
nächst wird — das liegt in dem „als“ und in dem
„wie“ — offenbar eine Gleichsetzung, eine Vergleichung
gemacht oder gefordert. Die Gesetze, nach denen der
Mensch handeln soll, werden verglichen oder direkt
gleichgesetzt mit den Gesetzen freier Wesen. Der
erste Gedanke ist also einfach: Der Mensch muß handeln
genau so, wie die freien Wesen handeln. Allein diesem
primären Gedanken stellt sich ein sekundärer zur Seite,
welcher durch den Konditionalsatz ausgedrückt wird. Die
Form dieses Konditionalsatzes besagt, daß die darin auf-
gestellte Bedingung eine unwirkliche oder un-
mögliche ist. Die Formel: der Mensch muß in sei-
nem Handeln beurteilt werden, als ob er frei wäre — ent-
spricht nicht dem einfachen Schema: wenn, so; ein
Nachsatz scheint gar nicht da zu sein. Der Nachsatz
ist aber nur verschwiegen und unterdrückt und liegt
zwischen dem „als“ und „ob“ mitten inne, aber er ist
gleichsam verschluckt: in dem ersten Beispiele hat Kant
diese Aposiopese nicht gemacht; er sagt ausführlicher:
ich betrachte die Maxime so, wie sie sein würde,
wenn sie als allgemeines Naturgesetz gelten sollte.
Die Urform wäre: wenn der Mensch frei wäre, so
würde diese oder jene Folge eintreten. Der notwen-
dige Zusammenhang der Folge mit der Bedingung
wird mit Bestimmtheit ausgesprochen, zugleich aber die
Erfüllbarkeit der letzteren ausdrücklich in Abrede gestellt,
so daß also auch der Haupt- oder Nachsatz, dessen Gül-
tigkeit an jene Bedingung geknüpft war, und der mit
Notw’ endi g keit aus ihr folgt, etwas nicht Wirk-
liches enthält. Es wird also in diesem Beispiel die
Bedingung: die Freiheit, geleugnet, und damit natürlich
in diesem Falle auch die daraus fließenden Folgen. Der
I
255
Der Sinn der Als-Ob-Betrachtung.
I
: Fall wird gesetzt, aber seine Unmöglichkeit ist nackt aus-
gesprochen. Dieses Unmögliche wird aber in einem sol-
chen Konditionalsatz momentan als möglich öder wirk-
lich angenommen oder gesetzt.
I Nim aber wird diese ganze hypothetische Verbin-
dung in einen neuen Zusammenhang gebracht. Es wird
der Hauptsatz — der Folge- oder Nachsatz — in eine
i neue Verschlingung gebracht, es "wird gleichsam eine
I zweite Schleife zur ersten hinzugemacht. Diese neue Ver-
bindung ist schon oben herausgehoben ; es ist eine Gleich-
setzung eines anderen Falles mit dieser Folge. Während
nun aber diese Folge in dem einfachen Konditionalsatz,
wie bemerkt, ein Unwirkliches ist (weil auch die Be-
dingung eine unwirkliche ist), wird diese unwirkliche
Folge doch als der Maßstab gesetzt, nach dem ein vor-
liegendes Wirkliches zu messen ist. Somitistdadurch
I die Gleichsetzung einer Sache mit den not-
i wendigen Folgen eines unmöglichen oder un-
‘ wirklichen Falles f orderungsweise ausge-
sprochen. Bei dem vorliegenden Beispiel ist 1. der un-
mögliche Fall: Die Existenz freier V/esen oder kürzer
die Behauptung, die Menschen seien freie Wesen. 2. Die
notwendigenFolgen (aus diesem unmöglichen Falle) :
Die Gesetze, nach denen freie Wesen handeln: diese
folgen mit Notwendigkeit aus der Existenz freier Wesen.
3. Die Gleichsetzung einer Sache (mit den not-
wendigen Folgen [aus dem unmöglichen Falle]): Die
Gesetze, nach denen die wirklich existierenden Menschen
handeln sollen, werden gleichgesetzt (f orderungsweise)
mit den Gesetzen, welche notwendig folgen aus der'
(unwirklichen oder unmöglichen) Existenz freier Wesen.
Somit wird hier ein unmöglicher Fall fingiert, aus
ihm werden die notwendigen Konsequenzen gezogen, und
mit diesen Konsequenzen, welche doch auch unmöglich
sein sollten, werden Forderungen gleichgesetzt, welche
aus der bestehenden Wirklichkeit selbst nicht folgen.
Das läßt sich leicht an den oben mitgeteilten Bei-
spielen im einzelnen durchführen. Bei dem ersten Bei-
spiel setze ich mit Kant den unmöglichen Fall, eine
sittliche Maxime gelte als allgemeines Naturgesetz; aus
diesem unwirklichen Fall zieht Kant die Konsequenzen,
25G
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
nämlich hier die Eigenschaften eines allgemeinen Natur-
gesetzes; und diese Eigenschaften werden sodann auf die
Maxime selbst übertragen.
Ebenso ist es beim zweiten Beispiel : man setzt den
unwirklichen Fall, daß durch unsern Willen zugleich eine
(allgemeine) Naturordnung entspringen müßte; aus diesem
fingierten Falle zieht man als notwendige Konsequenz
das angedeutete Gesetz, und diesem werden unsere wirk-
lichen Willensrichtungen, die Maximen, unterworfen.
Mit dem Terminus: „Idee der Freiheit“, mit der For-
derung, man müsse „jedem vernünftigen Wesen die
Idee der Freiheit leihen“, meint Kant dasselbe; „Idee
der Freiheit“ heißt jener unmögliche, unwirkliche, ideale,
nur in der Idee bestehende, fingierte Fall, und man muß
leihweise diesen Fall annehmen, die wirklichen Wesen
als frei betrachten, was sie aber nicht sind; sonst müßte
man nicht die Idee „leihen“, wenn sie ihnen selbst als
Eigenschaft eigentümlich angehören würde; und dann
muß man hieraus die betreffenden Konsequenzen ziehen,
in diesem Falle die moralischen Anforderungen, welche
an ein freies Wesen gestellt werden können.
§ 27.
Das fiktive Urteil.
Das fiktive Urteil, dessen sprachlichen Ausdruck,
das Als ob, wir eben zergliedert haben, läßt sich in
die traditionelle Einteilung der Urteilsformen in keiner
Weise einstellen, ein neuer Beweis, daß diese insbesondere
von Sigwart und Lotze angegriffene Einteilung wesent-
licher Korrekturen bedarf. Die Grundform des fiktiven
Gedankenzusammenhanges ist: A ist zu betrachten, als
ob (wie wenn) es B wäre, oder : A ist als B zu betrachten
(obwohl es nicht B ist); z. B. der Mensch ist als ein
freies Wesen zu betrachten (behandeln), der Kreis ist als
ein Vieleck zu betrachten (behandeln). Ist das ein posi-
tives oder ein negatives, ein kategorisches oder ein hypo-
thetisches, ein assertorisches oder ein problematisches
Urteil? Welche Art von Zusammenhang wird hier zwi-
Das fiktive Urteil.
257
sehen A und B statuiert? Und auf welche Weise soll
dieser so oder so statuierte Zusammenhang stattfinden?
Die einfache, ursprüngliche Urteilsfunktion (das so-
genannte assertorische, kategorische Urteil) spricht die
Gleichsetzung von A und B nach irgendeiner Richtung
aus, sagt aus, daß zwischen A und B irgendeine der
möglichen Urteilsrelationen (Tätigkeit, Eigenschaft, Iden-
tität usw.) bestehe. Nennen wir dieses Urteil das pri-
märe, so stehen ihm mehrere sekundäre Urteilsmodi zur
Seite zunächst das negative, dann das problematische.
Im primären Urteil wird die Urteilsfunktion einfach
vollzogen A ist B.
In den sekundären Urteilsformen wird dieser Voll-
zug auf irgendeine Weise alteriert. Das negative Ur-
teil hebt einen schon geschehenen Urteilsvollzug auf
oder weist den Versuch zu einem solchen zurück: A ist
nicht B. Das problematische Urteil gibt den Voll-
zug oder seine Aufhebung frei, da das Subjekt über den
Rechtsgrund zu dem Vollzug oder über die Notwendigkeit
des Nichtvollzuges noch nicht mit sich einig ist: A ist
vielleicht B; A ist vielleicht nicht B. Modifikationen
davon sind die Formen, welche durch Adverbia wie:
wahrscheinlich, möglicherweise, wahrscheinlich nicht,
kaum usw. ausgedrückt werden.
Hieran schließt sich nun offenbar das fiktive Ur-
teil als eine sekundäre Urteilsform: das Urteil
wird vollzogen mit gleichzeitigem Protest gegen den Ge-
danken der objektiven Gültigkeit, aber mit ausdrücklicher
Wahrung der subjektiven Bedeutung. Das Urteil wird
mit dem Bewußtsein der Ungültigkeit vollzogen, aber es
wird dabei stillschweigend vorausgesetzt, daß dieser Voll-
zug für das Subjekt, für die subjektive Betrachtungsweise
zulässig, nützlich und zweckdienlich ist. Die Form ist,
wie bemerkt : A ist zu betrachten, wie wenn es B
wäre. Jene Ungültigkeit ist schon durch die Form
des hypothetischen Satzes ganz deutlich ausgesprochen,
wie schon im vorigen Paragraphen zu bemerken Ge-
legenheit war: in einen hypothetischen Zusammenhang
können ja nicht nur wirkliche und mögliche, sondern auch
unwirkliche und unmögliche Dinge gebracht werden, weil
nur der Zusammenhang zwischen den beiden Vorausset-
Vaihing er, Philosophie. 17
258
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
Zungen, nicht die Wirklichkeit dieser seihst, zum Ausdruck
gelangt. „Wenn der Kreis ein Vieleck wäre, so wäre er den
Gesetzen gradliniger Figuren zu unterwerfen.“ Dieser Zu-
sammenhang ist ebenso notwendig, wie beide Sätze, die
in Zusammenhang gebracht sind — streiiggenommen —
falsch sind. „Wenn der Diamant ein Metall wäre, so wäre er
schmelzbar.“ „Wenn Cäsar nicht ermordet worden wäre,
so hätte er sich zum Imperator auf geschwungen.“ „Wenn
ich den Philipp gerecht handeln sähe, würde ich ihn
für sehr bewundernswert halten“ (Demosthenes). „Wenn
wir den Hilfszug unternommen hätten, würde uns Phi-
lipp jetzt nicht lästig sein“ (id). Das sind bekanntlich
lauter absolut notwendige Zusammenhänge zwischen Un-
wirklichem oder Unmöglichem. In der Fiktion wird ein
solcher unmöglicher und also auch ungültiger Fall für
einen praktischen Zweck als nichtsdestoweniger möglich
angesetzt; genauer genommen ist die Wendung noch
feiner; nicht der immögliche Fall selbst wird als wirklich
gesetzt, sondern nur mit den aus ihm fließenden Folgen,
die mit ihm notwendig verbunden sind, wird die Be-
trachtungsweise des vorliegenden Gegenstandes oder Falles
gleichgesetzt, während die Bedingung selbst durch die
Form zugleich als eine unerfüllbare mitbezeichnet wird.
Offenbar liegt dies in der Redewendung: „der Kreis ist
denjenigen Gesetzen geradliniger Figuren zu unterwerfen,
welchen er unterstünde, wenn er ein Vieleck wäre“, oder:
„der Kreis ist so zu behandeln, wie wenn er ein Vieleck
wäre“. Es liegt auf der Hand, daß die Ungültigkeit der
Gleichsetzmig von Kreis und Vieleck, von A und B, in
dieser Form als eine unbedingte ausgesprochen wird.
Sonach ist das fiktive Urteil eine höchst eigentüm-
liche Komplikation: es ist negativ, insofern die Gleich-
setzung von A und B deutlich als eine ungültige ausge-
sprochen wird; es ist positiv, insofern die Möglichkeit,
dieses ungültige Urteil doch als gültig zu behandeln, be-
jaht wird; in dieser selben Hinsicht ist es auch kate-
gorisch, während es doch zugleich andererseits einen
hypothetischen Bestandteil enthält; denn es setzt einen
unmöglichen Fall und zieht aus diesem die notwendigen
Konsequenzen : es ist problematisch, assertorisch, sogar
eventuell apodiktisch, insofern es diese Behandlungsweise
Das fiktive Urteil.
259
einfach ausspricht oder ihre Möglichkeit oder Notwendig-
keit besonders hervorhebt. Was aber die Gleichsetzung
von A und B selbst betrifft, so ist diese keine asser-
torische, auch nicht eine problematische, sondern einfach
eine fiktive, d. h. hier ist ein neuer Urteilsmodus zu
statuieren, der bis jetzt unbeachtet geblieben ist.
Das fiktive Urteil wird nun freilich grammatisch oft
in so verkürzter Form ausgesprochen, daß es vom
einfachen kategorisch-assertorischen Urteil nicht zu unter-
scheiden ist. Ein fiktives Urteil hat strenggenommen
folgende Form:
Der Kreis ist als ein Polygon von unendlich vielen,
unendlich kleinen Seiten zu betrachten.
Aber daraus wird dann durch eine locutio compen-
diaria :
Der Kreis ist ein Polygon mit unendlich vielen, un-
endlich kleinen Seiten.
Und schließlich lautet die Verkürzung:
Der Kreis ist ein Polygon.
Die „Zweideutigkeit der Kopula“ kommt hier zum
Vorschein. Das „ist“ ist nicht nur zweideutig, sondern
vieldeutig. In diesem' Falle ist das „ist“ eine sehr knappe
Abbreviatur für einen sehr komplizierten Gedankeii-
zusammenhang. In der Mathematik sind nun solche
grammatischen Abbreviaturen nicht von Gefahr, weil in
dieser Wissenschaft die Korrektur einer eventuellen
irrigen Interpretation nahe bei der Hand liegt.
Anders liegt es in anderen Wissenschaften. Das Urteil:
die Materie ist aus Atomen zusammengesetzt — kann von
dem, der es ausspricht, als bewußt-fiktives Urteil gemeint
sein, kann aber von dem', der es hört oder liest, ohne
eigene Schuld dogmatisch verstanden werden. Hier kann
also schon die Abbreviatur recht gefährlich werden. Hier
muß die unerläuterte Abbreviatur dazu führen, die Fik-
tion in ein Dogma oder wenigstens in eine Hypothese zu
verwandeln.
Am gefährlichsten, am verhängnisvollsten wirken solche
Abbreviaturen aber in der Religion. Mancher Satz
manches Religionsstifters ist von ihm selbst zunächst
nur als bewußte Fiktion gemeint gewesen. Aber teils
die Armut der Sprache in den Urzeiten, teils die Freude
260
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
an kurzen und prägnanten, rhetorisch wirkenden Sätzen,
teils die Rücksicht auf die mindergebildeten, kindlichen
Gemüter der Hörer führte und verführte die Religions-
stifter dazu, das, was sie selbst nur im Sinne einer be-
wußten Fiktion meinten, in der sprachlichen Form
eines Dogmas auszusprechen. Und nach dem uns ja hin-
reichend bekannten „Gesetz der Ideenverschiebung“ ver-
wandelte sich die bewußte Fiktion des Meisters alsbald
für den Jünger unbewußt in das Dogma. Christus lehrte:
Gott ist euer Vater im Himmel; damit meinte er wohl:
Ihr müßt Gott (dessen Existenz für Christus natürlich
keine Fiktion, sondern ein Dogma war) betrachten, als
ob, gerade, wie wenn er euer Vater wäre, und
als ob, gerade wie wenn er über den Wolken als
beständiger äußerer Zuschauer eures Tuns anwesend
wäre. Die Jünger, das Volk, die Kinder aller Zeiten,
aller Lebensalter, aller Stände, aller Nationen nah-
men diese bewußte Allegorie, diese fiktive Äußerung
als Dogma, und nicht allein die kirchliche Kunst,
sondern das kindlich-gläubige Gemüt nahm und nimmt
jenen Satz wörtlich, buchstäblich, sinnlich, äußerlich.
Aber stets haben feinere Geister das Geistig-Gemeinte
auch geistig aufgefaßt und solche Allegorien als das hin-
genommen, was sie sind, als — Fiktionen. Und es ist
nur recht und billig, wenn nach demselben Gesetz der
Ideenverschiebung jetzt auch in weiteren Kreisen das
erstarrte Dogma wieder rückwärts in eine geistig-be-
lebte, bewußte Fiktion verwandelt wird. Und sehr viele
Geistliche (wenigstens in protestantischen Ländern, nicht
wenige aber auch in den andern Kirchen) meinen, wenn
sie jenen Satz mit den Lippen sprechen, damit den
in der Abbreviatur leicht verloren gehenden tieferen oder
höheren Sinn. Sie wissen, was' sie tun, und bedienen
sich insofern einer erlaubten und z^veckmäßigen reli-
giösen Fiktion.
Eine welthistorische Rolle spielt „die Zweideutigkeit
der Kopula“ (nämlich bald im kategorisch-assertorischen,
bald im fiktiv-allegorischen Sinne) in dem Streite der
Lutheraner und der Reformierten um die Bedeutung des
ecrrt in den Einsetzungsworten des Abendmahls, des
^emvov xvQiaxov. Die Sätze lauten (Ev. Math. XXVI, 26
Die Fiktion im Gegensatz zur Hypothese.
261
bis 29) ; tovtö 8(Stl Qwfid ^ov. tovtö edtt t6 al/j^d ^ov.
Über den Sinn des botC stritten sich Luther und Zwingli
im Religionsgespräch zu Marburg, und seitdem ist die
Kontroverse in unzähligen Abhandlungen wiederholt wor-
den. Zwingli faßte als dialektisch-feinerer Geist das eaxi
allegorisch, ihm ist der Satz eine bewußte Fiktion Christi :
Dies Brot ist so zu betrachten, als ob es mein Leib wäre;
dieser Wein ist so zu betrachten, als ob er mein Blut
wäre. Luther mit seiner derben sinnlichen, volkstümlichen
Logik wurde bei diesen Erörterungen unruhig und klopfte
ungeduldig, mit dem Finger unter den Tisch und wieder-
holte halblaut die Worte: Est, est: Er nahm das eavC das
„ist“ ganz wörtlich, und sein, den feineren Kurven der
Dialektik widerstrebender harter Kopf konnte nicht fas-
sen, daß es sich nur um eine grammatische Abbrevia^
tur einer bewußten Fiktion handle. Nach Zwingli sagt das
edTL keine Identität aus, sondern er übersetzt es
mit „significat“ ; nach den reformierten Theologen ist
das aaxi nur „allegorisch“, nur „symbolisch“ zu ver-
stehen, nach unserer Sprache also nur fiktiv. Schon
Cicero, auf den sich die Reformierten auch berufen,
sagt (De Nat. Deorum I, 26): Bei den Göttern könne nur
quasi corpus, quasi sanguis vorhanden sein; und
wenn demgegenüber die Lutheraner von dem verum
corpus, dem verus sanguis sprechen, so würde in Leib-
nizscher Sprache ihnen zu entgegnen sein, es handle sich
vielmehr bei jenen Sätzen nur um — toleranter vera.
Das fiktive Urteil spricht keine theoretische, keine
absolute Wahrheit aus, sondern nur eine praktische, eine
relative, d. h. eine, die nur in Relation zu dem Aussagen-
den und zu dem Zweck, den er verfolgt, richtig ist, also
einen Inhalt, der überhaupt nur mit Vorsicht und Vor-
behalt die Bezeichnung „wahr“ erhalten darf.
§ 28.
Die Fiktion im Gegensatz zur Hypothese.
Nachdem wir den Unterschied des fiktiven Urteils
vom problematischen dem Ausdruck und Inhalt nach
hinreichend untersucht haben, kann und muß der metho-
262
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
dologische Gegensatz der Fiktion zur Hypothese — der
eigentliche Kern dieses ganzen Buches — zum Schluß
nochmals zur Erörterung gelangen.
^lan kann es ein für die bisherige Logik beschä-
mendes Faktum nennen, daß diese beiden Denkformen bis
jetzt fast immer verwechselt worden sind: eine Ver-
wechslung, Tv^elche darin ihre Entschuldigung finden mag,
daß sich beide Denkformen trotz aller Unterschiede doch
teilweise nahestehen, so daß sie, wenn sie auch prinzipiell
scharf zu scheiden, so doch in praxi nicht immer leicht
auseinander zu halten sind.
Das beste Beispiel sowohl für diese leichte Verwech-
selbarkeit als für den prinzipiellen Unterschied beider
Denkformen ist der Goethesche Begriff eines Urtieres
und einer Urpflanze, das uns schon mehrfach zur Illu-
strierung gedient hat. Goethe stellte das Vorstellungs-
gebilde eines Urtieres auf, d. h. eines Urtypus aller tie-
rischen Erscheinungen überhaupt, als dessen Modifika-
tionen, Transformationen, Metamorphosen alle bekannten
Tierarten zu betrachten seien. Goethe selbst war sich,
wie [Schon oben* erwälint worden ist, über den metho-
dologischen Charakter seines Vorstellungsgebildes nicht
recht klar: manchmal scheint es ihm eine hypothetische
Annahme zu sein, so daß er die Existenz, wenigstens
die frühere Existenz eines solchen Wesens’ behaupten
zu wollen scheint; meistens aber ist es ihm offenbar nur
ein gedachter Urtypus, ohne daß damit die Existenz, ja
nur die Existenzmöglichkeit eines solchen IMustertieres be-
hauptet werden sollte.
Als Goethe diese Gedanken wieder einmal im Ge-
spräcli mit Schiller entwickelte, rief dieser bekanntlich
aus: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine
Idee.“
Der Unterschied, den der Kantianer Schiller in Kanti-
scher Terminologie hier macht, fällt zusammen mit dem
Unterschied von Hypothese und Fiktion in der Sprache der
Methodologie.
Wenn Schiller sagt: das Urtier, die Urpflanze sei
keine Erfahrung, so will er damit natürlich nicht etwa
sagen : solche organischen Urwesen hat man bisher in der
Erfahrung nicht gefunden, sie können aber zukünftig in
Die Fiktion im Gegensatz zur Hypothese.
263
! die Erfahrung treten. Sondern er will — nach dem Kan-
tischen Begriff der Erfahrung — sagen: Urpflanze, Urtier
: sind überhaupt niemals in irgendeiner Erfahrung auf-
zufinden, sie können gar keine Erfahrungsgegenstände
I sein, weder solche, die man bisher gefunden hat, noch
solche, die man später noch finden kann, und deren
j Begriffe man daher jetzt einstweilen als berechtigte Hypo-
j thesen ansetzen kann. Sondern die Urpflanze, das Urtier,
I das ist „eine Idee“, d. h. ein bloßer, von uns erdachter
i Vernunftbegriff, welcher zwar mit Notwendigkeit von
uns gebildet wird, der aber doch nur erdacht ist, dem
nie und nirgends ein empirisches Wesen entsprechen
kann. Schiller hat also richtig erkannt, daß der Siim der
Goetheschen Behauptung in dem fiktiven Urteil auszu-
sprechen ist : alle Pflanzenarten, alle Tierarten sind so zu
betrachten, als ob sie nach dem' Maßstab einer Ur-
pflanze, eines Urtieres gebildet seien. Das Goethesche
Urtier ist eine schematische Fiktion, dagegen die Dar-
winsche Deszendenzlehre ist eine Hypothese.
Noch ein anderes Beispiel mag diesen Unterschied
illustrieren. Die Konstitution der Materie ist eine der
wichtigsten Fragen der Wissenschaft. Hier begegnet uns
nun die Ansicht, daß die Elemente, auf welche man bis
jetzt die IMaterie reduziert hat, nicht letzte Faktoren seien,
sondern daß sie vielleicht auf noch weniger Elemente, ja
sogar nur auf Einen Urstoff zurückzuführen seien. Diese
Vermutung ist schon oft ausgesprochen worden, und sie
hat prinzipiell nichts gegen sich. Auf der anderen Seite
finden wir die Ansicht, daß die Materie aus unendlich
kleinen, unteilbaren Stückchen bestehe, welche sogar an
sich ausdehnungslos seien, aus Atomen. Die erstere Theo-
rie betrifft die qualitativen, die andere die quantitativen
Faktoren der Materie. So wenig aber jene erstere prin-
zipielle Bedenken erregt, so viele Widersprüche birgt diese
zweite in sich. Während jene Theorie nicht daran zu
verzweifeln braucht, daß einmal diese Reduktion gelingen
kann, ist der Atomismus, wenigstens in der angeführten
Form, schlechterdings unbeweisbar, ja derselbe ist sogar
im Gegenteil theoretisch verwerflich, weil dieses Atom
ein widerspruchsvolles Vorstellungsgebilde ist. Unausge-
dehnte Kraftzentren, welche der Ausdehnung zugrunde lie-
264 Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
gen sollen, sind vollständig widerspruchsvolle Begriffe.
Etwas Unausgedehntes, das doch summiert Ausdehnung I
geben soll, ist ein Widerspruch.
Somit ist die Idee der Reduktion der Materie auf
Atome eine Fiktion; dagegen die Vorstellung der Reduk-
tion der Arten der Materie auf einen einzigen Urstoff
ist eine plausible Hypothese.
Gerade dieses Beispiel ist ganz besonders geeignet,
um den methodologischen Unterschied beider Denkformen
zu erläutern; die erste Annahme gipfelt in dem fiktiven
Urteil: die Materie ist so zu betrachten, so zu behandeln,
so zu berechnen, als ob sie aus Atomen bestünde. Die
andere Annalime drückt sich dagegen in dem problema-
tischen Urteil aus: Es ist möglich, daß die bis jetzt
gefundenen Elemente der Materie alle aut Einen Urstoff
reduziert werden; bis jetzt aber ist es unmöglich ge-
wesen, diese wahrscheinliche Annahme zu verifizieren.
Ganz anders die Fiktion: es ist ganz unmöglich, daß
die Materie in letzter Linie aus ausdehnungslosen, punk-
tuellen Atomen bestehe, wohl aber ist es möglich, ja
nützlich, diese Annahme provisorisch zu machen, um die
Gewichtsverhältnisse der Materie leichter berechnen zu
können.
Während jede Hypothese ein adäquater Ausdruck
der noch unbekannten Wirklichkeit sein mid diese ob-
jektive Wirklichkeit zutreffend ab bi Iden will, wird
die Fiktion mit dem Bewußtsein aufgestellt, daß sie eine
inadäquate, subjektive, bildliche Vorstellungs-
weise ist, deren Zusammentreffen mit der Wirklichkeit
von vornherein ausgeschlossen ist, und die daher
auch nicht hintennach, wie man das bei der Hypothese
hofft, verifiziert werden kann. Daher darf auch eine Fik-
tion niemals in einem problematischen Urteil ausgedrückt
werden, sondern sie hat als ihre eigene genuine Form das
fiktive Urteil zu beanspruchen.
Die methodologischen Regeln, welche für die Hypo-
these aufgestellt werden, passen daher auch durchaus
nicht auf die Fiktion. Kant hat jene Bedingungen, welche
die grundlegende, strenge, logische Zucht des hypothe-
tischen Denkens sein müssen, sehr gut formuliert in der
Kr. d. r. V. (Kehrb. 586) in der „Disziplin der reinen Ver-
Die Fiktion im Gegensatz zur Hypothese.
265
nunft in Ansehung der Hypothesen“, als „die zwei er-
forderlichen Stücke zur Annehmungswürdigkeit einer
Hypothese“, erstens, „daß nur solche Dinge und Gründe
zur Erklärung gegebener Erscheinungen angeführt wer-
den, welche mit dem Wirklichen in Verknüpfung gesetzt
werden können und also selbst den allgemeinen Wirk-
lichkeitsgesetzen entsprechen“, und zweitens „die Zu-
länglichkeit der Annahme zur Erklärung und empirischen
Ableitung des gerade vorliegenden Erscheinungskreises“.
Nur die Einhaltung dieser Bedingungen kann eine Ga-
rantie dafür bieten, daß die Hypothese Anspruch auf
Wahrheit habe : denn die Wirklichkeit und nur die Wirk-
lichkeit ist das Ziel aller hypothetischen Annahmen.
Mit den Fiktionen verhält es sich aber ganz anders.
Die „zwei erforderlichen Stücke der Annehmungswür-
digkeit“ wie bei den Hypothesen sind hier keineswegs zu
finden. Die Bedingung, der allgemeinen Sitte der Wirk-
lichkeit und den Denkbarkeitsgesetzen zu entsprechen,
wird hier nicht eingehalten: die Fiktion nimmt etwas
Unwirkliches oder Unmögliches an. Bei den echten Fik-
tionen, z. B. der des Infinitesimals, ist die Denkbarkeit
so wenig Bedingung, daß hier vielmehr die Un-
denkbarkeit Merkmal ist: denn diese fiktiven Be-
griffe sind widerspruchsvoll und enthalten logische Un-
möglichkeiten. Dieser Selbswiderspruch zeigt sich in den
Antinomien, welche durch Hypostasierung der Fiktionen
entstehen, wem man eben Non-Entia imaginaria in Entia
irrtümlicherweise verwandelt, wovor schon Spinoza in
seinen Cogit. Metaph. I, 1 warnt.
Eine imaginativ gebildete Vorstellung muß erst darauf
angesehen werden, ob sie fiktiv oder hypothetisch ist.
Das natürliche Bestreben des Menschen geht dahin, das
Gedachte immittelbar für den Ausdruck der Wirklichkeit
zu nehmen, in den Denkformen Seinsformen zu erblicken i).
Das natürliche unbefangene Denken nimmt alle Begriffe
und Methoden der subjektiven Vorstellungswelt für Re-
präsentanten einer genau entsprechenden Wirklichkeit,
Gehört schon eine ziemliche methodologische Bildung
D Es ist, wie wir im folgenden Teil finden werden, ein Haupt-
verdienst Kants, gezeigt zu haben, daß Gedacht- werden-müssen nicht
notwendig das Sein involviert.
266
Zweiter Teil: Spezielle Ausführungen.
dazu, um Plypothetisches vom Faktischen abzutrennen,
so erfordert es noch einen viel stärkeren Scharfsinn, um
Fiktionen von Hypothesen zu unterscheiden. Das Denken
der meisten Menschen (inkl. nicht weniger Durchschnitts-
gelehrter) ist aber bis jetzt noch zu grobkörnig und zu
stumpf, um diesen Unterschied überhaupt zu erfassen,
oder, wenn erfaßt, dauernd festzuhalten. Immerhin aber
haben doch die Mathematiker und Juristen durch die in
ihren Gebieten gebrauchten Fiktionen (so besonders auch
die Juristen durch die Erörterungen über die Fiktion
der juristischen Personen) der allgemeinen An-
nahme des Unterschiedes von Fiktion und Hypothese vor-
gearbeitet. Auch die Naturforscher, speziell die Ent-
wicklungstheoretiker, haben durch den Streit um die von
der Wirklichkeit abweichenden schematischenZeich-
nungen das Bewußtsein für jenen Unterschied geschärft.
Nicht vergessen dürfen wir hier die Theologen, welche
seit alters — laut und stillschweigend — zwischen
Dogma und Bild, zwischen philosophischem Be-
griff und bewußtem anthropomorphistischem
Ausdruck unterscheiden haben.
Dritter Teil.
Historische Bestätigungen.
A. Kants Gebrauch der Als-Ob-Betrachtung.
Unsere bisherigen systematischen Ausführungen waren
schon vielfach von historischen Belegen durchzogen.
Dieser dritte und letzte Teil sei nun den wich-
tigsten historischen Bestätigungen gewidmet, welche die
Geschichte der neueren Philosophie für unsere
Lehre darbietet.. Wir wenden uns also zu Kant, dessen
Als-Ob-Betrachtung seit mehr als hundert Jahren fast
unbeachtet und unverstanden geblieben ist. Wir bedienen
uns zur Darstellung dieser überaus wichtigen Lehre mög-
lichst der eigenen Worte Kants, wobei wir uns die Frei-
heit nehmen, die bedeutsamsten Worte und Wendungen
durch Sperrung hervorzuheben i).
Grundlegendes in den Hauptschriften.
In der Kritik der reinen Vernunft (1781) tritt
mit einem Male Kants neue Lehre so kräftig und rein
hervor wie ein starker Quell aus dem Felsgeröll im
Hochwald, und zwar an derjenigen Stelle, welche in
jenem unsterblichen Werk als „Transz. Dialektik“ be-
zeichnet ist.
1) Es sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen, 1, daß bei Kant
zwei Strömungen gleichzeitig nebeneinander hergehen, einerseits die
metaphysisch- vermittelnde, andererseits die radikal - fiktionalistische,
2. daß in diesem Buche nur die letztere Strömung einseitig berück-
sichtigt wurde, und daß also in den aus Kant zitierten Sätzen, soweit
sie beide Strömungen erkennen lassen, die bei ihm üblichen Restrik-
tionen, d. h. die gleichzeitigen metaphysischen Einschränkungen seines
Fiktionalismus, weggelassen und durch Punkte ersetzt worden sind.
268
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
Man muß von vornherein den richtigen Gesichtspunkt
für Kants Ideenlehre gewinnen, indem man die klas-
sische Stelle an die Spitze stellt, welche sich in der
Methodenlehre findet, in dem Abschnitt: „Die Disziplin
der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen.“ i) Da-
selbst werden gleich nach dem Anfang die „Vernunft-
begriffe“ als „bloße Ideen“, als „heuristische Fik-
tionen“ bezeichnet und ausdrücklich von den
Hypothesen unterschieden. „Hypothesen“ werden
„mit dem, was wirklich gegeben und folglich gewiß ist, als
Erklärungsgrund in Verknüpfung gebracht“. Wenn in der
Reihe der empirisch gegebenen Daten eine Lücke ist, so
haben wir das Recht, diese Lücke durch ein angenom-
menes Wirkliches, dessen empirische Möglichkeit durch
seinen Zusammenhang mit dem Übrigen verbürgt ist,
auszufüllen, und damit machen wir eine wissenschaftlich
berechtigte Hypothese. Die Vemunftbegriffe (speziell
die substantielle Seele und der persönliche Gott) sind
aber bloße Ideen ohne einen Gegenstand, gehören nicht
in jene Reihe der empirischen Daten hinein, und dienen
nur dazu, dem „systematischen Verstandesgebrauch im
Felde der Erfahrung“ als „regulatives Prinzip“ zu dienen
— sie sind, „heuristis che Fiktionen“. Kant selbst
nennt in diesem Zusammenhang ausdrücklich als Bei-
spiele die „unkörperliche Einheit der Seele und das Da-
sein eines höchsten Wesens“; solchen Vernunftideen
Realität zuzuschreiben, würde zu „hyperphysischen“ Er-
klärungsgründen führen; aber uns sind nur solche Hypo-
thesen erlaubt, wobei wir „nach schon bekannten Ge-
setzen der Erscheinungen“ das Angenommene mit- dem
Gegebenen, nach den „Bedingungen möglicher Erfahrung“
„in Verknüpfung setzen“ können. Solche Hypothesen
sind jene Ideen nicht, sie sind eben nur — heuristische
Fiktionen.
Würde man diese klassische Stelle immer vor
Augen gehabt haben, so hätte man die ganze Ideen-
1) Die stellen aus der Kr. d. r. V. sind nach den Abschnitten
resp. Absätzen zitiert, welche in jeder Ausgabe wiedergegeben sind.
Spezielle Zitate erfolgen nach der Paginierung der beiden Original-
auflagen A und B, welche jetzt in den meisten Ausgaben angegeben
sind.
Grundlegendes in den Hauptschriften Kants.
269
lehre von vornherein besser verstanden. Wir wollen diese
Lehre nun, vom Anfang der Transz. Dialektik an, in
Kürze verfolgen und von jenem Gesichtspunkt aus be-
leuchten.
In dem Ersten Einleitenden Abschnitt der
Transz. Dialektik, in welchem Kant den Namen
„Ideen“ einführt und rechtfertigt, spricht er nur vorbe-
reitend und andeutend, aber in einer Stelle doch schon
recht entschieden (A 328, B 335); wir „müssen von den
transzendentalen Vernunftbegriffen sagen“: „sie sind
nur Ideen“, d. h. nur Vorstellungen ohne Gegenstand.
Aber sie sind darum' „nicht überflüssig und nichtig“;
denn sie „können dem Verstände zum Kanon seines Ge-
brauchs dienen, dadurch er zwar keinen Gegenstand
mehr erkennt, als er nach seinen Begriffen erkennen würde,
aber doch in dieser Erkenntnis besser und weiter gelei-
tet wird“ — sie sind also heuristische Fiktionen.
Aus Gründen, welche sich nachher erhellen werden,
müssen wir das II. Hauptstück : Die Antinomie der
reinen Vernunft, hier vor das I. Hauptstück stel-
len. Im 8. Abschnitt führt Kant eine neue Bezeichnung
für dasjenige ein, was er an der oben angeführten Stelle
später „heuristische Fiktionen“ nennt: er nennt die Ideen
„regulative Prinzipien der reinen Vernunft“; sie seien
nicht „konstitutive“ Prinzipien der Vernunft, d. h.. sie
geben keine Möglichkeit objektiver Erkenntnis weder
innerhalb noch außerhalb der Erfahrung, sondern sie
dienen „bloß zur Regel“ für den Verstand, indem sie ihn
leiten, wie er seinen Weg innerhalb des Erfahrungs-
gebietes einschlagen soll, indem sie ihm imaginative
Richtpunkte Vorhalten, nach denen er sich richten soll,
die er aber nie erreichen kann, weil sie überhaupt außer
aller Wirklichkeit liegen (Kant nennt die Idee in diesem
Sinne an einer anderen, noch zu erwähnenden Stelle
einen focus imaginarius).
Was damit gemeint ist, erhellt aus einer anderen,
hierher gehörigen Stelle, im' „Anhang zur transzenden-
talen Dialektik“, in dem Abschnitt „Von der Endabsicht
der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“; da
heißt es A 672, B 700 : „Wir müssen (in der Kosmologie)
die Bedingungen sowohl der inneren, als der äußeren Na-
270
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
lurerscheinungen in einer solchen nirgends zu vollenden-
den Untersuchung verfolgen, als ob dieselbe an sich un-
endlich sei usw.“ und ferner heißt es A 684 — 686, B
712 — 714: Die absolute Totalität der Reihen der Be-
dingungen in der Ableitung der Glieder ist eine Idee,
„die zur Regel dient, wie wir in Ansehung derselben
verfahren sollen, nämlich in der Erklärung gegebener
Erscheinungen (im Zurückgehen oder Aufsteigen) so,
als ob die Reihe an sich unendlich wäre, d. i. in
Indefinitum.“ An einer Stelle der Antinomien! ehre, in dem
3. Abschnitt: „Vom' Interesse der Vernunft bei diesem
ihrem Widerstreit“ heißt es dazu erläuternd in einer An-
merkung zu A 472, B 500: schon Epikur habe wahr-
scheinlich den Grundsatz des absoluten Regressus nicht
als objektive Behauptung, sondern nur als Maxime des
spekulativen Vernunftgebrauchs vorgetragen: „daß man
in Erklärung der Erscheinungen so zu Werke gehen
müsse, als ob das Feld der Untersuchung durch keine
Grenze oder Anfang der Welt abgeschnitten sei“, das
sei ein noch jetzt sehr richtiger, aber wenig beobach-
teter Grundsatz.
Sehr beachtenswert ist nun aber die Fortsetzung der
erstzitierten Stelle aus dem Anhang zur transzendentalen
Dialektik (A 685, B 713), betreffs der kosmologischen
Idee der Totalität ; dieselbe Idee der absoluten To-
talität leitet umgekehrt in anderem Zusammenhang
zur Fiktion eines absoluten Anfanges, nämlich da,
„wo die Vernunft selbst als bestimmende Ursache
betrachtet wird (in der Freiheit), also bei praktischen
Prinzipien“, da müssen wir so verfahren, „als ob wir
nicht ein Objekt der Sinne, sondern des reineai Verstandes
vor uns hätten, wo die Bedingungen nicht mehr in der
Reihe der Erscheinungen, sondern außer derselben ge-
setzt werden können, und die Reihe der Zustände ange-
sehen werden kann, als ob sie schlechthin (durch
eine intelligible Ursache) angefangen würde“.
Dieses findet wiederum seine Erläuterung durch einige
Stellen aus der Antinomienlehre selbst, speziell in dem
Abschnitt: „Erläuterung der kosmologischen Idee einer
Freiheit“ usw.; da heißt es A 555 ff., B 583 ff. : bei Beur-
teilung irgendeiner Tat eines Menschen könne man von
Grundlegendes in den Hauptschriften Kants. 271
allen psychologischen Bedingungen dieser Tat absehen,
man könne diese empirischen Bedingungen „gänzlich bei-
seite setzen“, „und die verflossene Reihe von Bedin-
gungen als ungeschehen, diese Tat aber als gänzlich
unbedingt in Ansehung des vorigen Zustan-
des ans eben, als ob der Täter damit eine Reihe von
Folgen ganz von selbst anhebe“. Und immer wieder wird
daselbst wiederholt, daß man das so ansehen könne,
dürfe und müsse, daß es aber objektiv nicht so sei; es
wird damit „nicht die Wirklichkeit der Freiheit dargetan“,
sondern diese „wird hier nur als transzendentale Idee
behandelt“ — also nur als heuristische Fiktion.
Die Fiktion der Freiheit der Seele leitet uns nun
bequem über zur Fiktion der Seele selbst. In dem dem
Seelenproblem gewidmeten 1. Hauptstück der Transz. Dia-
lektik: Von den Paralogismen der reinen Ver-
nunft wird dieser Standpunkt fast nur indirekt und nur
andeutungsweise eingenommen. Das gilt auch von der
Darstellung der 2. Auflage, in welcher (B 421) ein einziges
Mal der fiktive Standpunkt in bezug auf das Seelen- und
Unsterblichkeitsproblem' zur Geltung kommt : Kant spricht
von unserer ethischen Lebensaufgabe; unser sittliches
Bestreben, „wenn es gleich auch nur immer auf Gegen-
stände der Erfalirung gerichtet ist, nimmt seine Prinzipien
doch höher her und bestimmt das Verhalten so, als ob
unsere Bestimmung unendlich weit über die Erfahrung,
mithin über dieses Leben hinausreiche“. Diese Fiktion ist
natürlich nur möglich auf Grund der Annahme einer „un-
körperlichen Seele“, und diese Annahme ihrerseits ist
selbst, "wie wir genauer sehen werden, für Kant auch
nur eine Fiktion.
Dagegen kommt die Natur des Seelenbegriffs als re-
gulative Idee im Anhang zur transzendentalen Dialektik,
zusammen mit der Gottesidee, sehr klar und deutlich zum
Vorschein, wo diese beiden Ideen fast immer als zusam-
mengehöriges Paar behandelt werden. Was von der Got-
tesidee gesagt wird, wird auch mutatis mutandis auf die
Seelenidee angewandt. So heißt es A 671, B 699: Der
psychologischen Idee gemäß „wollen wir alle Erschei-
nungen, Handlungen und Empfänglichkeit unseres Gemüts
an dem Leitfaden der inneren Erfahrung so verknüpfen,
272
Dritter Teil; Historische Bestätigungen.
als ob dasselbe eine einfache Substanz wäre, die mit
persönlicher Identität beharrlich existiert“ usw. Vgl. fer-
ner A 682, B 710: „Das erste Objekt einer solchen Idee
bin ich selbst, bloß als denkende Natur (Seele) betrach-
tet.“ „Hierbei hat die Vernunft nichts anderes vor Augen
als Prinzipien der systematischen Einheit in Erklärung
der Erscheinungen der Seele, nämlich : alle Bestimmungen
als in einem einigen Subjekte, alle Kräfte, soviel als mög-
lich, als abgeleitet von einer einigen Grundkraft, allen
Wechsel als gehörig zu den Zuständen eines und des-
selben beharrlichen Wesens zu betrachten“ usw.
„Jene Einfachheit der Substanz usw. sollte nur das
Schema zu diesem regulativen Prinzip sein, und wird
nicht vorausgesetzt als sei sie der wirkliche
Grund der Seeleneigenschaiten.“ Es handle sich eben
um eine bloße Idee“, aber „aus einer solchen psycho-
logischen Idee kann nun nichts anderes als Vorteil
entspringen usw. — Kant weist hier wieder deutlich auf
die Nützlichkeit der Seelenfiktion hin. Die aus
dieser Fiktion entspringenden Vorteile werden aufgezählt,
und dann heißt es: „welches alles durch ein solches
Schema, als ob es ein wirkliches Wesen wäre,
am besten, ja sogar einzig und allein bewirkt wird“.
Der Kantischen Einteilung entsprechend verfolgen
wir nun die Gottesidee in dem Abschnitt über „Das
Ideal der reinen Vernunnft (A 567ff., B 595ff.).
Da heißt es sogleich im' Einleitungsabschnitt, ein Ideal
sei etwas, was „nur in Gedanken existiert“, z. B. das
Ideal eines Weisen; auch spricht Kant daselbst von den
schematischen Durchschnittsfiktionen, indem er von
„einer im Mittel verschiedener Erfahrungen gleichsam
schwebenden Zeichnung spricht. Im 2. Abschnitt wird von
„dem transzendentalen Ideal“ speziell gesprochen, d. h.
von der Gottesidee als dem Ideal der omnitudo realitatis);
A 580, B- 608: „Die Vernunft legt diese Idee nur als
den Begriff [von Kant selbst gesperrt] von aller Realität
der durchgängigen Bestimmung der Dinge überhaupt zum
Grunde, ohne zu verlangen, daß alle diese Realität ob-
jektiv gegeben sei, und selbst ein Ding aus-
mache. Dieses Letztere ist eine bloße Erdich-
tung, durch welche wir das Mannigfaltige unserer Idee
273
I Grundlegendes in den Hauptschriften Kants.
in einem Ideale, als einem besonderen Wesen zusammen-
fassen und realisieren, wozu wir keine Befugnis haben,
sogar nicht einmal die Möglichkeit einer solchen Hypo-
these geradezu anzunehmen“ usw. „Wie kommt die Ver-
nunft dazu, alle Möglichkeit der Dinge als abgeleitet von
einer einzigen, die zum Grunde liegt, nämlich der höch-
sten Realität, anzusehen“ usw. Es ist „eine natür-
liche Illusion“, wenn wir die Abhängigkeit des em-
pirischen Einzeldinges „von dem Inbegriff aller em.pi-
rischen Realität“ in dieser Weise „hypostasieren“ und
„personifizieren“ in „einem besonderen Urwesen“. Die-
ses Ideal des allerrealsten Wesens ... ist eine bloße Vor-
stellung“, wie es ia der Schlußanmerkung heißt.
Wie es dann im Anfang des dritten Abschnittes
heißt, A 583, B 611, bemerkt die Vernunft „doch das
Idealischeund bloß Gedichtete einer solchen Vor-
aussetzung viel zu leicht, als daß sie dadurch allein über-
redet werden sollte, ein bloßes Selbstgeschöpf ihres Den-
kens sofort für ein wirkliches Wesen anzunehmen“. Die
Vernunft glaubt dogmatische Beweise für die Realität
eines solchen Wesens zu haben, für das Recht, „eine
bloße Vorstellung zu realisieren“, aber diese Beweise sind
alle hinfällig, wie Kant in seiner Widerlegung der Gottes-
beweise ausführt.
Daraufhin suchen sich manche damit zu behelfen,
daß sie die Gottesidee als „unerforschlich“ hinstellen. Aber
Kant bemerkt dazu im fünften Abschnitt (A 614, B 642) :
„Ein Ideal der reinen Vernunft kann nicht unerforschlich
heißen, weil es weiter keine Beglaubigung seiner
Realität aufzuweisen hat, als das Bedürfnis der Ver-
nunft, vermittelst desselben alle synthetische Einheit zu
vollenden. Da es also nicht einmal als denk-
barer Gegenstand gegeben ist, so ist es auch nicht als
solcher unerforschlich; vielmehr muß es, als bloße
Idee, in der Natur der Vernunft seinen Sitz und seine
Auflösung finden und also erforscht werden können.“
Diese Stelle enthält eine Desavouierung der traditio-
nellen Darstellung der Kantischen Ideenlehre: Kant habe
in der Kr. d. r. V. 'die Unerforschlichkeit der intelligibeln
Welt gelehrt, dagegen in der Kr. d. pr. V. die P.ealität der
auf dieselbe bezüglichen Ideen Gott, Freiheit und Unsterb-
Vaihinger, Philosophie. 18
274
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
lichkeit auf moralischem Wege bewiesen. Was das Letz-
tere betrifft, so werden wir hierüber noch zu reden haben.
Was aber das erstere betrifft, so zeigt die obige Stelle,
daß Kant hier wenigstens nichts von der „Unerforschlich-
keit“ Gottes wissen wollte, von der er allerdings sonst
manchmal redet: der Begriff Gottes, wie der ganzen intel-
ligibeln Welt, ist von unserer Vernunft gemacht, also muß
er auch von derselben Vernunft durchschaut und aufgelöst
werden können.
Im Anhang zu jenem fünften Abschnitt (Entdeckung
und Erklärung des dialektischen Scheins usw., A 615 ff.,
B 643 ff.) heißt es wieder von dem Begriff einer notwen-
digen, höchsten Realität, es sei „ein natürlicher Schein“,
wenn man denselben, d. h. „dasjenige, was doch nur Idee
sein kann, realisiert und hypostasiert“. Der Grundsatz,
zu allem Existierenden einen notwendigen ersten Grund
zu suchen, ist bloß „heuristisch und regulativ“; er
sagt: „ihr sollt so über die Natur philosophieren, als ob
es zu allem, was zur Existenz gehört, einen notwendigen
ersten Grund gäbe, lediglich, um systematische Ein-
heit in eure Erkenntnis zu bringen“. Zusammenfassend
sagt dann Kant daselbst: „das Ideal des höchsten Wesens
ist nach dieser Betrachtung nichts anderes, als ein
regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der
Natur so anzusehen, als ob sie aus einer allgenügsamen
notwendigen Ursache entspränge“ usw.) „Es ist nicht
die Behauptung einer an sich notwendigen Existenz.
Es ist aber zugleich unvermeidlich, sich, vermittelst einer
transzendentalen Subreption, dieses formale Prinzip als
konstitutiv vorzustellen und sich diese Einheit hyposta-
tisch zu denken“.
Im sechsten Abschnitt (A 623, B 651) wird ausdrück-
lich die „Zuträglichkeit*, also Nützlichkeit dieser Idee für
unsern Vernunftgebrauch innerhalb der Erfahrung hervoi:-
gehoben — die Nützlichkeit erkannten wir als das
charakteristische Merkmal der Fiktionen.
Dann folgt der „Anhang der transzendentalen
Dialektik“, zuerst der Abschnitt: „Vom regulativen Ge-
brauch der Ideen der reinen Vernunft“ (A 642 ff.,
B 670 ff.); da heißt es gleich am Anfang von den Ideen,
„sie haben einen vortrefflichen und unentbehrlich not-
Grundlegendes in den Hauptschriften Kants.
275
wendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand
zu einem gewissen Ziele zu richten, in Ansehung auf
welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen
Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee
(focus imaginär ius), d. h. ein Punkt ist, aus welchem
die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem
er ganz außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung liegt,
dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der
größten Ausbreitung zu verschaffen“. Dies wird in ver-
schiedenen Wendungen nachher wiederholt i).
Darauf folgt der Schlußabschnitt: „Von der Endabsicht
der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“
(A 668 ff., B 696 ff.), worin sich wieder viele entscheidende
Stellen finden.
Von besonderer Bedeutung sind zunächst die drei
ersten Absätze. Kant will das naheliegende Mißverständ-
nis zurückweisen, daß die in der Dialektik in ihrer Nich-
tigkeit nachgewiesenen Ideen nur Täuschungen, nur
Blendwerke seien, also wertlos, ja schädlich. Nein, sie
haben trotzdem „ihre gute und zweckmäßige Bestim-
mung“ ■ — die Zweckmäßigkeit dieser Vorstellungen, das
Merkmal der echten Fiktionen wird wieder betont. In
dem Nachweis dieser Zweckmäßigkeit liegt das, was
Kant ihre „Deduktion“ nennt, d. h. den Nachweis ihres
Rechtsgrundes; ihre „Rechtfertigung“, wie es im 3. Abs.
heißt, ialso ihre Justifikation, oder, wie es im 11. Abs.
heißt, „ihre Richtigkeit wird bewährt“. Damit wird ge-
zeigt, idaß sie „nicht bloß leere Gedankendinge sind“.
Das könnte man mißverstehen. „Gedankendinge sind und
bleiben sie, daran kann ihre Deduktion nichts ändern;
wohl aber kann eine solche Deduktion zeigen, daß sie
nicht leere Gedankendinge sind, d. h. wertlose, wie das
von vielen anderen Gedankendingen gilt, sondern wert
volle, bedeutsame Gedankendinge; sie sind also eben
wichtige heuristische Fiktionen, nicht Fiktionen im schlim-
men Sinne, sondern im guten. Dieser Nachweis ist „die
1) In diesem Abschnitt, in dem Kant mit so großer Schärfe und
Klarheit die Ideen einerseits als eine „Illusion hinter der Spiegel-
fläche“ erkennt (also als einen zweckmäßigen und schönen Betrug der
* Natur), findet sich dann doch wieder andererseits eine recht mi-
klare Vcnnischung sortier Fiktionen mit Hypothesen.
276 Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Ver-
nunft“.
Wenn sie so „deduziert“ sind, so zeigt sich, daß sie
„im mindesten einige, wenn auch unbestimmte, objektive
Gültigkeit haben“. Diese Wendung des 2. Abs. ist äußerst
beachtenswert; sie findet ihre Erläuterung im 3. Abs.;
da heißt es : „der Begriff einer höchsten Intelligenz ist
eine bloße Idee, d. h. seine objektive Realität soll nicht
darin bestehen, daß er sich geradezu auf einen Gegen-
stand bezieht (denn in solcher Bedeutung würden wir
eine objektive Gültigkeit nicht rechtfertigen können), son-
dern er ist nur ein nach Bedingungen der größten Ver-
nunfteinheit geordnetes Schema von dem Begriff eines
Dinges überhaupt, welches nur dazu dient, um
die größte systematische Einheit im empirischen Gebrauch
unserer Vernunft zu erhalten usw.“ Also darin besteht
nun die eigenartige „objektive Realität“ dieser Ideen;
sie haben eine gewisse Realität, aber nur eine heuri-
stisch-praktische. Man beachte sehr wohl diesen Ge-
brauch des Ausdruckes: „objektive Realität“ der Ideen
an dieser Stelle, denn bald nachher, im 5. Abs. hat Kant
selbst, nach seiner leidigen Gewohnheit, diese klaren
Bestimmungen verdunkelt ; da macht er einen Unterschied
zwischen den kosmologischen Ideen und der psycholo-
gischen und theologischen Idee, und meint, den Letz-
teren könne niemand „ihre objektive Realität bestreiten,
da er von ihrer Möglichkeit ebensowenig weiß, um sie zu
verneinen, als wir, um sie zu bejahen“. Aber damit ist
der erstere Gedankengang ganz verschoben, welchem
gemäß allen Ideen eine „unbestimmte, objektive Gültig-
keit resp. Realität“ zukam, die eben in ihrer — Zweck-
mäßigkeit bestand. Leider wird, um die Verwirrung
zu mehren, dann im 7. Abs. meder die „objektive Reali-
tät“ eines Vernunftbegriffes im absolut- theoretischen, statt
im relativ-heuristisch-praktischen Sinne gebraucht. Aber
jene rein praktische „objektive Realität“ der Ideen, von
der oben die Rede war, bleibt für Kant bestehen. In
jenem Sinne „bleibt die Idee (welche doch einen nichtigen
Gegenstand bezeichnet) immer richtig“ (A 694, B 722) ;
trotzdem wir also der Idee eines höchsten Wesens nicht
„schlechthin objektive Gültigkeit erteilen dürfen“, sind
Grundlegendes in den Hauptschriften Kants. 277
I wir doch „berechtigt“, von dieser Idee, „welche sich die
j Vernunft zum regulativen Prinzip ihrer Naturforschung
machen muß“, „Gebrauch zu machen“, „ihn“, den Ur-
i grund der Welteinheit, „oder vielmehr seine Idee“ i),
I können und sollen wir so „brauchen“; in diesem prak-
tischen Gebrauch „habt ihr die Bestätigung der Recht-
i mäßigkeit eurer Idee“ (A 696 ff., B 724 ff.),
i Am Anfang der „Endabsicht im 3. Absatz heißt es
I weiter: „der Begriff einer höchsten Intelligenz ist eine
bloße Idee“; „dieses Schema dient nur dazu, um die
größte systematische Einheit im empirischen Gebrauch
unserer Vernunft zu erhalten, indem man den Gegenstand
der Erfahrung gleichsam von dem eingebildeten
Gegenstände dieser Idee, als seinem Grunde oder
Ursache, ableitet. Alsdann heißt es z. B., die Dinge der
Welt müssen so betrachtet werden, als ob sie von einer
höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten. Auf solche Weise
ist die Idee eigentlich nur ein heuri'sti scher und
nicht ostensiver Begriff“ usw.
In dem unmittelbar darauffolgenden 4. Absatz („Ich
will dieses deutlicher machen“) wird der iVusdruck als
ob wieder mehrfach in demselben Sinne wiederholt,
speziell in Beziehung auf die theologische Idee : „wir
müssen alles, was nur immer in den Zusamenhang der
möglichen Erfahrung gehören mag, so betrachten,
als ob diese eine absolute .... Einheit ausmache, . . .
' zugleich aber, als ob der Inbegriff aller Erscheinungen
1 (die Sinnenwelt selbst; einen obersten . . . Grund . . .
i habe, nämlich eine gleichsam selbständige, ursprüng-
liche und schöpferische Vernunft, . . . als ob die Gegen-
stände selbst aus jenem Urbilde aller Vernunft entsprun-
gen wären“ usw.; man „solle, wie man die inneren Er-
9 Diese bemerkenswerte Stelle, zusammen mit den vielen
anderen, oben zitierten, lehrt: Wenn man die so belebte und auch
durchaus berechtigte Wendung beibehalten will, Kant habe die
Notwendigkeit der Gottesidee nach ge wiesen, so ist
nicht zu betonen, wie das bisher immer geschah: die Notwendigkeit
! der Gottesidee, sondern: die Notwendigkeit der Gottesidee, denn
es handelt sich ja um „eine bloße Idee“. Also ist der Ton auf die
beiden letzten Silben zu legen; eine Tonverschiebung, welche zugleich
die völlige Verschiebung des Gesichtspunktes kennzeichnet, von dem
aus Kants Lehre zu betrachten ist.
278
Dritter Teil: Flistorische Bestätigungen.
scheinungen nicht von einer einfachen denkende Sub-
stanz, sondern von der Idee einer solchen ableiten dürfe,
so auch die Weltordnung nicht von einer höchsten In-
telligenz, sondern von der Idee einer solchen ableiten“,
d. h. man dürfe sich dieser Begriffe als heuristischer
Fiktionen bedienen.
Dann heißt es im 5. Abs. gemeinsam von der Seelen-
idee und von der Gottesidee: „es kann uns nicht erlaubt
sein, Gedankenweseni) ... als wirkliche und be-
stimmte Gegenstände einzuführen. Also sollen sie an sich
selbst nicht angenommen werden, sondern nur ihre
Realität als eines Schema des regulativen Prinzips der
systematischen Einheit aller Naturerkenntnis gelten, mit-
hin sollen sie nur als Analoga^) von wirklichen Din-
gen, aber nicht als solche an sich selbst zum Grunde ge-
legt werden“ . . ., von einem „Gedankenwesen“ („idea-
lischen Wesen“) wissen wir natürlich nichts sonst
auszusagen, da es ja nur „Erdichtung“ ist, aber „wir
denken uns doch ein Verhältnis von ihm zu dem In-
begriff der Erscheinungen, das demjenigen analogisch
ist, welches die Erscheinungen untereinander haben“,
und von dem Gottesbegriff heißt es dann gleich darauf
noch spezieller: „er gibt nur die Idee von Etwas an
die Hand, worauf alle empirische Realität ihre höchste
und notwendige Einheit gründet und welches wir uns
nicht anders als nach der Analogie einer wirklichen
1) Kants bis jetzt fast nicht beachtete Lehre' von den „Gedanken-
wesen“ ist von mir auseinandergesetzt worden in den „Philosophischen
Abhandlungen, Chr. Sigwart zu seinem 70. Geburtstag gewidmet“,
Tübingen, Mohr, 1900, S. 133 bis 158: „Kant — ein Äletaphysiker?“
(Auch separat; vgl. dazu meine ergänzende Abhandlung in den „Kant-
studien“, Bd. VII, S. 116 — 117 mit den Schlußworten: „Kant — ein
Metaphoriker“.) Diese Abhandlung ist eine wesentliche Er-
gänzung der obigen Ausführungen. Das „Gedankenwesen“ (auch
gelegentlich „Vernunftwesen“ genannt) ist identisch mit dem Ens
rationis, das am Schluß der Transz. Analytik als Erstes in der wenig
beachteten „Tafel der Einteilung des Begriffs von Nichts“ steht.
Also : Gedankenwesen = Nichtsl
2) Hier zeigt sich recht deutlich, daß, wie oben gelehrt wurde,
die Fiktionen oder wenigstens viele derselben auf der Analogie be-
ruhen. Dieser Gesichtspunkt spielt, wie wir sehen werden, bei Kant
eine große Rolle und in diesem Sinne ist das oben angeführte Schlag-
wort gemeint: „Kant — ein Metaphoriker“.
Grundlegendes in den Hauptschriften Kants.
279
Substanz, welche nach Vernunftgesetzen die Ursache
aller Dinge sei, denken können“. In derselben Weise
heißt es im 9. Abs.: „ich werde mir also nach der
Analogie der Realitäten in der Welt, der Substanzen,
der Kausalität und der Notwendigkeit ein Wesen denken,
das alles dieses in der höchsten Vollkommenheit besitzt“;
„unter dem Schutz eines solchen Urgrundes kann ich
systematische Einheit des Mannigfaltigen am Weltganzen
. . . möglich machen, indem ich alle Verbindungen so
ansehe, als ob sie Anordnungen einer höchsten Ver-
nunft wären“. Dann im 12. Abs.: „Dieses Vernunftwesen
ist nun zwar eine bloße Idee, und wird also nicht
schlechthin und an sich selbst als etwas Wirkliches
angenommen, .sondern nur problematisch zum Grunde
gelegt . . ., um alle Verknüpfung der Dinge der Sinnen-
welt so anzusehen, als ob sie in diesem Vernunft-
wesen ihren Grund hätten, lediglich aber in der Ab-
sicht, um darauf die systematische Einheit zu gründen,
die der Vernunft unentbehrlich, der empirischen Ver-
standeserkenntnis aber auf alle Weise beförderlich . . .
sein kann“ (womit wieder von Kant das Merkmal der
Nützlichkeit der Fiktion herausgehoben wird; gleich nach-
her im 13. Abs. spricht er in diesem Sinne von der „so
heilsamen Einheit“).
Diese Grundsätze werden in den folgenden drei Ab-
sätzen (14, 15, 16) auf die drei metaphysischen Haupt-
gebiete langewendet. In bezug auf die theologische Idee
heißt es in demselben Zusammenhang (A 686, B 714)
noch (einmal: Die Idee Gottes, „sowie alle spekulativen
Ideen, will nichts weiter sagen, als daß die Vernunft
gebiete, alle Verknüpfung der Welt nach Prinzipien einer
systematischen Einheit zu betrachten, mithin als ob
sie insgesamt aus einem einzigen allbefassenden Wesen als
oberster und allgenugsamer Ursache entsprungen wären“
usw. Es handelt sich dabei um „nichts als“ eine subjek-
tiv-formale Regel unserer eigenen Vernunft.
Mit Betonung des teleologischen Gesichtspunktes heißt
es daselbst weiter: „das spekulative Interesse der Ver-
nunft macht es notwendig, alle Anordnung in der Welt
so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer
allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre“; diese Betrach-
280
Dritter Teil: Historische Beslätiguiigcn.
tung könne „der Vernunft jederzeit nützen“.; „wir
können auf diesem Wege eine Menge von Entdeckungen
machen“ (z. B. bezüglich „der Figur der Erde, der Ge-
birge und Meere“). Die Voraussetzung, daß alles zweck-
mäßig eingerichtet sei — die Voraussetzung des „teleolo-
gischen Zusammenhanges“ — ist „nichts als ein re-
gulatives Prinzip der Vernunft, um zur höchsten
systematischen Einheit vermittelst der Idee der zweck-
mäßigen Kausalität der obersten Weltursache, und als
ob diese, als höchste Intelligenz, nach der weisesten Ab-
sicht die Ursache von allem sei, zu gelangen“ — der Cha-
rakter der Gottesidee als eine heuristische Fiktion
ist damit sehr glücklich ausgedrückt. Kant zeigt dann
weiter, daß man diese Idee aber nicht aus einem bloß
regulativen Prinzip in ein konstitutives verwandeln dürfe,
sonst verfalle man dem Vorwurf der „faulen Vernunft“
(ignava ratio) und der „verkehrten Vernunft“ (perversa
ratio).
Zusammenfassend heißt es dann zum Schlüsse wie-
der: man dürfe sich ein solches göttliches Wesen „nach
einer Analogie mit den Gegenständen der Erfahrung
denken“, „aber nur als Gegenstand in der Idee“; ja,
„wir können in dieser Idee gewisse Anthropomorphismen,
die dem gedachten regulativen Prinzip beförderlich sind,
ungescheut und ungetadelt erlauben, denn es ist immer
nur eine Idee“ usw. Jenes Wesen „ist nun nach
der Analogie mit einer Intelligenz gedacht“; aber
„es ist lediglich ein Wesen in der Idee, das wir
denken“. So darf ich denn in diesem Sinne „zweckähn-
liche Anordnungen als Absichten ans eben, indem ich
sie vom göttlichen Willen . . . ableite“. „Ich lege nur
die Idee eines solchen Wesens zum Grunde, um nach
der Analogie einer Kausalbestimmung die Erscheinun-
gen als systematisch untereinander verknüpft anzu-
sehen.“
Ganz zuletzt heißt es dann: „Eben daher sind wir
auch berechtigt, die Weltursache in der Idee . . . nach
einem subtileren Anthropomorphismus, ...
nämlich als ein Wesen, das Verstand, Wohlgefallen und
Mißfallen, ingleichen eine derselben gemäße Begierde und
Willen hat usw., zu denken.“ „Das regulative Gesetz
Grundlegendes in den Hauptschriflen Kants.
281
der systematischen Einheit will, daß wir die Natur so
studieren sollen, als ob allenthalben ins Unendliche
systematische und zweckmäßige Einheit bei der größten
Mannigfaltigkeit angetroffen würde.“ Diese Betrach-
tungsweise sei „vorteilhaft“ — wieder der Hinweis auf die
Nützlichkeit, das charakteristische Merkmal aller Fik-
tionen !
Diese grundlegenden Ausführungen erhalten dann
nochmals eine wertvolle, definitive Bekräftigung in der
„Transzendentalen Methodenlehre, speziell in
dem Abschnitt: „Die Disziplin der reinen Ver-
nunft in Ansehung der Hypothesen“. In diesem
Abschnitt findet sich jene klassische Stelle, welche
wir schon oben angeführt haben; da werden die
Ideen ausdrücklich als heuristische Fiktionen be-
zeichnet und ganz klar und haarscharf von den Hypo-
thesen“ geschieden; letztere sind Annahmen von Gegen-
ständen, welche mit den empirischen Erscheinungen in
eventuell nachweisbarer Verknüpfung stehen, und die so
zur Erklärung und Ergänzung der fragmentarischen Er-
fahrung dienen, also von Gegenständen, deren Wirk-
lichkeit annehmbar ist. Die Ideen dagegen sind Ver-
nunftbegriffe ohne Gegenstand, bloße Gedanken-
wesen, welche nur dazu dienen, unseren Verstand in
gewisser Hinsicht zu leiten, also eben nicht Annahmen
eines Wirklichen wie die Hypothesen, sondern An-
nahmen eines Unwirklichen, mit dem Bewußtsein dieser
Unwirklichkeit — also eben „heuristische Fiktionen“.
Zu solchen Vernunftideen, welche eben darum keine
berechtigten Hypothesen sind, sondern als Hypothesen
ganz unberechtigt wären, gehört nach derselben Stelle
z. B. die als Fiktion sehr wohl berechtigte Annahme
eines „Verstandes, der vermögend ist, seinen Gegen-
stand ohne Sinne anzuschauen“ — also der intuitive
Verstand resp. die intellektuelle Anschauung wird hier
deutlich als eine bloße methodische Fiktion gekennzeich-
net; in demselben Satz werden als solche Fiktionen noch
aufgeführt die Idee einer Substanz, „die ohne Undurch-
dringlichkeit im Raum gegenwärtig wäre“, also die Idee
der Seele und damit zusammenhängend die Idee einer
übersinnlichen „Gemeinschaft der Substanzen“, die Idee
282
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
einer „Gegenwart anders als im Raume“, die Idee einer
„Dauer anders als bloß in der Zeit“ — also das ganze
Begriffsrüstzeug der alten Dogmatik. Dies alles sind
also nach Kants grundlegender Einsicht keine berech-
tigten Hypothesen, wohl aber methodisch nützliche „heu-
ristische Fiktionen“.
Die Idee der Seele wird dann noch speziell heraus-
gehoben als eine besonders nützliche heuristische Fik-
tion: „die Seele sich als einfach denken, ist ganz wohl
erlaubt, um nach dieser Idee eine vollständige und not-
wendige Einheit aller Gemütskräfte, ob man sie gleich
nicht in concreto einsehen kann, zum Prinzip unserer
Beurteilung ihrer inneren Erscheinungen zu legen. Aber
die Seele als einfache Substanz anzunehmen (ein
transzendenter Begriff) wäre ein Satz, der nicht allein
unerweislich (wie es mehrere physische Hypothesen sind),
sondern auch ganz willkürlich und blindlings gewagt sein
würde“ — also wieder eine haarscharfe Unterscheidung
der erlaubten methodischen Fiktion von der Hypothese.
Und so werden daselbst immer wieder „bloße Ideen der
Vernunft“ = Fiktionen von „transzendentalen Hypo-
thesen“ scharf geschieden.
Betreffs der Fiktion der Seele findet sich sodann
in dem Abschnitt „Die Disziplin der reinen Ver-
nunft in Ansehung ihrer Beweise“ noch eine sehr
bemerkenswerte Stelle, um so bemerkenswerter, als sie
bis jetzt noch nie so recht bemerkt worden ist. Kant
spricht daselbst (A 784, B 812) von dem Schluß „aus der
Einheit der Apperzeption“ auf „die einfache Natur unserer
denkenden Substanz“ und. nennt diesen Schluß einen
Paralogismus, der dadurch entstehe, daß man „das Ein-
fache in der Abstraktion“ und das „Einfache im Objekt“
miteinander verwechsle. Zur Erläuterung dafür führt
er folgendes aus: „Wenn ich mir die Kraft eines Kör-
pers in Bewegung vorstelle, so ist er insofern für
mich absolute Einheit und meine Vorstellung von
ihm ist einfach ; daher kann ich diese auch durch die Be-
wegung eines Punktes ausdrücken, weil sein Volumen
hierbei nichts tut, und ohne Verminderung der Kraft so
klein, wie man will, und also auch als in einem Punkt
befindlich gedacht werden kann.“ Hieraus werde ich
Grundlegendes in den Hauptschriften Kants.
aber doch nicht schließen, daß, wenn mir nichts als die
bewegende Kraft eines Körpers gegeben ist, der Körper
als einfache Substanz gedacht werden könne, darum, weil
„seine Vorstellung von aller Größe des Raumesinhalts
abstrahiert und also einfach ist“.
Dieser Vergleich ist nun äußerst lehrreich. Denn
Kant ruft hier als Beispiel die bekannte Fiktion herbei,
wonach die Bewegungskraft eines Körpers als in einem
Punkt vereinigt gedacht wird — eine bekannte metho-
dische Fiktion der mathematischen Physik. Mit vollem
Bewußtsein, mit völliger methodischer Klarheit entwickelt
Kant hier das Wesen dieser abstraktiven Fiktion-
und zieht nun hieraus die Nutzanwendung auf die Vor-
stellung der einfachen Seelensubstanz, die ihm also nebst
allen daraus folgenden Konsequenzen (Freiheit, Unsterb-
lichkeit, „Gemeinschaft der Heiligen“) schlechterdings
nichts ist als — eine bloße methodische Fiktion.
In einem späteren Abschnitt: „Von dem Ideal des
höchsten Guts usw.“ wird speziell die Vorstellung
einer intelligibeln, moralischen Welt freier, sittlich han-
delnder Geister, also „eines corpus mysticum der vernünf-
tigen Wesen“ (also ganz entsprechend der religiösen Vor-
stellung einer Gemeinschaft der Heiligen oder einer un-
sichtbaren Kirche, — „eine bloße, aber doch praktische
Idee“ genannt, „die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnen-
weit haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel als
möglich gemäß zu machen“. Es ist dies also nichts als
eine methodische Fiktion der Ethik.
I Eine Variation dieser Idee ist die Vorstellung „einer
intelligibeln, d. i. moralischen Welt“ in dem Sinne, daß
in solcher Welt das „System der mit der Moralität ver-
bundenen proportionierten Glückseligkeit“ herrsche, das
„System der sich selbst lohnenden Moralität ((dasselbe,
was dann späterhin Fichte — zugleich aus der kritischen
Fiktion ein unkritisches Dogma machend — „die mora-
lische Weltordnung“ genannt hat). Auch das „ist nur
eine Idee“, die selbst nur wieder durch eine besondere
Fiktion ermöglicht ist, nämlich, daß „alle Handlungen
vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem
obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich oder unter
sich befaßt, entsprängen“.
284
Dritter Teil : Historische Bestätigungen.
Die Idee eines solchen obersten Willens, der dann
Würdigkeit und Glückseligkeit ausgleicht, ist „das Ideal
des höchsten Gutes“, die letzte und oberste Idee, d. h.
die oberste aller Fiktionen, die wiederum' identisch ist
mit der Gottesidee oder „dem Begriff eines einigen Ur-
wesens als des höchsten Gutes“, wie es nachher heißt i).
Dann heißt es in demselben Abschnitt weiter: „wir
müssen uns als zu einer solchen Welt gehörig vor-
stellen“, „wir müssen dieselbe als eine für uns (d. h.
als an die Anschauungsform der Zeit gebundene sinnliche
Wesen) künftige Welt an nehmen“, „wir müssen eine
solche Welt als eine künftige anseh en“, „wir müssen
uns im Reiche der Gnaden sehen“ — das „ist eine prak-
tisch notwendige Idee der Vernunft“, d. h. also nach dem-
jenigen, was wir nun über die Ideen wissen, das ist
eine heuristische Fiktion, eine zu ethischen Zwecken
nützliche Hilfsvorstellung.
Daß es sich dabei aber nur um fiktive Hilfskonstruk-
tionen handelt, das geht endlich noch deutlich aus dem
Schluß desselben Abschnittes hervor: wir dürfen „uns
nicht unterwinden“, aus dem' Begriff eines höchsten
Wesens „die moralischen Gesetze abzuleiten“; dies wäre
„schwärmerisch oder wohl gar frevelhaft“; d. h. wir
könnten nur dann die moralischen Gesetze aus dem
Gottesbegriff ableiten, wenn es sich dabei um eine causa
vera handeln würde. Da es sich aber nur um eine fik-
tive Vorstellung handelt, so können wir auch aus
ihr nichts realiter ableiten. Aus einer Hypothese könnte
man etwas und unter Umständen sehr viel ableiten, aus
einer Fiktion — nichts. Deshalb ist sie doch eine nütz-
liche und brauchbare, ja notwendige und unentbehrliche
— Idee, aber eben auch „nur eine Idee“.
Eine wichtige Ergänzung hierzu bietet nun endlich
der Abschnitt: „Vom Meinen, Witssen und Glau-
ben“. Dieser Abschnitt ist allerdings zum' Teil in sich,
zum Teil mit dem Vorhergehenden widersprechend, wahr-
1) In diesem Zusammenhang (A 813, B 841) entschlüpft Kant
eine sehr charakteristische Wendung: darnach ist auch „das mora-
lische Gesetz“ selbst „eine bloße Idee“ — eine sehr bemerkens-
werte Stelle. Das ganze Moralgesetz — nur eine Ideel Welch weite
Perspektive eröffnet sich mis dal
Grundlegendes in den Hauptscliriften Kants.
285
scheinlich ein aus früherer Zeit stammender, dort ein-
geschobener Entwurf; allein wir halten uns, unter Weg-
lassung des Unstimmigen, an dasjenige, was in unseren
Zusammenhang hineinpaßt und hineingehört. Kant lehnt
(A 827, B 855) ab, auf die Vernunftideen den Ausdruck
„Hypothesen“ anzuwenden: „Wenn ich das bloß theo-
retische Fürwahrhalten hier auch nur Hypothese nennen
wollte [d. h. wenn ich auf die Ideen statt den Ausdruck
„Wissen“ sogar auch bloß den Ausdruck „Hypothesen“
anwenden wollte], die ich [als real] anzunehmen berech-
tigt wäre, so würde ich mich dadurch schon anheischig
machen, mehr von der Beschaffenheit einer Weltursachc
und einer anderen Welt Begriff zu haben, als ich wirk-
lich aufzeigen kann; denn was ich auch nur als Hypo-
these annehme, davon muß ich wenigstens seinen Eigen-
schaften nach soviel kennen, daß ich nicht seinen
Begriff, sondern nur sein Dasein erdichten [d. h.
hypothetisch annehmen] darf. Das Wort Glauben aber
geht nur auf die Leitung, die mir eine Idee gibt, bei
welcher nämlich auch der Begriff selbst er-
dichtet ist“ (vgl. zur Erläuterung A 770, B 798). Also
„die Voraussetzung, daß eine höchste Intelligenz Alles
nach den weisesten Zwecken geordnet habe“ usw. —
alle diese Vorstellungen, welche doch „bloße Ideen“ sind,
will Kant auch als „Glauben“ bezeichnen. Also in diesem
Sinne, in diesem Zusammenhang ist Glaube so viel als
die Annahme, als ob etwas wäre, was nicht wirklich
ist und nicht wirklich sein kann. Nicht nur Kant nemit
hier diese fiktiven Annahmen „Glauben“ — auch rück-
wärts aus der Geschichte der Religionen, speziell aus der
Geschichte der Mystik, läßt sich durch viele Beweise
erhärten, daß auch umgekehrt vielfach vielen Gläubigen
ihre Glaubenswelt nur eine bewußte Selbst-
täuschung, d. h. eben eine Welt von be^vußten Fik-
tionen war — und noch heute ist.
Mit diesem Ausblick schließen wir die Analyse der
Kritik der reinen Vernunft, und bemerken noch ausdrück-
lich, daß in der vorstehenden Analyse nur diejenigen
Stellen herausgezogen und erörtert sind, welche für
unsere Theorie der Fiktion sprechen. Aber bei Kant fin-
den sich in demselben Zusammenhänge auch vielfach
286
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
Stellen, welche eine entgegengesetzte Auslegung zulassen,
ja fordern. Kant hat sich bekanntlich sehr vielfach wider-
sprochen; daß diese vielfachen Selbswidersprüche kein
Gegenbeweis gegen seine Größe sind, ist nur dem Phi-
lister unverständlich. Es liegt eben in Kants Entwick-
lung und im ganzen Zeitmilieu begründet, daß bei Kant
(wie bei vielen großen Männern) zwei Strömungen vor-
handen -sind, eine kritische und eine dogmatische, eine
revolutionäre und eine konservative. Die beiden Seelen
Kants liegen manchmal bei ihm im Streite, und so finden
sich auch viele Stellen bei Kant, in denen er seinen
kritischen Standpunkt abschwächt.
Zur Weiterverfolgung der interessanten Fragen bei
Kant nehmen wir die Prolegomena (1783) vor, in denen
wir aber in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Va-
riation der Lehre Kants antreffen. Es kommen aus den
Prolegomena nur die beiden §§ 57 und 58 in Betracht, in
dem Abschnitt: „Von der Grenzbestimmung der reinen
Vernunft“. Kant hat vorher, in den §§ 40 — 56 die Transz.
Dialektik seiner Kr. d. r. V. rekapituliert, sehr kurz und
sehr im „populären Auszug“ — denn alle Feinheiten seiner
Ideenlehre sind in diesem Auszug verloren gegangen; ein
vergröbertes Bild sieht uns an. Daß es sich in der
Transz. Dialektik um solche Begriffe handelt, welche
„bloße Ideen“ sind, tritt ganz zurück; nur selten findet
sich die letztere Wendung. Eine ganz besondere Ver-
gröberung seiner Lehre findet sich in der Bezeichnung
des Gottesbegriffes als einer „notwendigen Hypothese“
im § 55, während doch Kant in der Kr. d. r. V. die Ideen
als „heuristische Fiktionen“ haarscharf von den Hypo-
thesen geschieden hatte. Man sieht also, daß Kant die
Prolegomena allerdings nur für Anfänger und für den
Anfang des Studiums der kritischen Philosophie be-
stimmt hat.
Dieselbe Vergröberung tritt nun auch in den bei-
den §§ 57 und 58 hervor. Kant spricht hier fast aus-
schließlich nur von der Gottesidee; aber mit Rück-
sicht auf sein Leserpublikum läßt er hier die Wen-
dung, daß dieser Begriff „eine bloße Idee“ sei, ganz
zurücktreten, d. h. die Einsicht, daß schon der Begriff
eines einheitlichen Urwescns überhaupt nur fiktiv ist,
Grundlegendes in den Hauptschriften Kants.
287
„nur eine Idee“. Hier, in den Prolegomena, wird zwar
nicht für ihn selbst, aber für seine Leser aus dieser
„heuristischen Fiktion“ — eine notwendige Hypothese;
und nun handelt es sich nur noch darum, wie man sich
dieses als real anerkannte Urwesen im Verhältnis zur
Welt vorstellen soll, d. h. inwieweit man ihm mensch-
liche Prädikate geben darf, und nur in bezug auf das
Letztere wird nun hier das Als ob eingeführt. In
der Kr. d. r. V. waren — wenigstens in den oben an-
geführten Stellen — sowohl die Existenz als die
Eigenschaften Gottes fingiert. Jetzt, in den
Prolegomena, wird vorsichtigerweise für das weitere und
doch noch nicht weit genug fortgeschrittene Publikum
die Fiktivität nur auf die Eigenschaften angewen-
det, dagegen die Existenz als selbstverständlich voraus-
gesetzt, wenn auch wiederum nicht ohne einiges Schwan-
ken. Es heißt wie in § 58 : „Der unseren schwachen
Begriffen angemessene Ausdruck wird sein: daß wir uns
die Welt so denken, als ob sie von einer höchsten
Vernunft, ihrem Dasein und inneren Bestimmung nach
abstamme“. Im § 59, wo es ausdrücklich heißt, dieses
Wesen sei „nicht bloß erdichtet, sondern, da außer der
Sinnenwelt notwendig etwas, was nur der reine Verstand
denkt, anzutreffen sein muß“, wird gesagt, „wir können
dieses . . . freilich bloß nach der Analogie bestimmen“.
Diese Vorstellungsweise nennt Kant nun im § 58 im
Gegensatz zum dogmatischen den symbolischen An-
thropomorphismus; „der in der Tat nur die Sprache
und nicht das Objekt selbst angeht“. „Wenn ich sage,
wir sind genötigt, die Welt so anzuseheü, als ob
sie das Werk eines höchsten Verstandes und Willens sei,
so sage ich wirklich nichts mehr, als: wie sich verhält
eine Uhr, ein Schiff, ein Regiment zum Künstler, Bau-
meister, Befehlshaber, so die Sinneswelt ... zu dem
Unbekannten, das ich also hierdurch zwar nicht nach
dem, was es an sich selbst ist, ... aber doch nach
dem, was es für mich ist, . . . erkenne.“ So „nennen“
wir auch das Verhältnis des „Unbekannten in Gott“ zur
Menschheit — Liebe (nach Analogie eines menschlichen
Vaters). Also dieser „symbolische Anthropomorphismus“
„geht nur die Sprache an“, ist also nur — eine fa(?on de
288
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
parier, um eine Leibnizsche Wendung zu gebrauchen.
Man spricht nur so, als ob das so wäre.
Prinzipielle Ausführungen in den ethisch-religions-
sophischen Grundwerken.
Hier kommt zuerst die „Grundlegung zur Meta-
physik der Sitten“ (1785) in Betracht eine der kühn-
sten und konsequentesten Schriften Kants, ein würdiges
Gegenstück zur Kr. d. r. V.; viel bedeutender, als die
schwächlichen „Prolegomena“.
Für uns kommt zunächst der 3. Abschnitt (der Schluß-
abschnitt) in Betracht, in welchem „der Begriff der Frei-
heit“ als „der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie
des Willens“ behandelt wird. Darin heißt es (im 4. Ab-
satz): „Ein jedes Wesen, das nicht anders, als un-
ter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben
darum, in praktischer Rücksicht, wirklich frei, d. i.
es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Frei-
heit unzertrennlich verbunden sind, ebenso, als ob sein
Wille auch an sich selbst, und in der theoretischen
Philosophie gültig, für frei erklärt würde. Nun behaupte
ich, daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen
hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen,
unter der es allein handle. Denn in einem solchen Wesen
denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i.
Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat . . . (Eine solche
Vernunft) muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien
an sehen . . . folglich muß sie . . . als frei angesehen
werden, d. i. der Wille desselben kann nur unter
der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß
also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen
beigelegt werden.“ In einer Anmerkung (S. 76) recht-
fertigt Kant nochmals ausdrücklich diesen von ihm hier
eingeschlagenen Weg, „die Freiheit nur, als von ver-
nünftigen Wesen bei ihren Handlungen bloß in der
Idee zum Grunde gelegt . . . anzunehmen“, denn es
„gelten doch dieselben Gesetze für ein Wesen, das nicht
anders, als unter der Idee seiner eigenen Freiheit
Prinzip. Ausfuhr, i. d. ethisch-religionssophischen Grundwerken. 289
handeln kann, die ein Wesen, das wirklich frei
wäre, verbinden würden.“
Dieser Passus ist klein, aber von großer Tragweite:
ganz klar und unzweideutig erklärt Kant hier die Freiheit
für eine bloße Idee ohne Realität. Die Überschrift des
ganzen Passus lautet S. 76: „Freiheit muß als Eigen-
schaft des Willens aller vernünftigen Wesen voraus-
gesetzt werden“ — „voraussetzen“ ist also hier offen-
bar == so „ansehen“, „leihen“, „beilegen“, also kurz-
weg = fingieren ! Gleich nachher heißt es S. 77: Freiheit
„können wir als etwas Wirkliches nicht . . . beweisen,
wir sahen nur, daß wir sie voraussetzen müssen“ —
„voraussetzen“ bedeutet also hier nicht eine Hypothese,
sondern eine Fiktion. In demselben Sinne heißt es bald
nachher S. 79: „wir nehmen uns in der Ordmmg der
wirkenden Ursachen als frei an“ und „wir haben uns
die Freiheit des Willens bei gelegt“.
Hier tritt nun ein anderer Gedanke ein, welcher bei
Kant hier, wie so oft, in einem' schwankenden Lichte
erscheint: indem wir uns „als frei ansehen“, „denken
wir uns als a priori wirkende Ursachen“ (S. 79), und
damit nehmen wir den „Standpunkt“ (S. 79, 81/2) ein,
daß wir uns als Glieder und Mitglieder „der Verstandes-
welt“ (des mundus intelligibilis) und damit „als Intelli-
genz“ „ansehen“ (S. 81). Auf der einen Seite sagt Kant
ganz energisch, daß wir von der Welt der Dinge an sich
absolut nichts wissen; wenn er auf der anderen Seite
sagt, daß diese Welt der Dinge an sich aus „IntelÜT
genzen“ bestehe, so ist darin eben weiter nichts als ein
„symbolischer Anthropomorphismus“ zu sehen, wie sich
Kant früher ausgedrückt hat: die Welt der Dinge wird
angesehen, als ob feie aus Intelligenzen bestünde, und
wir .„denken“ uns selbst als Glieder dieser fingierten In-
telligenzenwelt. Dieser Gedankengang tritt bei Kant nicht
in allen Stellen rein und unzweideutig hervor; aber es
gibt 'Stellen, aus denen -er sich zwar nicht als die
Meinung Kants, wohl aber als eine — und für uns die
bedeutsamste seiner Meinungen ergibt.
Es heißt nachher S. 82: „der Mensch kann die Kau-
salität seines eigenen Willens niemals anders als unter
der Idee der Freiheit denken“ — die „Idee* der
Vaihinger. Philosophie. 19
290
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
Freiheit“ ist aber eine Idee, wie die anderen, also „nur
eine Idee“, eine „heuristische Fiktion“. „Wenn wir uns
als frei denken, so versetzen Avir uns als Glieder in die
Verstandeswelt“, so heißt es ebendaselbst (S. 82) — Wen-
dungen, welche ebensowohl dogmatisch, wie kritisch aus-
gelegt werden können, dogmatisch im Sinne der Wirklich-
keitsannahme, kritisch im Sinne einer heuristischen Fik-
tion. Kant fährt dort (S. 82) fort: „Unabhängigkeit von
den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen
die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muß) ist
Freiheit. Mit der Idee der Freiheit ist nun der Be-
griff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem
aber das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit, welches in
der Idee allen Handlungen vernünftiger Wesen . . .
zum Grunde liegt“; und nachher heißt es noch einmal:
„wenn v/ir uns als frei denken, so versetzen wir uns
als Glieder in die Verstandeswelt“. Also Freiheit ist
eine Idee, Autonomie ist eine Idee, das allgemeine Sitten-
gesetz ist eine Idee — Ideen sind „bloße Ideen“; die
ganze Moral ruht damit auf Fiktionen. Es heißt nachher
S. 83 : „die Idee der Freiheit macht mich zu einem
Gliede einer intelligibeln Welt“ — ist aber die Freiheit
„nur eine Idee“, so ist auch die intelligibele Welt eine
bloße Idee. Weiter heißt es (S. 84) : daß der Mensch „mit
einem Willen, der von Antrieben der Sinnlichkeit frei ist,
sich in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der
Dinge versetze“; „diese bessere Person glaubt er aber
zu sein, v/enn er sich in den Standpunkt eines Gliedes
der Verstandeswelt versetzt, dazu die Idee der Frei-
heit ... ilm unwillkürlich nötigt“. Daß Freiheit aber
eben „nur eine Idee der Vernunft sei, deren objek-
tive Realität an sich zweifelhaft ist“, wird gleich nachher
(S. 85) deuthch wiederholt: „alle Menschen denken sich
dem Willen nach als frei“ — sie sind es aber nicht, die
Freiheit ist ja nur eine Als-ob-Annahme, eine Fiktion.
Die Wendung, daß wir uns „als Intelligenzen, mit einem
Willen begabt denken“, wird nachher öfters wieder-
holt (ib. S. 86, 87), und daß „wir uns dadurch in eine
andere Ordnung der Dinge setzen“. „Dadurch, daß
die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt
hinein denkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen,
Prinzip. Ausführ. i. d. ethisch-religionssophischen Grundwerken. 291
wohl aber, wenn sie sich hineinschauen . . . wollte“
(S. 88). „Der Begriff einer Verstandes weit ist also nur
ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht,
außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als
praktisch zu denken“ (S. 88/9) — also nur ein point
de vue, nur eine zufällige Ansicht, nur eine Fiktion.
„Freiheit aber.ist eine bloße Idee“ (S. 89) — eine „bloße
Idee“ ist, wie wir wissen, eine heuristische Fiktion. Am
Schlüsse der „Grundlegung“ (S. 93) heißt es dann ganz
deutlich: „Übrigens bleibt die Idee einer reinen Ver-
standeswelt, als eines Ganzen aller Intelligenzen . . .
immer eine brauchbare und erlaubte Idee zum
Behufe eines vernünftigen Glaubens, . . . um durch das
herrliche Ide all) eines allgemeinen Reiches der Zwecke
an sich selbst . . . ein lebhaftes Interesse an dem mo-
ralischen Gesetze in uns zu bewirken“.
Der ausgelassene Zwischensatz lautet im Anschluß
an den Begriff des Reiches der Zwecke, „zu welchem
wir nun alsdann als Glieder gehören können, wenn wir
uns nach Maximen der Freiheit, als oh sie Gesetze der
Natur wären, sorgfältig verhalten“ (S. 94). Damit stoßen
wir auf einen Gedanken, der in dem zvv eiten Abschnitt
der „Grundlegung“ mehrfach in ähnlicher Form wieder-
holt wird: so S.62: wo die „Formel des sittlichen Impe-
rativs so ausgedrückt wird, daß die Maximen so müssen
gewählt werden, als ob sie wie allgemeine Naturgesetze
gelten sollen“; oder S. 44: „handle so, als ob die
Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum all-
gemeinen Naturgesetze werden sollte“ — also eine neue,
eigenartige Fiktion. Ich weiß wohl, daß meine Maximen
des Handelns keine Naturgesetze sind, daß sie nicht ein-
mal für die Majorität der Menschen Gesetze sind, aber
ich denke so, ich handle so, als ob sie allgemeine Natur-
gesetze wären ! In demselben Sinne heißt es S. 64 : „Dem-
nach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als
9 Man vergesse nicht, daß in der Sprache Kants ein , Ideal“,
wenn es auch noch so , herrlich“ ist, doch immer nur eine Fiktion
ist. Zum Überfluß bemerkt Kant im zweiten Abschnitt der Grund-
legung“ ausdrücklich einmal (S. 59) zu dem Reich der Zwecke“ in
Klammern: (freilich nur ein Ideal), dieses „freilich nur“ spricht
Bände.
292
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes
Glied im allgemeinen R.eiche der Zwecke wäre. Das
formale Prinzip dieser Maximen ist: handle so, als ob
deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetze (aller
vernünftigen Wesen) dienen sollte.“ Von diesem „Reich
der Zwecke“ heißt es dann weiter (S. 65) : „es ist nur
möglich nach der Analogie mit einem Reiche der
Natur“; die Wendung „nach der Analogie“ bedeutet aber
nach Kants früher erörtertem Sprachgebrauch eine —
Fiktion. Dieses „Reich der Zwecke“ ist ein „bloß mög-
liches“, weil es nur zustande käme, wenn alle vernünf-
tigen Wesen nicht nur nach jener Maxime einstimmig han-
deln würden, sondern a'uch, wenn das Reich der Natur
mit dem Reich der Zwecke „zusammenstimmen“ würde
— eine absolute Utopie. Das „Reich der Zwecke“ ist also
„eine bloße Idee“.
Wenn allerdings, wie es weiter heißt, „das Reich der
Zwecke als unter einem Oberhaupt vereinigt gedacht
würde, so würde dadurch das Letztere nicht mehr eine
bloße Idee bleiben, sondern wahre Realität erhalten“
(S. 65). Allein die Vorstellung eines solchen „Ober-
hauptes“ ist ja, wie wir wissen, selbst nur eine Fiktion
des „symbolischen Anthropomorphismus“, aber auch
wenn man ein solches „Oberhaupt“ statuieren wollte,
so „müßte doch selbst dieser alleinige unumschränkte
Gesetzgeber immer so vorgestellt werden, wie er den
Wert der vernünftigen Wesen nur nach ihrem uneigen-
nützigen, bloß aus jener Idee ihnen selbst vorge-
schriebenen Verhalten beurteilte“; eben aus der Idee des
Reiches der absoluten Zwecke vernünftiger Wesen oder,
mit anderen Worten, aus der Idee der „Würde der
Menschheit“. Daß auch dies eine „bloße Idee“ ist, sagt
Kant vorher (S. 65) mit folgenden markanten Worten : „Und
hierin liegt eben das Paradoxe, daß bloß die Würde
der Menschheit, als vernünftiger Natur, ohne irgend-
einen anderen dadurch zu erreichenden Zweck oder Vor-
teil, mithin die Achtung für eine bloi^e Idee^)
1) In demselben Sinne heißt es S. 54: „Der Mensch muß jeder-
zeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden“. — Also eine
Betrachtungsweise ein point de vue, ein Als-ob, eine Fiktion.
Prinzip. Ausführ. i. d. ethisch-religionssophischen Gnindwerken. 293
dennoch zur unnachlaßlichen Vorschrift des Willens die-
nen sollte, und daJ3 gerade in dieser Unabhängigkeit der
Maxime von allen solchen Triehfedern die Erhabenheit
derselben bestehe und die Würdigkeit eines jeden
vernünftigen Subjekts, ein gesetzgebendes Glied im' Reiche
der Zwecke zu sein“.
In dieser prächtigen Stelle hat Kant überhaupt den
absoluten Höhepunkt seiner kritischen Philosophie er-
reicht: die „Würde der Menschheit“, das „Reich der
'Zwecke“ sind — dies erkennt und lehrt Kant — „bloße
Ideen“, also Begriffe ohne jeden Realitätswert, nur „heu-
ristische Fiktionen“, nur Betrachtungsweisen, nur ein
Standpunkt; es kann, soll und muß so angesehen werden,
als ob das so wäre: dennoch, trotz dieser Einsicht
in die fiktive Natur dieser Vorstellungsweise, richtet der
Mensch als „vernünftiges Wesen“ sein Handeln nach
diesen Fiktionen ein. Hier sind wir auf dem höchsten
Gipfel angelangt, den das Kantische Denken, den das
menschliche Denken überhaupt erreicht hat. Nur wenige,
nur die Auserlesenen können in diesem Hochland über-
haupt noch atmen : die große Masse bedarf einer anderen,
einer dickeren Luft.
% ^ *
In der „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788)
schlägt Kant andere Töne an. Der kühne Radikalis-
mus der „Grundlegung“ macht einem zunehmenden Dog-
matismus Platz. Während in der „Grundlegung“ die
kritisch-radikalen Leitmotive hervortreten und die konser-
vativ-dogmatische Strömung zur Unterströmung wird, ist
es in der Kr. d. pr. V. umgekehrt. Ganz verschwinden
in dieser die radikaleren Momente nicht. Unserer Tendenz
gemäß heben wir hier wiederum nur diese radikalen
Momente heraus, und auch nur insofern, als sie mit
einiger Entschiedenheit sich geltend machen.
Im 1. Abschnitt § 7 (Ed. Kirchmann 1870, S. 37/8)
wird die Idee der Heiligkeit als praktische Idee ein-
geführt: „In der allergenugsamsten Intelligenz [Gott] wird
die Willkür als keiner Maxime fähig, die nicht zu-
gleich objektiv Gesetz sein könnte, mit Recht vor-
294
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
gestellt . . . diese Heiligkeit des Willens ist eine prak-
tische Idee, welche notwendig zürn Urbilde dienen
muß“ — also ein fiktives Ideal (vgl. dagegen ib. S. 148).
Die „intelligible Ordnung der Dinge“ oder die „über-
sinnliche Natur“, wie es jetzt öfters heißt, tritt
trotzdem recht dogmatisch hier auf. Doch gibt es auch
kritischer lautende Stellen, so in dem Abschnitt „Von der
Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Ver-
nunft“ (S. 52ff): „das Gesetz der Autonomie ist das
moralische Gesetz, welches also das Grundgesetz einer
übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt
ist, deren Gegenbild in der Sinnenwelt . . . existieren
soll. Man könnte jene die ur bildliche, die wir bloß
in der Vernunft erkennen, diese aber, weil sie die mög-
liche Wirkung der Idee der ersteren, als Bestimmungs-
grundes des Willens enthält, die nachgebildete nen-
nen. Denn in der Tat versetzt uns das moralische Gesetz
der Idee nach in eine Natur, in welcher reine Vernunft,
wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Ver-
mögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen
v/ürde . . . daß diese Idee wirklich unseren Wil-
lensbestimmungen gleichsam als Vorzeichnung zum
Muster liege, bestätigt die gemeinste Aufmerksamkeit auf
sich selbst. Wenn die Maxime, nach der ich ein Zeugnis
abzulegen gesonnen bin, durch die praktische Vernunft
geprüft wird, so sehe ich immer darnach, wie sie sein
würde, wenn sie als allgemeines Naturgesetz gälte . . .
Wir sind uns durch die Vernunft eines Gesetzes bewußt,
welchem, als ob durch unseren Willen zugleich eine
Naturordnung entspringen müßte, alle unsere Maximen
unterworfen sind. Also muß dieses die Idee einer nicht
empirisch gegebenen, und dennoch durch Freiheit mög-
lichen, mithin übersinnlichen Natur sein, der wir, wenig-
stens in praktischer Beziehung, objektive Realität geben,
weil wir sie als Objekt unseres Willens als reiner ver-
nünftiger Wesen an sehen“. Also doch — „objektive
Realität 1“ Also doch nicht lediglich fiktiv? Aber man
beachte den Zusammenhang „objektive Realität“
1) Der Ausdruck ,, objektive Realität“ hat in der Kr. d. pr. V. und
den verwandten Schriften schwankende Bedeutung, was man leicht
übersieht und bis jetzt meist übersehen hat. Am besten wird „objek-
Prinzip. Ausführ. i. d. ethisch-religionssophischen Grundwerken. 295
sprechen wir jener übersinnlichen Natur nur zu, weil
und insofern wir sie „ansehen“ als „Objekt unseres
Willens“ — also wir selbst schaffen eben jene über-
sinnliche Natur durch unseren Willen, und nur insofern,
als unser Wille durch jene „Idee“ bestimmt ist — wir
kommen also damit nicht aus dem Fiktiven heraus. Ganz
in diesem Sinne heißt es dann sehr bezeichnenderweise
weiter (S. 53/4) : „die zwei Aufgaben also : wie reine
Vernunft einerseits a priori Objekte erkennen [das Pro-
blem der Kr. d. r. V.], und wie sie andererseits [das
Problem der Kr. d. pr. V.] unmittelbar ein Bestimmungs-
grund des Willens, d. i. die Kausalität der vernünftigen
Wesen in Ansehung der Wirklichkeit der Objekte (bloß
durch den Gedanken der Allgemeingültigkeit ihrer
eigenen Maximen als Gesetze) sein könne, sind sehr ver-
schieden“ — also die praktische Vernunft schafft eben
ihr eigenes Objekt, das Reich des Guten, „bloß durch den
Gedanken“, also eben allein durch die Idee, und das von
ihr geschaffene Objekt ist eben das Reich des Guten,
das nur in der Idee und durch sie besteht — hier hat
Kant für denjenigen, der richtig lesen kann, und der in
sich diese hohen Gedanken nacherleben kann, ganz deut-
lich gesprochen.
„Die Religion innerhalb der Grenzen der
bloßen Vernunft“ (1793) bietet für unseren Gegen-
stand sehr viel wertvolles Material. Die „Vorrede“ wieder-
holt zunächst in unbestimmter Weise die Wendungen
„annehmen“ (S. 3, 7) und „objektive, obgleich nur prak-
tische Realität“ (Ausg. v. Kirchmann, S. 7, aber am
tive Realität“ erläutert (S. 68 am Schluß fies Abschnittes: „Von
dem Befugnisse der reinen Vernunft“ usw.) durch den Wechselaus-
druck „piaKtisch anwendbare Realität“. (Man beachte, was an der-
selben Stelle, am Schluß des Absatzes, gesagt wird über das rein
praktische „Annehmen und Voraussetzen“ übersinnlicher Wesen z. B.
Gottes nach einer Analogie, „aber nur in praktischer Absicht“.)
An einer anderen Stelle (S. 166 in dem Abschnitt: „Wie eine Erweite-
rung der Vernunft“ usw.) heißt es: dem Begriffe des Objekts eines
moralisch bestimmten Willens (den des höchsten Guts) und mit ihm
den Bedingungen seiner Möglichkeit, den Ideen von Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit, wird Realität, aber immer nur in Beziehung auf die
Ausübung des moralischen Gesetzes (zu keinem spekulativen Behuf)
gegeben; d. h. der moralisch Handelnde betrachtet sich und fühlt sich,
als ob er Glied einer solchen übersinnlichen Welt wäre.
296
Dritter Teil: Historische Bestätigongen.
Schluß der Vorrede heißt es deutlich, daß Kant im'
Folgenden „das Verhältnis des guten und bösen Prinzips,
gleich als zweier für sich bestehender, wirkender Ur-
sachen vors teile“ — wie dies gemeint ist, wird bald
noch deutlicher werden.
Im ersten Stück kommt bald nach dem Anfang
(S. 22) eine ähnliche Wendung, jedoch wenig bestimmt.
Bestimmter ist die Stelle S. 45: „Eine jede böse Hand-
lung muß, wenn man den Vernunftsursprung derselben
sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch
unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie geraten
wäre“ — also eine Variation der Freiheitsfiktion.
Das zweite Stück bringt bald nach dem Beginn
(S. 66) eine sehr charakteristische Apologie des Teufels
und der Hölle — als Fiktionen. „Es darf also nicht
befremden, wenn ein Apostel [den bösen Trieb in uns]
diesen unsichtbaren, nur durch seine Wirkungen auf uns
kennbaren, die Grundsätze verderbenden Feind als außer
uns und zwar als bösen Geist vorstellig macht ...
ein Ausdruck, der nicht, um unsere Erkenntnis über die
Sinnenwelt hinaus zu erweitern, sondern nur, um den
Begriff des für uns Unergründlichen für den prak-
tischen Gebrauch anschaulich zu machen, an-
gelegt zu sein scheint“ — wobei also Kant aadeutet,
der betreffende Apostel habe absichtlich und bewußt
diese fiktive Veranschaulichung gemacht. Dann heißt
es: „Es ist eine Eigentümlichkeit der christlichen Moral,
das Sittlich-Gute vom Sittlich-Bösen nicht wie den Him-
mel von der Erde, sondern wie den Himmel von der
Hölle miterschieden vorzustellen: eine Vorstel-
lung, die zwar bildlich, und als solche empörend, nichts-
destoweniger aber ihrem Sinn nach philosophisch rich-
tig ist. Sie dient nämlich dazu“ usw. — also Hölle
und Teufel sind zweckmäßige Fiktionen, welche
als religiöse Ausdrucksweisen Kants volle Billigung fin-
den; dem Teufel oder dem „bösen Geist“ steht gegenüber
(S. 68), „die personifizierte Idee des guten Prin-
zips“ — d. h. „das Ideal der moralischen Vollkommen-
heit“, „das Urbild der sittlichen Gesinnung“, natürlich
ebenfalls als eine zweckmäßige Fiktion. Von diesem fik-
tiven Urbild „kann man sagen: es ist vom Himmel zu
Prinzip. Ausführ. i. d. ethisch-religionssophischen Gmndwerken. 297
uns herabgekommen“ 1) ; „Sohn Gottes“ ist also eine
zweckmäßige religiöse Fiktion. Auch „kann die Vereini-
gung mit uns als ein Stand der Erniedrigung des Sohnes
Gottes angesehen werden“; auch ist es ganz richtig,
wenn man dieses Ideal der moralischen Gesinnung mit
„Hindernissen ringend und unter den größtmöglichen An-
fechtungen dennoch überwindend sich vorstellt“ —
also ein ganzes sich auftürmendes Gebäude zweckmäßiger
religiöser Fiktionen.
„Im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes (so-
fern er vorgestellt wird, als habe er die menschliche
Natur angenommen) kann nun der Mensch hoffen, Gott
(der natürlich nur eine Fiktion bleibt) wohlgefällig zu
werden“; der „praktische Glaube“ besteht eben nur in
der Anerkennung dieser Idee als einer nützlichen reli-
giösen Vorstellung und in der „Verähnlichung“ an jenes
„Urbild der Menschheit“. In diesem Sinne heißt es dann
S. 71 : „Und der Glaube an die praktische Gül-
tigkeit jener Idee, die in unserer Vernunft liegt,
. . . hat moralischen Wert“. Obgleich nun „das Urbild
eines solchen wahrhaft göttlich gesinnten Menschen“
„doch nirgends anders, als in unserer Vernunft zu suchen
ist“ (71), so hat doch „diese Idee ihre Realität in
praktischer Beziehung vollständig in sich selbst“
(70); ja der ganze Abschnitt, aus welchem die letzten
Zitate entnommen sind, hat die bezeichnende Überschrift :
„Objektive Realität dieser Idee“. Dies ist nun
äußerst wichtig für uns: also „objektive Realität“ bedeutet
für eine „Idee“ schlechterdings nicht so viel als „Reali-
tät der Existenz“, sondern „Realität der Gültigkeit“.
Dies wirft nun rückwärts ein sehr auffallendes Licht auf
diejenigen Stellen, in denen schon früher von der „objek-
tiven Realität“ der Ideen von Gott und Unsterblichkeit,
Vgl. dazu die Wendung ib. S. 74; „dieser göttlich gesinnte,
aber ganz eigentlich menschliche Lehrer würde . . . von sich, a I s o b
das Ideal des Guten in ihm leibhaftig . . . dargestellt würde, mit
Wahrheit reden können“. Man beachte hier die Wendung: „mit
Wahrheit“; natürlich ist „Wahrheit“ hier nicht im theoretischen, son-
dern im praktischen Sinn gemeint, und diese letztere nennt Kant miehr-
fach ebenfalls „Erkenntnis“. Es gibt also eine „doppelte
Wahrheit“ für Kant, eine wissenschaftliche und eine
moralisch-praktische.
298
Dritter Teil; Historische Bestätigungen
sowie der Freiheit die Rede war. Könnte man jemals dar-
über schwanken, was „objektive Realität“ von Ideen be-
deute — hier ist kein Zweifel mehr darüber möglich : der
Ausdruck bedeutet nicht Unbedingtheit der Existenz,
sondern Unbedingtheit des Wertes.
Eine Anmerkung zu dem genannten Abschnitt ist eben-
falls von hohem Wert für uns (S. 73 ff.); daß wir jene
Ideen „hypostasieren“ (S. 72) und „auf menschliche
Weise vorstellig machen“ müssen, ist eine „Beschränkt-
heit der menschlichen Vernunft“, welche uns nötigt,
„geistig-moralische übersinnliche Beschaffenheiten“ uns
durch „Analogie mit Naturdingen faßlich zu machen“,
„ob zwar eben nicht behauptet werden soll, daß es ai;
sich dlTj^eiav) auch so bewandt sei“. Jenes ist eben
„der Schematismus derAnalogie (der Erläuterung),
den wir nicht entbehren können. Diesen aber in einen
Schematismus der Objektbestimmung (zur Er-
weiterung unseres Erkenntnisses) zu verwandeln, ist An-
thropomorphismus, der in moralischer Absicht (in
der Religion) von den nachteiligsten Folgen ist“. AIsOi die
religiösen Fiktionen dürfen nicht in Dogmen verwandelt
werden, aus dem Als -ob darf nicht ein Daß und Weil
gemacht werden. So „nützlich“ jene Vors tellungs weisen
als Fiktionen sind, so „nachteilig sind sie als Dogmen. Es
ist verkehrt, jenes ganze Vorstellungsgebäude dXrji^ecav
d.h. als objektiv und theoretisch waJir zu nehmen: es ist
ein Luftschloß, eine Fata Morgana, aber eine notwendige
und zweckmäßige Vors tellungs- und Ausdrucks weise, und
diese hat in diesem Sinne subjektiv-praktische Wahr-
heit“.
Wer nun die „Religion i. d. Gr. d. bl. V.“ weiter ver-
folgt, stößt im Schlußabschnitt des zweiten Stückes (S. 93)
auf eine sehr interessante Anmerkung: „Eine vom an-
geborenen Hange zum Bösen freie Person so als möglich
sich zu denken, daß man sie von einer jungfräulichen
Mutter gebären läßt, ist eine Idee der sich zu einem
schwer zu erklärenden und doch auch nicht abzuleugnen-
den, gleichsam moralischen Instinkt bequemenden
Vernunft“. Kant erläutert nun die Berechtigung und
„Angemessenheit“ der ,,Idee einer von keiner Geschlechts-
gemeinschaft abhängigen (jungfräulichen) Geburt eines
Prinzip. Ausführ. i. d. ethisch-religionssophischen Grundwerken. 299
mit keinem moralischen Fehler behafteten Kindes“. Selbst
die naturwissenschaftlichen Schwierigkeiten dieser Idee
diskutiert Kant in diesem Sinne, schließt aber diese Dis-
kussion mit den bezeichnenden Worten: „Wozu aber
alle diese Theorie, dafür oder dawider, wenn es für das
Praktische genug ist, jene Idee als Symbol der sich
selbst über die Versuchung zum Bösen erhebenden
(diesem siegreich widerstehenden) Menschheit uns zum
Muster vorzustellen?“ Also auch „die Idee“ der jung-
fräulichen Zeugung eine zweckmäßige, religiöse Fiktion,
ein schöner, sinnreicher und nützlicher Mythus!
So wird auch daselbst im allgemeinen gebilligt, daß
der Kam.pf des guten Prinzips mit dem bösen Prinzip
im Menschen „in der Form einer Geschichte vorgetragen
wird, da zwei wie Himmel und Hölle einander entgegen-
gesetzte Prinzipien im' Menschen als Personen außer ihm
vor gestellt werden“ (S. 91); „das böse Prinzip wird
der Fürst dieser Welt genannt“, „physische Leiden usw.
werden als Verfolgungen des bösen Prinzips vor ge-
stellt“ (S. 97). „Man sieht leicht, daß, wenn man diese
lebhafte, und wahrscheinlich für ihre Zeit auch einzige
populäre Vorstellungsart von ihrer mystischen
Hülle entkleidet, sie (ihr Geist und Vernunftsinn) für
alle Welt, zu aller Zeit praktisch gültig und ver-
bindlich gewesen“ (S. 97). „Unter solchen Umständen
kann es nichts fruchten, jene Erzählungen . . . jetzt zu
bestreiten, wenn die wahre Religion (die kritische Reli-
gion des Rechttuns) einmal da ist ... die zu ihrer Zeit
durch solche Hilfsmittel introduziert zu werden
bedurfte“ (S. 99); „ja wir können auch die Hülle noch
ehren, welche gedient hat, eine Lehre ... in Gang zu
bringen“ (ib.). Also jene religiösen Fiktionen können
sämtlich für das Volk — nicht in dem gewöhnlichen
etwas verächtlichen Sinn, sondern für das Volk im
Sinne der VoU^sgemeinschaft — auch fernerhin bei-
behalten werden.
Freilich muß sich „der vernünftige Geistliche wohl
hüten“, nun jene religiösen Fiktionen zu weit zu treiben,
und insbesondere wird und muß er sich hüten, mit
Wundergeschichten „den Kopf der seiner Seelsorge An-
befohlenen anzufüllen und ihre Einbildungskraft zu ver-
300
Dritter Teil : Historische Bestätigungen.
wildern“ (S. 102). Vernünftige „Leute in Geschäften“ „ge-
brauchen Wunder nur als Phrasen“; „so sagt der Arzt:
dem Kranken ist, wenn nicht etwa ein Wunder geschieht,
nicht zu helfen, d. i. er stirbt gewiß-“. „Weise Regie-
rungen haben daher jederzeit zwar eingeräumt, ja wohl
gar unter die öffentlichen Religionslehren die Meinung
gesetzlich auf genommen, daß vor Alters Wunder ge-
geschehen wären, neue Wunder aber nicht erlaubt“,
d. h. der Staat hat die Vorstellung von Wundem als
eine zweckmäßige religiöse Fiktion gestattet,
verbietet aber, aus dieser Vorstellung Konsequenzen zu
ziehen, welche in das bürgerliche Leben eingreifen.
Auch im dritten Stück finden wir viele für unser
Thema bedeutsame Stellen; in ihm wird die Idee des
Reiches Gottes eingeführt, das „auch ein Reich der
Tugend (des guten Prinzips) genannt werden kann, wovon
die Idee in der menschlichen Vernunft ihre ganz wohl-
begründete objektive Realität hat (als Pflicht, sich zu
einem solchen Staate zu einigen“) (S. 111). Diese Stelle
ist für uns ganz besonders wichtig: Diese Idee hat wie
alle derartigen Ideen, „ihre ganz wohlbegründete objek-
tive Realität“. Aber wo? „In der menschlichen
Vernunft.“ Und wie? „Als Pflicht, sich zu einem solchen
Staat zu einigen.“ Hier ist der Ausdruck „objektive
Realität“, der ja auch auf die Gottes idee, auf die Un-
sterblichkeitsidee angewendet v/ird, mit wünschenswerte-
ster Klarheit erläutert. Mit einer theoretisch konstatier-
baren oder annehmbaren Außenexistenz hat diese „objek-
tive Realität“ nicht das Mindeste zu tun, für die Ideen be-
steht ihre „objektive Realität“ in ihrer Innenexistenz in
der menschlichen Vernunft als praktische, ethische Nor-
men, Werte, Ideale, Fiktionen. Diese Stelle ist für die
ganze Ideenlehre klassisch.
Die Überschrift der 1. Abteilung lautet in diesem
Sinne: „Philosophische Vorstellung des Sieges des
guten Prinzips unter Gründung eines Reiches Gottes
auf Erden“. Der Gegensatz dazu ist die Idee „des ethi-
schen Naturstandes“, gewisseimaßen das Reich des Teu-
fels auf Erden, wo die Menschen betrachtet werden,
„gleich als ob sie Werkzeuge des Bösen wären“ (S. 114),
In jenem Reich werden „alle Gesetze als Gebote eines
Prinzip. Ausführ. i. d. ethisch-religionssophischen Grund werken. 301
gemeinschaftlichen Gesetzgebers angesehen (S. 116),
sie werden so „gedacht“, so „vorgestellt“ (S. 117).
„Einem solchen Volke Gottes kann man die Idee einer
Rotte des bösen Prinzips entgegensetzen, . . . wiewohl
auch hier das die Tugendgesinnungen anfechtende Prin-
zip gleichfalls in uns selbst liegt und nur bildlich
als äußere Macht vorgestellt wird“ (S. 119). Die Idee
des Volkes oder Reiches Gottes wird dann zur „unsicht-
baren Kirche“ — „eine bloße Idee von der Vereini-
gung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen . . . Welt-
regierung“ (S. 119). „Sie würde auch am besten mit
der einer Familie unter einem . . . moralischen Vater
verglichen werden können“ (S. 121). Und nun kommt
jene berühmte, aber bis jetzt so wenig verstandene Defi-
nition der Religion: „Alle Religion besteht darin, daß
wir Gott (eine bloße Idee!) für alle unsere Pflichten als
den allgemein zu verehrenden Gesetzgeber ans eben“
(S. 122) — der Ton liegt und ist zu legen auf ans eben:
wir sehen es so an, als ob es einen Gott gäbe,* und als
ob dieser Gott die Moralgesetze uns geboten hätte — in
dieser zweifachen Fiktion liegt das Wesen der religiösen
Betrachtungsweise „Die Erfüllung aller Menschenpflichten
als göttlicher Gebote macht das Wesentliche aller Reli-
gionen aus“ (S. 130). Das hat einen Doppelsinn : A) Alle
historischen, empirischen Religionen bestehen darin, daß
unsere Menschenpflichten von den Völkern in allem
Ernste als Gebote höherer Wesen aufgefaßt und ausgelegt
worden sind, d. h. sie nehmen an, daß sich das so ver-
halte; B) Die reine Vernunftreligion besteht darin, daß
der Mensch seine Pflichten so ernst nimmt, als ob sie
ihm von einem höheren Wesen auferlegt wären.
Der Zustand A ist ein noch unentwickelter. „Die
Hüllen, unter welchen der Embryo sich zuerst zum Men-
schen bildet, müssen abgelegt werden, wenn er nun
an das Tageslicht treten soll“, sagt Kant ib. S. 144. „Das
Leitband der heiligen Überlieferung, mit seinen Anhäng-
seln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner
Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich,
ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jünglingsalter ein-
tritt.“ So lange er (die Menschengattung) ein Kind war,
war er klug als ein Kind, ... nun er aber ein Mann wird,
H()2 Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
legt er ab, was kindisch ist“ — mit diesem Zitat
scliließt Kant diese bemerkenswerte Stelle (S. 144). Ist
der Mensch in das denkende Mannesalter eingetreten, so
verwandelt er das Daß der Dogmen in das Als ob der
fiktiven Auffassung.
Die 2. Abteilung desselben 3. Stückes (S. 148 — 176)
bietet nur weniges zur Bestätigung. Auferstehung und
Himmelfahrt werden als „Vernunftideen“ S. 153) be-
trachtet, d. h. es wird ihnen ein moralischer Sinn unter-
gelegt, ebenso wird die Wiederkunft des Auferstandenen
in sein Reich als „symbolische Vorstellung ausgelegt“
(S. 160); auch der Chiliasmus ist ein „schönes Ideal“ und
kann nebst den damit zusammenhängenden Vorstellungen
apokalyptischer Natur „vor der Vernunft seine gute sym-
bolische Bedeutung annehmen“; wenn man diesen Sym-
bolen nur „den intellektuellen Sinn unterlegt“, sind sie
als Hüllen“ und „Vehikel immer nützlich“ (S. 162), —
also auch dies sind nützliche religiöse Fiktionen; sie als
Dogmen -zu nehmen, v/äre dagegen „schädlicher Anthro-
pomorphismus“ (S. 169); selbst die Vorstellung der Drei-
einigkeit wird, wenn moralisch „gereinigt“ (S. 169), noch
als „praktische Idee“ anerkannt (S. 170), als „kein un-
schicklicher Ausdruck“; Berufung, Genugtuung, Erwäh-
lung werden, ebenfalls im moralischen Sinne „als prak-
tisch notwendige Religionsidee“ (S. 174) anerkannt. Ein-
facher als diese komplizierten religiösen Fiktionen ist die
religiöse Grund- und Ur-Fiktion: „wir müssen uns be-
ständig prüfen, als zur Rechenschaft vor einen Richter
gefordert“ (S. 173).
Eine sehr konsequente, kühne und offene Darstel-
lung der Als-Ob-Lehre findet sich in der Schrift:
Über die Fortschritte der Metaphysik. Kant
hat bekanntlich diese Schrift entworfen als Antwort auf
die von der Berliner Akademie auf das Jahr 1791 aus-
gesetzte Preisfrage. Kant hat sie selbst nicht publiziert,
und diesem Umstand verdanken wir vielleicht gerade die
offene, kühne Sprache dieser bis jetzt nicht genügend
beachteten Schrift. In dem Abschnitt „der Metaphysik
drittes Stadium“ (S. 137) knüpft Kant direkt an die
Prinzip. Ausftihr. i. d. ethisch-religionssophischen Grundwerken. 803
Kr. d. U. an; er sagt von dem Begriff der Zweckmäßig-
keit, daß er nicht das betreffe, was in dem Objekt ist,
sondern was wii" in dasselbe legen, daß wir also diesen
Begriff „nur vernünftelnd hineintragen“, oder „binein-
legen“; „der Begriff des Zweckes ist jederzeit von uns
selbst gemacht“. Im Zusammenhang mit dem Begriff der
Zweckmäßigkeit steht der (ebenfalls von uns „gemachte“)
Begriff des Endzweckes überhaupt, der Begriff des höch-
sten Gutes, und im Zusammenhang mit diesem Begriff
stehen nun andere „gemachte Begriffe“ — Freiheit, Gott
und Unsterblichkeit (oder „das Übersinnliche in uns,
über uns und nach uns“). Im weiteren Verfolg der
Abhandlung (in der „Auflösung der akademischen Auf-
gabe“) heißt es dann, daß wir „das übersinnliche Ding
nicht nach dem*, was es an sich ist, zu untersuchen
haben, sondern nur, wie wir es zu denken und seine
Beschaffenheit anzunehmen haben, um den . . . End-
zweck, v/elcher das höchste Gut ist, für uns selbst
angemessen zu sein“ (S. 141). Wir stellen nicht Nach-
forschungen über die Natur der Dinge an, „die wir uns,
und zwar nur zum notwendigen praktischen Behuf,
selbst machen, und die vielleicht außer unse-
rer Idee gar nicht existieren, vielleicht nicht
sein können“. In diesem Zusammenhang rechtfertigt
auch Kant ausführlich den Terminus „Glauben“ für der-
artige Annahmen zu praktischem Behuf. „Der Beweis-
grund der Richtigkeit dieses Glaubens ist kein Beweis-
grund von der Wahrheit dieser Sätze, als theoretischer
betrachtet, mithin keine objektive Belehrung von der
Wirklichkeit der Gegenstände derselben, denn die ist in
Ansehung des Übersinnlichen unmöglich, sondern nur
eine subjektiv- und zwar praktisch-gültige, und in dieser
Absicht hinreichende Belehrung, so zu handeln, als ob
wir wüßten, daß diese Gegenstände wirklich wären“
(S.143). Es handelt sich dabei nur darum, „um dem, wozu
wir schon von selbst verbunden sind, nämlich der Be-
förderung des höchsten Gutes in der Welt nachzustreben,
noch ein Ergänzungsstück zur Theorie der Möglichkeit
desselben, ebenfalls durch bloße Vernunftideen
hinzuzufügen, indem wir uns jene Objekte, Gott, Freiheit
in praktischer Qualität und Unsterblichkeit, nur der
3Ü4
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
Forderung der moralischen Gesetze an uns zufolge,
selbst machen und ihnen objektive Realität
freiwillig geben“. Und weiterhin S. 144: „In praJc-
tischer Rücksicht machen wir uns diese Gegen-
stände selbst, so wie wir die Idee derselben dem
Endzwecke unserer reinen Vernunft behilflich^) zu
sein urteilen; welcher Endzweck, weil er moralisch not-
wendig ist, dann freilich wohl die Täuschung bewirken
kann, das, was in subjektiver Beziehung, nämlich für den
Gebrauch der Menschen Realität hat (weil es in Hand-
lungen, die dieser ihrem Gesetze gemäß sind, der Er^
fahrung dargelegt worden), für Erkenntnis der Existenz
des dieser Form gemäßen Objektes zu halten“.^) Aber
in Wahrheit sind „jene Ideen von uns willkürlich ge-
macht“ (S. 145). Also der moralische Gottesbeweis ist
ein Argument „der Vernunftmäßigkeit, ein solches
[Wesen] anzunehmen, wo dann der Mensch befugt
ist, einer Idee, die er moralischen Prinzipien gemäß
sich selbst macht, gleich als ob er sie von einem
gegebenen Gegenstand hergenommen, auf seine Ent-
schließungen Einfloß zu gestatten“ (S. 151). Diese Ideen
dienen dazu, „um den Wandel des Menschen hier auf
Erden gleichsam als einen Wandel im Himmel vorzu-
stellen“, d. h. man kann und soll die Welt nach der
Anal Ogi e3) mit der physischen Teleologie [also in
der Art einer „moralischen Teleologie“] annehmen“; theo-
retisch genommen ist dies „nicht, wie es die Leibniz-
Wolfsche Philosophie vermeint, ein haltbarer, sondern
überschwänglicher, in praktisch-dogmatischer Rücksicht
aber ein reeller, und durch die praktische Vernunft
für unsere l^flicht sanktionierter Begriff“ (S. 154). Aber
diese „praktische Realität“ darf nicht von unkritischen
1) d. h. die betreffenden Vorstellungen sind bloße Hilfsvorstel-
lungen.
2) d. h. die nützliche Fiktion verwandelt sich bei der labilen
Beschaffenheit jener fiktiven Annahmen leicht in ein Dogma.
Dieses Denken nach der Analogie oder das Symbolisieren er-
örtert Kant in derselben Schrift bald nach dem Anfang in einem
eigenen kleinen Abschnitt: „Von der Art, den reinen Verstandes- und
Vernunftbegriffen objektive Realität zu verschaffen“ (S. 120), wo er
den Schematismus der Kategorien und den Symbolismus der Ideen ein-
ander gegenüberstellt; letztere bezeichnet er als eine „Nothilfe“.
Prinzip. Ausfuhr, i. d. ethisch-religionssophischen Gnmdwerken 305
Lesern der kritischen Philosophie mißverstanden und
wieder theoretisch-dogmatisch gewendet, d. h. die Fik-
tion darf nicht in ein Dogma verwandelt werden. Kant
wiederholt nochmals ausdiiicklich und scharf: „Es zeigt
sich eine gewisse Organisation der praktischen Vernunft,
wo erstlich das Subjekt der allgemeinen Gesetzgebung,
als Welturheber, zweitens das Objekt des Willens der
Weltwesen, als ihres jenem gemäßen Endzweckes, drit-
tens der Zustand der letzteren, in welchem sie allein
der Erreichung desselben fähig sind [Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit] — in praktischer Absicht selbst-
gemachte Ideen sind“ (S. 156). Also jene Begriffe sind
und bleiben — selbstgemachte Ideen.
Damit wird nun auch der unermeßliche Unterschied
klar, welcher zwischen der Kantischen Rechtfertigung
der religiösen Ideen besteht, und aller vor- und nach-
kantischen. Die Kantische Rechtfertigung der religiösen
Vorstellungen ist eine rein fiktive, oder vielleicht klarer
gesagt, fiktionalistische: sie sind ihm' praktisch
zweckmäßige Fiktionen; dagegen ajle vor- und nach-
kantische Rechtfertigung der religiösen Begriffe rmd Ur-
teile ist eine rationalistische; sie sind rational be-
gründete Hypothesen. Nur eine Abart dieses Ratio-
nalismus ist der Kantianismus vulgaris, nach welchem
Kant die religiösen Hauptideen auf Grund der mora-
lischen Tatsachen rechtfertigen soll, denn nach der seit
Reinhold üblich gewordenen Darstellung jenes Vulgär-
Kantianismus zieht man ja aus den moralischen Phä-
nomenen theoretische Konsequenzen auf die Existenz
Gottes usw., macht also wieder nur Hypothesen: der
echte und eigentliche Kantische Kritizismus zieht über-
haupt keine theoretischen Schlüsse, sondern lehrt:
du mußt so handeln, als ob es einen Gott usw.
gäbe. Darin besteht Kants kritischer Pragmatismus. —
Eine sehr wichtige Stelle zur Erläuterung dessen, was
Kant meint, enthält die Abhandlung: „Von einem
neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der
Philosophie“ (1796). Da wird in einer sehr aus-
führlichen Anmerkung der Ausdruck Glauben erläutert:
„Glaube“ bedeutet theoretisch genommen „etwas
für wahrscheinlich halten“, und ist „ein Mittelding
Vaihinger, Philosophie 20
BOfi Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
zwischen Meinen und Wissen“. In bezug auf empirische
Dinge und Zeugnisse gibt es ein solches theoretisches
Glauben, aber in bezug auf Übersinnliches gibt es über-
haupt kein Urteil, also auch kein Wahrscheinlichkeits-
urteil : „also gibt es keinen theoretischen Glauben an das
Übersinnliche“.
„In praktischer (moralisch-praktischer) Bedeutung aber
ist ein Glauben an das Übersinnliche nicht allein
möglich, sondern er ist sogar mit dieser unzertrennlich
verbunden.“ Denn die kategorisch gebietende „Stimme
der Moralität in mir“ verlangt von uns Mitwirkung zur
B ealisierung des unbedingten Zweckes des höchsten Gutes
[das freilich nur eine Idee ist]; und dieses höchste Gut
ist wieder nur realisierbar durch die „darauf hinwirkende
Macht eines Weltherrschers“ [der freilich wiederum ja
nur eine Idee ist]. „An ihn aber moralisch-praktisch
glauben, heißt nicht seine Wirklichkeit vorher theo-
retisch für wahr annehmen, damit man, jenen gebotenen
Zweck zu verstehen, Aufklärung, und ihn zu bewirken,
Triebfedern bekomme; denn dazu ist das Gesetz der
Vernunft schon für sich objektiv hinreichend; sondern
um nach dem Ideal jenes Zweckes so zu handeln,
als ob eine solche Weltregierung wirklich wäre“; „jener
Imperativ gebietet nicht das Glauben, sondern das Han-
deln“. Mit anderen Worten: Im Kantischen Sinne, im
Sinne der kritischen Philosophie, heißt der Ausdruck
„ich glaube an Gott“, nichts anderes als : „ich handle so,
als ob es einen Gott wirklich gäbe“; indem der Kan-
tisch- und Kritisch-Denkende sittlich handelt, handelt er
so, als ob das Gute einen unbedingten Wert in der
Welt hätte, derart, daß es das Entscheidende in der Welt
wäre ; und das Gute wäre das Entscheidende in der
Welt, wenn es eine Weltregierung gäbe, welche das Gute
auch zuletzt zum Siege führen würde. Trotzdem mir
meine theoretische Vernunft verbietet, eine
solche moralische Weltordnung anzunehmen — ein sol-
cher Begriff ist gänzlich leer — so handle ich doch so,
als ob es eine solche moralische Weltordnung geben
würde, da mir meine praktische Vernunft ge»
bietet, das Gute unbedingt zu tun; indem ich diesem
Gebot der praktischen Vernunft folge, handle ich, streng-
Prinzip. Auslühr. i. d. ethisch-religion.ssophischen Crrimdwerken. 307
genommen, theoretisch unvernünftig denn meine theo-
retische Vernunft sagt mir, daß eine solche moralische
Weltordnung nur ein leerer, wenn auch schöner Begriff
ist; ’ aber ich finde nun einmal in mir das Gebot der
praktischen Vernunft, das Gute zu tun, und dies Gebot
imponiert mir als etwas Erhabenes.^ Ich handle nach
diesem Gebot. Aber indem ich darnach handle, handle
ich gerade so, als ob ich jene theoretisch als unmöglich,
ja als widerspruchsvoll erkannte Annahme einer mora-
lischen Weltordnung machen würde; nicht in dem Sinne,
daß diese mir jenes Gebot gäbe; bewahre: daran denkt
meine Seele gar nicht; jenes Gebot gefällt uns, imponiert
uns um seiner selbst willen, jenes Gebot ist eben Inhalt
meiner praktischen Vernunft; also dem normal sittlich
angelegten Menschen ist die moralische Weltordnung,
resp. der moralische Weltordner, d. h. Gott ganz und gar
nicht eine Voraussetzung für seine freiwillige Unter-
werfung unter jenes Sittengebot. Aber indem jener Kan-
tische Normalmensch jenes Sittengebot ausführt, handelt
er ja gerade so, als ob diese Ausführung des Sitten-
gebotes gewissermaßen nicht bloß eine empirische Folge
in der Zeit, in der Erscheinungswelt hätte, sondern so,
als ob jene moralische Handlung in eine intelligible,
übersinnliche Welt hineinreichte und einerseits mitwirkte
zur Erreichung eines allgemeinen ewigen höchsten Gutes
überhaupt und andererseits durch eine göttliche Macht
in ein System der Zwecke selbst zweckmäßig eingefügt
würde. Das unbedingt sittlich-gute Handeln ist seiner
Natur nach immer und überall so; denn sittlich handeln
heißt eben, entgegen den empirischen Bedingungen so
handeln, als ob das Gute einen unbedingten Wert hätte,
als ob es die Macht hätte, in eine überempirische Welt
hineinzureichen, in der ein oberster Weltherrscher für
die Harmonie des Guten und des Bösen sorgte. In diesem
Sinne ist gutes Handeln identisch mit Glauben an Gott
und Unsterblichkeit. In diesem Sinne glaubt also auch der
sittlich handelnde theoretische Atheist an Gott undllnsterb-
lichkeit praktisch, indem er eben so handelt, als ob es
1) Hier ist die philosophische Wurzel des berühmten theolo-
gischen Satzes: creclo^ quia absurdum.
408
Dritter Teil: Historische HesLätigungen.
Gott und Unsterblichkeit gäbe. Jedes sittliche Handeln
schließt also eben damit die Fiktion von Go,tt und Unsterb-
lichkeit in sich ein — dies ist der Sinn des praktischen Ver-
nunftglaubens an Gott und Unsterblichkeit. In diesem
Sinne und nur in diesem Sinne ist auch die von Kant
aufgestellte Schlußfolgerung: „moralisch ernstliche und
darum gläubige Bearbeitung des Guten“ zu verstehen.
Der Moralisch -Gute kann zu sich und seinesgleichen
sagen: „du handelst gut und darum bist auch du in
deiner Weise gläubig; denn du handelst so, als ob
es einen Gott gäbe; kürzer: du handelst gut, also
glaubst du“. Dieses Kantische recte agis, ergo
credis — ist dais Grundaxiom der praktischen Philo-
sophie und als solches das Gegenstück zu dem richtig
verstandenen Cartesianischen Grundaxiom der theore-
tischen Philosophie: cogito, ergo sum.
An die Fragen des öffentlichen Rechts knüpfen sich
am zweckmäßigsten die Ausführungen an, welche Kant im
I. Teil seiner „Metaphysik der Sitten“, in der „Rechts-
lehre“ (1797) gegeben hat. Eine große Rolle spielt so-
gleich hier am Anfang, speziell in dem Abschnitt über
Privatrecht, die Idee, welche als „die ursprüngliche Ge-
meinschaft des Bodens überhaupt“ bezeichnet wird (§ 6,
Anm., § 10, § 13). Um die Möglichkeit der ursprünglichen
d. h. ersten Erwerbung eines Bodenstückes der Erde ju-
ristisch konstruieren resp. deduzieren zu können, wird von
Kant folgende Fiktion gemacht: „alle Menschen sind ur-
sprünglich (d. i. vor allem rechtlichen Akt der Willkür)
im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d. i. sie haben ein
Recht, da zu sein, wohin sie die Natur oder der Zufall .
(ohne ihren Willen) gesetzt hat. Der Besitz (possessio),
der vom Sitz (sedes) als einem willkürlichen, mithin er-
worbenen, dauernden Besitz unterschieden ist, ist ein
gemeinsamer Besitz, wegen der Einheit aller Plätze
auf der Erdfläche . . . Der Besitz aller Menschen auf
Erden, der vor allem rechtlichen Akt derselben vorhergeht
(von der Natur selbst konstituiert ist), ist ein ursprüng-
licher Gesamtbesitz (communio possessionis origi-
naria) . . ., ein praktischer Vernunftbegriff, der a priori das
Prinzip enthält, nach welchem allein die Menschen den
Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen können“
Prinzip. Ausführ. i. d. ethisch-religionssophischen Grand werken. 309
(§ 13). Man dürfe nicht etwa sagen : der Boden sei „von
Natur und ursprünglich, vor allem rechtlichen Akt, frei“
(§ 6)> „denn auch das wäre ein Verhältnis zu Sachen,
nämlich dem Boden, der jedermann seinen Besitz ver-
weigerte; . . . weil diese Freiheit des Bodens ein Verbot
für jedermann sein würde, sich desselben zu bedienen,
wozu ein gemeinsamer Besitz desselben erfordert wird,
der ohne Vertrag nicht stattfinden kann. Ein Boden aber,
der nur durch diesen frei sein kann, muß wirklich im
Besitz aller derer (zusammen Verbundener) sein, die sich
wechselseitig den Gebrauch desselben untersagen . . .“
(§ 6). Also hier wird sogar noch die Fiktion eines ur-
sprünglichen Vertrages eingeführt, durch den der ur-
sprüngliche gemeinschaftliche Besitz des Bodens aus-
gesprochen wird.
Kant fährt dann ebendaselbst fort: „diese ursprüng-
liche Gemeinschaft des Bodens . . . (communio fundi
originaria) ist eine Idee, welche objektive (rechtlich-
pralitische) Realität hat“ — also die uns bekannten Aus-
drücke; „objektiv-praktisch-reale Idee“, welche wir durch
die gleichwertigen, aber deutlicheren Ausdrücke: zweck-
mäßige Fiktion ersetzen.
Der Idee des Naturzustandes korrespondiert nun die
Korrelatidee des ursprünglichen Vertrags, die ja
schon Hobbes, Spinoza, Locke, Rousseau eben auch als
bloße Vemunftidee aufgestellt hatten :i) das berühmte pac-
tmn originarium, von welchem Kant im § 52 (auch schon
§ 41, A) spricht. Was dem „Geist jenes ursprünglichen
Vertrags“ widerspricht, was mit dieser „Idee nicht wohl
vereinbar ist“, ist widerrechtlich und muß abgeschafft
werden.
Mit dieser Vertragsfiktion hängt auch die Fiktion
eines allgemeinen Willens zusammen: Kant führt
diesen „allgemein- vereinigten Willen“ (auch „Volkswillen“
genannt) ein in den §§ 34, Anm., 39, 41, 49 A,; D, 51 u. ö.
1) Wo, wie nicht selten, in den sekundären Darstellungen sich eine
andere Darstellung der Vertragsidee bei den Vorkantianern findet, be-
ruht die Darstellung entweder auf irriger Interpretation der betref-
fenden Texte, oder auch auf Unklarheiten jener vorkantischen Autoren,
welche gelegentlich nicht scharf genug zwischen Fiktion und Hypothese
unterschieden.
810
Dritter Teil: Historische Bestätigungeu.
Die Idee dieses allgemeinen Willens wird in folgendem
Regulativ (§49 D) ausgedrückt: „Was das Volk (die
ganze Masse der Untertanen) nicht über sich selbst und seine
Genossen beschließen kann, das kann auch der Souverain
nicht über das Volk beschließen“ =-= „die Idee eines
allgemein-gesetzgebenden Willens“ (§ 41).
Auf fiktiver Grundlage benüit auch der Eid. Über ihn
äußert sich Kant im § 40^ wozu man den „Beschluß“
der „Tugendlehre“ nach § 53 hinzuziehen muß — die
Athener vertrieben den Prota^oras als Gotteszweifler :
„hierin taten ihm die Richter von Athen als Menschen
zwar sehr unrecht, aber als Staatsbeamte und Richter ver-
fuhren sie ganz rechtlich und konsequent; denn wie hätte
man einen Eid schwören können, wenn es nicht öffent-
lich und gesetzlich, von hoher Obrigkeit wegen
(de par le Senat) befohlen wäre; daß es Götter
gebe“. Der Glaube an Götter, an Gott ist also eine offi-
zielle Fiktion, als Grundlage des Eides, ohne welchen die
Justiz nicht auskommen kann. Es ist zwar „an sich“
„im Grund unrecht“, die Staatsbürger zum Eid zu
zwingen; aber „dieser Geisteszwang, diese tortura Spiri-
tus“ ist ein unentbehrliches „Notmittel“ für die Justiz,
dem sich kein Staatsbürger entziehen darf; denn „von der
Religion muß vorausgesetzt werden, daß sie jeder habe“,
d.h. ein jeder muß seine Pflichten für so heilig ansehen,
als ob sie ihm ein Gott befohlen habe; man schwört „auf
den Fall, daß ein Gott wäre“ : „in diesem Sinne mögen
wohl alle redlich und zugleich mit Besonnenheit ab-
gelegten Eide getan worden sein“. Bestimmter hat sich
Kant, in seinem Opus Postumum hierüber ausgesprochen.
Die „Tugendlehre“ (1797), der II. Teil der „Meta-
physik der Sitten“, beginnt (Einl. II) mit der Aufstellung
des fiktiven ,„Ideals des Weisen“ : „Die Tugend wird als
ein Ideal, dem man stets sich annähern müsse, unter dem
Namen des Weisen dichterisch personifiziert“; eine
weitere Ausgestaltung dieser Fiktion folgt dann im Ab-
schnitt XIV : „die Tugend, in ihrer ganzen Vollkommen-
heit betrachtet, wird vorgestellt, nicht wie der Mensch
die Tugend, sondern als ob die Tugend den Menschen
besitze“; „der Ausdruck, der Tugend und Toaster ver-
persönlicht, ist eine ästhetische Maschine-
Prinzip. Ausführ. i. d. ethisch-religionssophischenGrundwerken. 311
rie . . daher ist eine Ästhetik der Sitten zwar nicht ein
Teil, aber doch eine subjektive Darstellung der
Metaphysik derselben“.
Zu dieser „ästhetischen“ Maschinerie gehört nun auch
die Gottesidee; von ihr ist schon ganz am Anfang, in der
gemeinschaftlichen Einleitung zir der Metaphysik der
Sitten (IV, am Schluß) die Rede: „das Gesetz, was uns
a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft ver-
bindet, kann auch aus dem Willen eines höchsten Gesetz-
gebers, d. i. eines solchen, der lauter Rechte und keine
Pflichten hat (mithin dem göttlichen Willen), hervorgehend
ausgedrückt werden, welches aber nur die Idee
von einem moralischen Wesen bedeutet, dessen Wille für
alle Gesetz ist, ohne ihn doch als Urheber des-
s e 1 b e n z u denken“ — also nur um eine Ausdrucks-
weise handelt es sich dabei, um eine fa^on de parier, um
eine „heuristische Fiktion“.
Ganz am Schluß der Einleitung zur Rechtslehre heißt
es daher weiter: eine eigentliche Pflicht gegen jenes
höchste moralische Wesen kann es daher auch nicht
geben, „weil es eine transzendente Pflicht sein würde, d. i.
eine solche, der kein äußeres verpflichtendes Subjekt
korrespondierend gegeben werden kann, mithin das Ver-
hältnis in theoretischer Rücksicht hier nur ideal, d. i.
zu einem Gedankending ist“; dieses Gedankending
„machen [von Kant selbst gesperrt] wir uns selbst“,
aber „nicht durch einen leeren, sondern, in Beziehung auf
uns selbst und die Maximen der inneren Sittlichkeit,
mithin in praktischer innerer Absicht, fruchtbaren
Begriff“; daher „besteht denn auch unsere ganze imma-
nente (ausführbare) Pflicht in diesem bloß gedachten
Verhältnis allein“, d. h. der edle, besser geartete Mensch
faßt die Sittlichkeit als Pflicht auf, d.i. als ob sie
durch ein heiliges Wesen ihm geboten wäre.
In diesem Sinne ist es auch selbst eine Pflicht des
Menschen, Religion zu haben, nämlich eben „die Erkennt-
nis aller unserer Pflichten als (instar) i) göttlicher Gebote“
zu haben. Aber, wie der § 18 sagt, dieses ist eiiiei Pflicht
Instar, urspr. ad instar = nach dem Bilde, nach der Analogie
von . . .
312
Dritter Teil: Historische Destätigungen.
gegen uns selbst, nicht aber „das Bewußtsein einer Pflicht
gegen Gott. Denn da diese Idee ganz aus unserer
eigenen Vernunft hervorgeht und . . . von uns
selbst gemacht (von Kant selbst gesperrt) wird, so
haben wir hierbei nicht ein gegebenes Wesen vor uns,
gegen welches ims Verpflichtung obläge . . ., sondern es
ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst, diese unum-
gänglich der Vernunft sich darbietende Idee auf das
moralische Gesetz in uns, wo sie von der größten sitt-
lichen Fruchtbarkeit ist, anzuwenden. In diesem
(praktischen) Sinn kann es also heißen : Religion zu
haben, ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst“.
In diesem Sinne betrachtet der Mensch sein Gewissen
auch als ein anderes, höheres Wesen in sich selbst
(§ 13) : „Das Gewissen des Menschen wird sich bei allen
Pflichten einen anderen, als sich selbst zum Richter
seiner Handlungen denken müssen . . . dieser andere mag
nun eine wirkliche oder bloß ideal ische Person sein,
welche die Vernunft sich selbst schafft. Eine
solche idealische Person (der autorisierte Gewissensrichter)
muß ein Herzenskündiger sein; denn der Gerichtshof ist
im Innern des Menschen aufgeschlagen“ (daher heißt es
auch im § 9: „der innere Richter, der als eine andere
Person gedacht wird“); „zugleich muß er aber auch
allverpflichtend, d. i. eine solche Person sein oder als
eine solche gedacht werden, im Verhältnis auf welche
alle Pflichten überhaupt auch als ihre Gebote anzu-
sehen sind“. „Dieses will nun nicht soviel sagen, als:
der Mensch durch die Idee, zu welcher ihn sein Ge-
wissen lunvermeidlich leitet, sei berechtigt, noch
weniger aber: er sei durch dasselbe verbunden, ein
solches höchstes Wesen außer sich als wirklich
anzunohmen; denn sie (jene Idee) wird ihm nicht
objektiv, durch theoretische, sondern bloß subjektiv,
durch praktische sich selbst verpflichtende Vernunft, ihr
angemessen zu handeln, gegeben; und der Mensch
erhält vermittels dieser, nur nach der Analogie mit
einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen, eine
bloße Leitung, die Gewissenhaftigkeit, welche auch
religio genannt wird, als Verantwortlichkeit vor einem,
von uns selbst unterschiedenen, aber uns doch innigst
Prinzip. Ausführ. i. d. ethisch-religionssophisclien Grundwerken. 313
gegenwärtigen heiligen Wesen . . . sich vorzustellen
und dessen Willen sich als Regel der Gerechtigkeit zu
unterwerfen. Der Begriff von der Religion überhaupt ist
hier dem Menschen bloß ein Prinzip der Beurtei-
lung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote.“ Also
mit anderen Worten : die Gottesidee ist nur ein regulatives
Prinzip, eine heuristische Fiktion.
Schließlich gipfelt die Fiktion der Gottesidee in der
Vorstellung Gottes als des strafenden Weltrichters; wie es
in derselben „Schlußanmerkung“ heißt, wird die Idee einer
göttlichen Strafgerechtigkeit hier personifiziert; es
ist nicht ein besonderes richtendes Wesen, was sie aus-
übt (demi da würden Widersprüche desselben mit Rechts-
prinzipien Vorkommen), sondern die Gerechtigkeit, gleich
als Substanz . . . spricht das Recht . . Es handelt sich
also um „die bloße Gerechtigkeit, als überschwengliches
einem übersinnlichen Subjekt angedachtes Prinzip“.
Als real kann ein solches Wesen aber, das als Weltrichter
zugleich Weltschöpfer sein müßte, nicht angenommen wer-
den i); denn dies „scheint den Prinzipien der praktischen
Vemmrft zu widersprechen, nach welchen eine Welt-
schöpfung hätte unterbleiben müssen, die ein der Absicht
ihres Urhebers, die nur Liebe zum Grunde haben kann,
so widerstreitendes Produkt geliefert haben würde“ —
eine von Ed. v. Hartmann übersehene Stelle, der nicht
ganz mit Unrecht Kant als „Vater des Pessimismus“ dar-
gestellt hat. —
Aber ist es denn nun nicht vom ethischen Standpunkt
aus eine verwerfliche Lüge, in der bisher geschilderten
Weise von einem „Glauben an einen künftigen Welt-
richter“ zu sprechen, dessen Realität man doch nicht an-
nimmt? Diese wichtige Frage hat Kant im § 9 behan-
delt“^), in welchem er zwischen dem notwendigen Ver-
nunftglauben an die Gottesidee und der Lüge des Heuch-
lers eine haarscharfe Grenze zieht. Lüge ist es, wenn
jemand „sich überredet, es könne doch nicht schaden,
1) Natürlich darf auch, wie es bei Kant in der zugehörigen Fußnote
heißt, die Idee des künftigen Lebens „nicht einmal als Hypothese
eingemischt werden“: es handelt sich auch bei dieser Idee um ein
regulatives Prinzip, um eine heuristische Fiktion.
2) Vgl. auch den Schluß des „Ewigen Friedens in der Philosophie“.
314-
Dritter Teil : Historische Bestätigungen.
wohl aber nützen, einen solchen künftigen Weltenrichter
in Gedanken als Herzenskündiger zu bekennen, um aut
allen Fall seine Gunst zu erheucheln“. Lüge ist es, wenn
jemand „sich mit innerer Verehrung des Sittengesetzes
schmeichelt, da er doch keine andere Triebfeder als die
der Furcht vor Strafe bei sich fühlt“. In einem solchen
ist die Idee eines ethischen Gesetzgebers nicht wirksam,
daher auch nicht „wirklich“, und von einem solchen
kann man mit Fug sagen, daß „er den Glauben an einen
künftigen Weltrichter lügt, indem er wirklich keinen
solchen in sich findet“ : denn der wahrhaft sittliche
Mensch findet diesen Glauben in dem Sinne „wirklich“
in sich, daß dieser Glaube in ihm wirksam ist, derart,
daß ihm das Sittengesetz so heilig ist, als ob es ein gött-
licher Gesetzgeber gegeben hätte. Und in diesem Sinne
glaubt er innerlich an Gott. Eine „innere Lüge“ begeht
aber der, dem das Sittengesetz eine lästige Fessel ist,
der aber sich mid seinem Gott Vormacht, er liebe das
Sittengesetz. Wem aber im rechten Sinne der Vernunft
und Verniinftkritik das Sittengesetz so heilig ist, als ob
es ein göttliches Gebot wäre, der hat den philosophischen
inneren Gbauben an Gott, olme sich, wie jener Schächer,
selbst zu belügen. Und wer nun diesen wahren, inneren
Glauben an Gott hat, der kann auch nach außen hin] mit
Fug sagen, er glaube an Gott, ohne damit eine „äußere
Lüge“ zu begehen. Eine „äußere Lüge“ begeht aber der,
der den Namen Grottes im Munde führt, dem aber Gott
nicht der heilige Gesetzgeber des die ganze Geisterwelt
umfassenden Sittengesetzes ist, sondern der willkürliche
launische Tyrann, dessen Gunst er zu seinem Privatvorteil
erschmeichelt; wenn dieser nun von einem heiligen Gott
spricht, so „glaubt er nicht, was er einem anderen sagt“,
und ein solcher Lügner „verletzt die Würde der Mensch-
heit in seiner eigenen Person“. —
Nachlese aus Kants nachgelassenen Papieren.
Kants Opus Postum um „verdient weder die Überschätzung
noch die Unterschätznng, welche ihm von entgegengesetzten Seiten
aus zu Teil geworden ist“ — dieses Urteil findet man näher begründet
im Arch. f. Gesch. d. Philos., 1889, Bd. IV, 732—736. Daselbst ist auch
Nachlese aus Kants nachgelassenen Papieren.
315
nachgewiesen worden, daß in dem nachgelassenen Manuskript zwei
verschiedene unvollendete Werke Kants stecken :
1. Übergang von den metaphysischen Aiifangsgründen der Naturwissen-
schaft zur Physik, 2. System der reinen Philosophie in ihrem Zu-
sammenhange.i) Beide Werke sind promiscue beisammen und sind
auch in dieser Form (leider unvollständig) publiziert von R. Reiche
in der Altpreuß. Monatsschrift 1881 — 1884, Bd. XIX, XX, XXL Hierin,
besonders im Bd. XXI, finden sich nun sehr bemerkenswerte Stellen.*)
Im XIX. Bd. finden sich S. 572 — 578 und 620 selm wichtige Äuße-
rungen, aus denen hervorgeht, daß Kant das Ding an sich als
Fiktion und überhaupt die ganze Trennung von Erschei-
nung und Ding an sich als eine fiktive erkannt hat
„Der Gegenstand in der Erscheinung , . . geht aus der synthetischen
Vorstellung... hervor“; „das Ding an sich ist ein iGedankending (ens
rationis) der Verknüpfung dieses mannigfaltigen Ganzen zur Einheit,
zu welcher sich das Subjekt selbst konstituiert. Der Gegenstand an
sich~x ist das Sinnenobjekt an sich selbst, aber nicht als ein
anderes Objekt, sondern eine andere Vorstellungsart“ (573). In diesem
Sinne nennt Kant das Wahrnehmungsding „ein Ganzes der Anschau-
ung, welches objektiv bloß Erscheinung ist, dem der Gegenstand
als Ding an sich lediglich in der Idee korrespondierend gedacht
wird“ (572). „Das Ding an sich ist nicht ein anderes Objekt,
sondern eine andere Art, sich selbst zum Objekt zu machen, nicht
objectum nournenon, sondern der Akt®) des Verstandes, der das
Objekt der Sinnenanschauung zum bloßen Phänomen macht, 3) ist
das intelligible Objekt“ (ib.). „Die transzendentale Vorstellungsart ist
in der Anschauung als Erscheinung, die transzendente die des Objekts
als Ding an sich, welches nur ens rationis, d. i. nur Ge-
danken ding ist und nicht objektiv, sondern nur
subjektiv bestimmend ein conceptus infinitus (indefinitusj ist“
(577). „Das Ding an sich = x ist bloß Gedankending, ens rationis
ratiocinantis“ (578).
Diese äußerst interessanten Stellen enthalten eine sehr wichtige
Weiterbildung der Kantischen Ding-an-sich-Lehre, luid sie bestätigen
1) Der Titel dieses zweiten Werkes wird von Kant in den verschie-
densten Entwürfen variiert. Der merkwürdigste der geplanten Titel
lautet: „Zoroaster oder die Philosophie im Ganzen ihres Inbegriffs
unter einem Prinzip zusammengefaßt; so Bd. XXI, 418 una 313, vgl.
314, 381, 405 und bes. 311 : „Zoroaster: das Ideal der physisch
und zugleich m.oralisch-praktischen Vernunft in einem Sinnen-Objekt
vereinigt“. Es ist merkwürdig, daß Kant das Bedürfnis hatte, seine
Lehren einer solchen Idealfigur sozusagen in den Mund zu legen; noch
merkwürdiger, daß er, wie Nietzsche, den Zoroaster dazu ausersah; am
merkwürdigsten, daß, als dieser Entwurf ans Licht trat, 1884, gerade
um dieselbe Zeit Nietzsche seinen Zarathustra schrieb. Daß Kant und
Nietzsche gerade in der Als-Ob-Lehre sich berühren, wird unten
erwiesen werden.
*) Die hierher gehörigen Stellen stammen fast alle aus dem zwei-
ten Werke, das viel wichtiger ist als das erste.
3) Von Kant selbst gesperrt.
316
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
in merkwürdiger Weise die Auffassung dieser Lehre, wie sie, außer
von dem Verfasser, von einem großen Teil der Neukantianer, insbe-
sondere auch seitens der sog. Marburger Schule, ferner seitens Windel-
bands und Rickerts vertreten wird. Daß es sich bei den obigen Äuße-
rungen Kants nicht um vorübergehende Einfälle handelt, dafür ist der
beste Beweis, daß nun derselbe Standpunkt in den im Bd. XXI von
Reicke publizierten Entwürfen häufig und womöglich noch stärker und
deutlicher wiederkehrt, und zwar S. 549 — 568, 582 — 599.
„Dem Begriff eines Gegenstandes als Erscheinung ist der Begriff
eines D. a. s. [als] sein Gegenstück (pendant) = x notwendig gegen-
übergestellt, aber nicht als eines von jenem unterschiedenen Objekts
(realiter), sondern bloß nach Begriffen (logice oppositum; . . . was bloß
subjektiv als objectum noumenon ein Glied der Einteilung ausmacht.
Dieses Noumenon ist aber nichts weiter als eine Ver-
nunftvorstellung“... „das den Dingen an sich korrespon-
dierende ist nicht ein absonderliches Gegenstück, . . . sondern ebendas-
selbe, aber aus einem anderen Gesichtspunkt betrachtet. Das
Noumenon im Gegensatz mit dem Phänomenen ist das durch den Ver-
stand gedachte Objekt in der Erscheinung, insofern es ein Prinzip der
Möglichkeit synthetischer Sätze a priori in sich enthält . . .“ (567, näher
erläutert 568). „Die Gegenstände müssen als Erscheinungen, nicht als
Sachen an sich betrachtet werden, wenn die Besünunung dieses
Mannigfaltigen a priori stattfinden soll“ (582/3). „Die Gegenstände sind
Vorstellungen in der Erscheinung und der Unterschied von D. a. s. ist
nicht ein Unterschied der Objekte als D. a. s., sondern nur ein
szientifischer (idealer) für das Subjekt, nicht das
Objekt“ (585). „Phänomenen, welchem sein Gegenstück (Noumenon)
nicht als ein besonderes Ding, sondern als Akt des Verstandes = x
korrespondiert, der außeir dem Verstände gar nichts als bloß ein Objekt
überhaupt ist und nur im Subjekt selbst ist“ (599).
Das ist deutlich, recht deutlich. Die Einteilung in Erscheinungen
und Dinge an sich ist also ein bloßer „Standpunkt“, „Gesichts-
punkt“, nur „subjektiv“, „ideal“, „szientifisch“ — also nur eine
heuristische Fiktion „zum Behuf“ der „Betrachtung“. Das
Ding an sich ist von Kant klar und Unzweideutig als Fiktion erkannt
und anerkannt, als eine für die Vernunft zweckmäßige und notwendige
Betrachtungsweise, als Produkt bewußt-fiktiver Abstraktion,
wobei die äq>ctiQeatg nicht zum ^wQio^bg werden darf also eben
als — Fiktion und sonst nichts. — —
In demselben Bande XII, 310 ff., finden sich nun auch fast un-
zählige Stellen, in denen die fiktive Natur des Gottes-
begriffes in inuner neuen, teilweise immer treffenderen Varia-
tionen behauptet wird. Es ließen sich viele Seiten damit füllen: wir
können hier nur das Nötigste reproduzieren; auf dogmatisch klingende
Stellen nelunen wir auch hier keine Rücksicht, es sind aber deren sehr
wenige zu finden.
Wir beginnen mit der drastischen Stelle S. 325: „Das Prinzip der
Erkenntnis aller Menschenpflichten als (tanquam) allgültiger Ge-
bote, d. i. in der Qualität eines höchsten, heiligen und machthabenden
Gesetzgebers erhebt das . . . Subjekt zu dem Range eines einigen
machthabenden Wesens: d. i. aus der Idee, die wir uns
Nachlese aus Kants nachgelassenen Papieren. 317
von Gott selbst denken, kann zwar nicht die Existenz eines
solchen Wesens, aber doch gleich als eines solchen Wesens ge-
folgert (werden), aber doch mit gleichem Nachdruck, als ob ein
solches dictamen rationis in Substanz mit imserem Wesen
verbunden wäre . . . Der . . . Satz: es ist ein Gott, muß im
moralisch-praktischen Verhältnis ebenso verehrt und befolgt werden,
als ob er von dem höchsten Wesen ausgesprochen wäre, obzwar . . .
die Erscheinung eines solchen Wesens zu glauben oder auch nur zu
wünschen ein schwärmerischer Wahn sein würde, Ideen für Wahr-
nehmungen anzunehmen.“ Und in demselben Sinne heißt es S. 331 :
„Diesem Prinzip zufolge können alle Menschenpflichten zugleich
a 1 s göttliche Gebote ausgesagt werden, und zwar dem For-
malen desselben nach, wenn auch keine solche die Vernunft be-
stimmende Ursache als Substanz angenommen würde, und in prak-
tischer Rücksicht ist es völlig einerlei, ob man die Göttlichkeit des
Gebots in der menschlichen Vernunft oder auch einer solchen Person
zum Grunde legt, weil der Unterschied mehr eine Phraseo-
logie, als eine das Erkenntnis erweiternde Lehre ist“. Der Unter-
schied, daß die Pflicht eben als Gebot eines Gottes angesehen wird,
bringt nicht eine synthetische Erweiterung unserer Erkenntnis
hervor, sondern nur eine analytische Erläuterung der Heiligkeit,
des Pflichtgesetzes als Vernunftgebols. Diese beachtenswerte Formulie-
rung fanden wir schon früher. Eine andere, sehr treffende Wendung
für denselben Gedanken gebraucht Kant S. 153: Durch jene analogische
Vorstellungsweise werde wohl die Aussicht erweitert, nicht aber
die Einsicht. „Es ist hierbei nicht tunlich, die
Existenz einer Substanz von dieser Qualität an-
z u n e h m e n“ (369). „Gott ist also keine außermir be-
findliche Substanz (von Kant selbst gesperrt), sondern bloß
ein moralisches Verhältnis in mir“ (414) — letztere ‘Bestimmung:
Gott ist keine Substanz, sondern ein Verhältnis, und dazu noch
in mir, ist ganz besonders deutlich; es handelt sich bei diesem
Begriff also nur um' ein Verhältnis des handelnden .Teiles' zum
gebietenden Teile meiner Vernunft.
Weitere Hauptstellen : „der kategorische Imperativ setzt nicht
eine zu oberst gebietende Substanz voraus, die außer mir
wäre, sondern ist ein Gebot oder Verbot meiner eigenen Vernunft.
Demungeachtet ist er doch a 1 s von einem Wesen ausgehend, was
über alle unwiderstehliche Gewalt hat, anzusehen“ (570); „der
kategorische Imperativ stellt die Menschenpflichten a I s göttliche
Gebote vor, nicht historisch, als ob (ein göttliches Wesen) jemals
gewisse Befehle an Menschen habe ergehen lassen, sondern wie
die Vernunft sie . . . gleich einer göttlichen Person . . . strenge
gebieten kann“ (571) ; „die idealische Person, die den Akt
der höchsten Autorität ausübt, Gott“, ist nicht eine „vom Menschen
verschiedene Substanz“; daher „ob ein Gott (in Substanz) sei oder
nicht sei, darüber kann es keine Streitfragen geben: denn es ist
kein Gegenstand des Streits (objectum litis). Es sind nicht
existierende Wesen, "um deren Beschaffenheit gestritten werden dürfte.
8J8
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
außer dem urteilenden Subjekt, sondern eine bloße Idee^) der
reinen Vernunft, die ihre eigenen Prinzipien examiniert“. Dies nennt
Kant (ib. 571) im Gegensatz zur „technisch-praktischen“ Betrachtung,
welche einen wirksamen Gott in der Natur annimmt, die „prag-
matisch- moralische“ Betrachtungsweise — also wieder eine Ante-
zipation des „Pragmatismus“ selbst im Ausdruck. Weiter: „die
Existenz eines solchen Wesens kann nur in praktischer Rücksicht
postuliert werden, nämlich die Notwendigkeit zu handeln, a 1 s
0 b ich unter dieser furchtbaren, zugleich aber auch heilbringenden
Leitung und zugleich Gewährsleistung stünde in der Erkenntnis aller
meiner Pflichten a 1 s göttlicher Gebote (tanquam, non ceu),
mithin wird in dieser Formel die Existenz eines
solchen Wesens nicht postuliert, welches auch in
sich widersprechend sein würde“ (613) ; die Annahme
widerspruchsvoller imd doch praktisch-nützlicher Begriffe macht eben,
wie wir wissen, das Wesen der echten Fiktion aus, die auch in
folgenden Worten ausgedrückt ist: „in ihr, der Idee von Gott,
als moralischem Wesen, leben, weben und sind wir, angetrieben
durch Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote. Der Begriff
von Gott ist die Idee von einem moralischen Wesen, welches als
ein solches richtend, allgemein gebietend ist. Dieses ist nicht
ein hypothetisches Ding, sondern die reine praktische
Vernunft selbst . . .“ (613/4). „Zum kategorischen Imperativ wird
keineswegs erfordert, daß eine Substanz existiere, deren Pflichten
auch jene ihrer Gebote sind, sondern (wenn wir die Pflichten als gölt-
liche Gebote betrachten, so wird darunter) nur die Heiligkeit und Un-
verletzlichkeit derselben verstanden“ (614). Es ist „bloß ein Urteil nach
der Analogie, nämlich alle Menschenpflichten gleich als gött-
liche Gebote zu denken“ (ib.). „Die Idee von einem solchen Wesen,
vor dem sich alle Knie beugen usw., geht aus dem kategorischen
Imperativ hervor, und nicht umgekehrt, und subjektiv in der
menschlichen praktischen Vernxmft ist ein Gott notwendig gedacht,
obgleich nicht objektiv gegeben ; liierauf gründet sich der Satz
der Erkenntnis aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote“ (615;.
Das „Ens summum ... ist ein Ens rationis ... Es ist nicht eine
Substanz außer mir . . ., sondern der Pflichtbegriff eines allgemeinen
praktischen Prinzips ist identisch im Begriffe eines göttlichen Wesens
als Ideals der menschlichen Vernunft enthalten“ (616 ;.
Diese „gesetzgeberische Gewalt gibt diesen Gesetzen Nachdruck,
obzwar nur in der Idee“ (617/8). Denn es handelt sich um
Gebote, „die das Subjekt sich selbst vorschreibt, und doch gleich
a l s o b ihm ein anderer und Höherer sie als Person dem Subjekt
1) Bei Kant findet sich in bezug auf die Ideen (Gott, Freiheit
und Unsterblichkeit) die radikal-fiktive Unterströmung vermischt mit
der konservativ-metaphysischen Auffassung. Nicht selten wird in
einem und demselben Satzgefüge die radikale These durch meta-
physische Wendungen in entgegengesetzt gerichtetem Sinne ‘abge-
schwächt. Im Interesse der Klarheit und Kürze werden hier öfters
solche Einschränkungen weggelassen, diese Weglassungen sind aber
durch Punkte deutlich gekennzeichnet.
Nachlese aus Kants nachgelassenen Papieren. 319
zur Regel machte" (619). „Man kann aber am Menschen das
Diktamen der Vernunft in Ansehung des Pflichtbegriffs überhaupt
das Erkenntnis seiner Pflichten als (tanquam, non ceu) göttlicher
Gebote sich vorstellig machen, weil jener Imperativ herr-
schend und absolut gebietend, mithin als einem Herrscher gebührend,
mithin einer Person zukommend vorgestellt wird: das Ideal
einer Substanz, welches wir uns selbst schaffen“ , —
diese Worte stehen am Schluß (620) der von Reicke 1884, publizierten
Blätter, in denen dasselbe imd ähnliches unzähligemal wiederholt wird.
Endlich wirft Kant die kühne Frage auf: „Ob Religion ohne Vor-
aussetzung des Daseins Gottes möglich ist?“ *(619), una 'antwortet:
„Religion ist nicht der Glaube an eine Substanz von besonderer Heilig-
keit, Rang und Obergewalt, bei der man sich durch Einschmeichelung
Gunst erwerben und Gunst verschaffen kann“ (410), sondern „Reli-
gion ist Gewissenhaftigkeit (mihi hoc religioni), die Heiligkeit der
Zusage Und Wahrhaftigkeit dessen, was der Mensch sich selbst
bekennen muß. Bekenne dir selbst. Diese zu haben, wird nicht
der Begriff von Gott, noch weniger das Postulat: es ist ein Gott,
gefordert“ (370) — natürlich als Dogma, denn als Idee hält ja Kant
den Gottesbegriff fest; und in diesem Sinne heißt es 610: „das
Prinzip der Befolgung aller Pflichten a 1 s göttliche Gebote ist Reli-
gion“, denn „alle Menschenpflichten a 1 s göttliche Gebote vor-
zuschreiben, liegt schon in jedem kategorischen Imperativ“ (614).
Kant sieht darin einen berechtigten „Anthropomorphismus“ (356),
und in diesem Sinne heißt es: „der moralische Imperativ kann
also als die Stimme Gottes angesehen werden“ (577, vgl. 414^.
Viele Male wird diese Wendung in dem Opus Postumiim wiederholt:
so an sehen, ebenso: so beurteilen, so vorstellen, so betrachten, so
denken zu praktischem Behuf usw.
Eine praktisch außerordentlich wiclitige Konse-
quenz, welche Kant aus seinen Aufstellungen zieht, mag den Be-
schluß machen. Es gibt bekanntlich nur einen einzigen Fall, wo der
so Denkende über seine Gedanken, die er in Wort und Schrift äußert,
im bürgerlichen Leben zu einer Handlmig genötigt wird, welche den
Gottesbegriff direkt fordert, den E i d. Kann der so Denkende noch
einen vom Staat geforderten Eid (als Zeuge, als Sachverständiger,
als Beamter, als Abgeordneter usw.) leisten? Hierauf antwortet Kant
— nach kurzer Überlegung S. 383 — unbedenklich und konsequent
mit einem lauten klaren .Ta: „Man kann bei Gott schwören,
ohne sein Dasein einzuräumen. Bei Gott schwören, ohne
sein Dasein einzuräumen (zu behaupten), bedeutet nur Gewissen-
h a f t i g k e i t“, „bedeutet nichts weiter als gewissen-
hafte Beteuerung“; „juro i. e. per Deum testem .affirmo.
Dadurch weiß ich nicht, daß Gott sei schlechthin. Ich nehme es auf
mein Gewissen, wenn ich unwahr spreche, ein Lügner zu heißen“
414, 416, 417. Und zur Erläuterung fügt Kant noch hinzu: jurare
ist ju orare, ju ist Jehova, Jupiter, vor dem das Innere aufgedeckt
ist, der „Herzenskündiger“. Nun eben dieser ,,Herzensküadiger“,
von diesem spricht Kant oft, z. B. 577, als einer notwendigen Idee
unserer Vernunft; auf ihn als „oberste Idee“ zielt ja eben die ganze
Als-Ob-Retrachtung ab, die wir von Anfang bis hierher verfolgt haben.
320
Dritter Teil : Historische Bestätigungen.
„Gott* ist eine zweckmäßige, eine notwendige Idee, und Ideen sind
„heuristische Fiktionen“, Als-Ob-Betrachtungen. Kant und diejenigen,
die so, wie er geartet sind, handeln, als ob ein solcher Gott
sie richte; das ist ihr Glauben an Gott, das ist Üer „praktische
Glauben“ an einen Gott.
b;
Forberg, der Urheber des Fichteschen Atheismus-
streites und seine Religion des Als-Ob.
Die überwältigende Menge von Stellen aus Kant,
welche vorstehend mitgeteilt und besprochen sind, be-
weisen zur Genüge, daß die Als-Ob-Betrachtung bei
Kant eine außerordentlich große Rolle gespielt hat. Man
hat diese Seite Kants bis jetzt fast ganz übersehen, und
wo die x\ls-0b-Lehre Kants flüchtig berührt worden ist
(z. B. bei Volkelt, Ree, Görland), hat man sie nur auf
die eigentliche Ideenlehre bezogen, ohne zu ahnen, daß
bei Kant diese Betrachtungsweise auch in seinen reli-
gionsphilosophischen, ethischen, juristischen, sowie in
seinen naturphilosophischen und mathematischen Anschau-
ungen eine entscheidende Bedeutung besitzt.
Unsere Darstellung lehrt speziell in bezug auf die
Religionsphilosophie einen ganz anderen Karit kennen, als
den traditionellen, auf der einen Seite einen viel radika-
leren, auf der anderen Seite einen viel konservativeren,
als den bisher üblichen. Kant offenbart sich uns als
theoretischer Nicht Theist in dem Sinne, daß ihm die
Existenz eines höchsten Geistes usw., im üblichen Sinne
des Existierens, nicht allein nicht wahrscheinlich, son-
dern höchst unwahrscheinlich, ja direkt unglaubhaft bis
zur Unmöglichkeit wird. Die Stellen, welche hierüber
oben mitgeteilt worden sind, bewegen sich vom Unwahr-
scheinlichen bis zum Unmöglichen in verschiedenen Ab-
stufungen, unter Vermeidung des üblichen sonstigen be-
liebten Ausweges des Agnostizismus, welcher lehrt, das
Gebiet der Dinge an sich sei unbekannt, dieses unbekannte
Gebiet könnte aber wohl eine Welt von Geistern mit
einem höchsten Geist an der Spitze sein. Ein solcher
Agnostizismus, der sich sonst wohl bei Kant findet, und
den die meisten seiner Schüler eingeschlagen haben,
Forbeig, der Urheber des Fichteschen Atlieismusstreites iisw, 321
erscheint als ein schwächlicher Kompromiß gegenüber
dem Radikalismus der mitgeteilten Stellen, in denen Kant
seinen Sitz auf der äußersten Linken des philosophischen
Parlaments nimmt: ihm sind alle transzendenten Vor-
stellungen nichts als „selbstgemachte Ideen“, ideaeanobis
ipsis factae, daher ideae fictae. Diese radikale Strömung
des Kantischen Denkens ist in den oben mitgeteilten
Stellein ganz und voll zur Geltung und zum Vorschein ge-
kommen. Kant ist daher auch viel radikaler als die
Pantheisten; deren schwärmerische, mystische, unklare
Vorstellungsweise ihm überhaupt zuwider war; auch
seinem von E. v. Hartmann mit Recht auf gedeckten Pessi-
mismus, sowie seiner Lehre vom radikalen Bösen wider-
spricht der Pantheismus durchaus. Kant ist viel radi-
kaler: er erkennt, daß die Vorstellungen einer transzen-
denten Welt, daß der ganze, sie betreffende Begriffs-
apparat aus von uns selbstgemachten Ideen besteht, und
daraus zieht er furchtlos und seiner Bestimmung als Philo-
soph getreu alle Konsequenzen. Man nennt diese Konse-
quenzen negative, obgleich sie nichts enthalten, als die
Position der gegebenen Wirklichkeit und nur sie, den
puren Positivismus.
Aber auf der anderen Seite offenbaren uns die oben
mitgeteilten Stellen einen viel konservativeren Kant, als die
übliche Darstellung will. Kant, der Vernunftphilosoph, der
Aufklärungsdenker, tritt ein für die „Zulässigkeit“, ja
„Schicklichkeit“ solcher religiöser Vorstellungen, welche
dem traditionellen Aufklärer wegen ihrer Absurdität ein
Greuel sind, so die jungfräuliche Geburt Christi, die
Genugtuungsidee, die Idee eines Jüngsten Gerichts. Für
Kant sind diese Vorstellungen ein zweckmäßiges päd-
agogisches Mittel, eine „ästhetische Maschinerie“ zur Be-
lebung und Förderung moralischer Antriebe, eine sinnlich-
poetische Einkleidung der starren Pflichtgebote „zu prak-
tischem Behuf“. Aber ganz in dieselbe Kategorie, in die
Kategorie des Als-Ob, gehören ihm auch überhaupt
alle Vorstellungen einer transzendenten Welt, und nur
von diesem Gesichtspunkt aus ist nun eben auch Kants
berühmter „moralischer Gottesbeweis“ zu betrachten, näm-
lich eben auch als eine Als-Ob-Betrachtung zu
praktischem Behuf. Nicht die Realität, d. h. der Exi-
Vaihinger, Philosophie. 21
322
Dritter Teil: Historische BesLütigungen.
stentialwert der Gottesidee wird darin von Kant be-
wiesen, sondern die Realität, d. h. die ethische Bedeu-
tung und Gültigkeit, also der Moralwert der Gottesidee.
Um die Idee Gottes handelt es sich für den echteui Kriti-
zismus, und nur um die Idee. Diese will Kant nicht
fallen lassen, vielmehr: er kann sie nicht fallen lassen, weil
sie in dem kategorischen Imperativ immanent enthalten ist,
nach seiner Schulsprache: analyt'sch. Kant lehrt nicht bloß :
du sollst so handeln, als ob die Pflichten göttliche Ge-
bote wären; sondern er lehrt: wer überhaupt sittlich
handelt, der handelt schon von selbst so, als ob ein
Gott ihm jene Handlungsweise vorgeschrieben habe. Und
daraus eben folgt wieder die Maxime: wenn du sittlich
handeln willst, so mußt du so handeln, als ob ein
Gott, als ob dein Gott dir das befohlen hätte.
In der ganzen Zeit von Kants Auftreten an bis auf die
Gegenwart haben nur sehr wenige gewußt, daß dies der
echte Kant ist : Manche — sowohl Anhänger als Gegner —
haben es mehr oder minder klar herausgespürt; manche
haben es wohl gemerkt, aber nicht gewagt, es offen
herauszusagen. Jedenfalls ist der einzige, der Kants echte
Lehre in dieser Hinsicht erkannt und dargestellt hat, For-
berg gewesen.
Der Name Forbergs ist in der Geschichte der Philo-
sophie wohlbekannt. Man liest in allen Darstellungen, daß
Forberg in dem von Fichte und Niethammer herausgegebe-
nen „Philosophischen Journal“ (Jahrg. 1798, l.Heft) einen
Aufsatz erscheinen ließ : „Entwicklung des Begriffs der
Religion“, dem Fichte zur Erläuterung einen Aufsatz
vorangehen ließ : „Über den Grund unseres Glaubens
an eine göttliche Weltregierung.“ Diese beiden Aufsätze
verursachten dann den bekannten „Atheismusstreit“, in-
folge dessen Fichte seine Jenenser Professur aufgab resp.
verlor. Das ganze Interesse der Historiker der Philosophie
hat sich nun begreiflicherweise auf Fichte konzentriert,
eine -Sonne am Himmel der Philosophie, neben welcher
der sonst ganz unbekannte Forberg als ein bescheidenes
Planetchen verschwand. Das war schon innerhalb des
„Atheismusstreites“ selbst der Fall, der sich im wesent-
Forberg, der Urheber des Fichtescheii Atheismusstreites usw. 323
liehen im Jahre 1799 abspielte: in allen den zahlreichen
Schriften und Gegenschriften über den Streit, der damals
das geistige Deutschland durchwogte, ist fast nur von
Fichte die Rede. Und so war es auch nachher. Die
Historiker der Philosophie hatten, als der Fichtesche Auf-
satz 1845 in seinen „Sämtlichen Werken“ (im III. Band)
abgedruckt worden war, vollends keine Veranlassung und
Gelegenheit mehr, das alte, auf Löschpapier gedruckte
Original selbst anzusehen, in dem doch allein der For-
bergsche Aufsatz selbst zu finden ist. Und so blieb dieser
merkwürdige Aufsatz ungelesen und vergessen, und so ist
es gekommen, daß nur der Name Forbergs in der Ge-
schichte der Philosophie weiterlebt, seine Ideen aber be-
graben lagen.
Diese Ideen sind nun aber eben sehr merkwürdig :
Forberg hat Kants Als-Ob-Lehre, speziell in bezug auf die
Religionsphilosophie, wenigstens in ihrem Grundprinzip
klar erfaßt und scharf herausgestellt. Kein einziger der
fast unzähligen damaligen — und späteren Kantschrift-
steller hat im Grunde verstanden, worauf Kant in letzter
Linie mit seiner Religiorisphilosophie hinzielte. Dieser
Mann mit seinem klaren Verstand, seinem intellektuellen
Mut ging der Sache auf den Grund. Aus seiner vergesse-
nen Abhandlung lassen wir, nach mehr als hundert
Jahren, hier die wichtigsten Stellen wieder abdrucken.
„So wie die Idee einer künftigen möglichen Überein-
stimmung aller Menschen in allen Urteilen allen denken-
den Menschen unablässig vor Augen schwebt, so schwebt
auch allen moralisch guten Menschen die Idee einer all-
gemeinen Übereinstimmung im Guten, die Idee einer all-
gemeinen Verbreitung von Gerechtigkeit und Wohlwollen,
vor Augen“ (a. a. 0. S. 30). Aber in ersterer Hinsicht ist
folgendes zu beachten: „das Reich der Wahrheit ist ein
Ideal. Denn es ist bei der unendlichen Verschieden-
heit der Fähigkeiten, in der sich die Natur so sehr ge-
fallen zu haben scheint, niemals zu erwarten, daß je ein
Einverständnis aller Menschen in allen Urteilen stattfinden
werde. Das Reich der Wahrheit wird also zuverlässig
niemals kommen, und der Endzweck der Republik der
Gelehrten wird allem Anschein nach in Ewigkeit nicht er-
reicht werden. Gleichwohl wird das in der Brust jedes
324
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
denkenden Menschen unvertilgbare Interesse für Wahr-
heit in Ewigkeit fordern, dem Irrtum aus allen Kräften
entgegenzuarbeiten, und Wahrheit von allen Seiten zu
verbreiten, d. h. gerade so zu verfahren, als ob der
Irrtum einmal gänzlich aussterben könnte, und die Allein-
herrschaft der Wahrheit zu erwarten wäre. Und eben dies
ist der Charakter einer Natur, die, wie die menschliche,
bestimmt ist, ins Unendliche sich Idealen zu nähern“
(S. 29 L).
Wie mit dem Reich der Wahrheit, so ist es nun
auch mit dem Reich des Guten. Der „gute Mensch“
„trachtet darnach, daß das Reich Gottes, das Reich der
Wahrheit und des Rechts, komme auf Erden : aber am
Ende seiner Laufbahn sieht er es noch so fern als je . . .
Was soll nun er, der einzelne, gegen eine unmoralische
Welt? Soll auch er aufhören, sich dem Strom des Un-
rechts entgegenzusetzen? Soll er es hinfort in der Welt
gehen lassen, wie es geht, ohne sich ferner anzustrengen,
oder wohl gar aufzuopfern, für einen idealischen Zweck,
der nimmer erreicht wird?“ (S.34f.) „Nein — ruft ihm
mit lauter Stimme sein gutes Herz zu — du sollst- Gutes
tun, und nicht müde werden! Glaube an die Tugend,
daß sie am Ende siegen wird! . . . Glaube, daß nichts
Gutes, was du tust, oder auch mir entwirfst, sei es auch
noch so klein und unmerklich und unscheinbar, verloren
gehe in dem regellosen Laufe der Dinge! Glaube, daß
dem Lauf der Dinge ein, dir freilich unübersehbarer.
Plan zum Grunde liegt, in dem auf das endliche Gelingen
des Guten gerechnet ist! Glaube, daß das Reich Gottes,
das Reich der Wahrheit und des Rechts, kommen wird
auf die Erde, und trachte du nur danach, daß e? komme!
. . . Es ist wahr, du kannst von dem allem nicht scienti-
fisch beweisen, daß es so sein müsse, aber genug, dein
Herz sagt dir, du sollst so handeln, als ob es so
wäre, und wenn du so handelst, so zeigst du eben da-
durch, daß du Religion hast!“ (S. 34 — 36.)
„Dies ist die Art und Weise, wie Religion im Herzen
eines guten Menschen entsteht, und allein entstehen kann.
Der gute Mensch wünscht, daß das Gute überall auf Erden
herrschen möge, und er fühlt sich in seinem Gewissen
verbunden, alles zu tun, was er kann, um diesen Zweck
Forberg, der Urheber des Fichteschen Atheismusstreites usw. 325
bewirken zu helfen ... Er glaubt also, daß der Zweck
der Alleinherrschaft des Guten allerdings ein möglicher
Zweck sei . . . Er kann es, wenn er spekuliert, dahin-
gestellt sein lassen, ob jener Zweck möglich oder un-
möglich sei; nur wenn er handelt, muß er verfahren,
als ob er sich für die Möglichkeit entschieden hätte, er
muß trachten, jenem Zweck allmählich näherzukommen.“
Auch wenn er überzeugt ist, daß „es denn doch am Ende
unmöglich sei, aus Menschen Engel zu machen“, darf
er doch nicht die Hände in den Schoß legen; denn er
„würde es sich doch selbst nicht leugnen können, daß
es von einer großen und erhabenen Denkungsart zeuge,
nach der entgegengesetzten Maxime zu handeln“ (S.36/7).
„Religion ist demnach keine gleichgültige Sache, mit
der man es halten kann, wie man es will, sondern sie ist
Pflicht. Es ist Pflicht zu glauben an eine solche Ordnung
der Dinge in der Welt, wo man auf das endliche: Gelingen
aller guten Pläne rechnen kann, und wo das Bestreben,
das Gute zu befördern, und das Böse zu hindern, nicht
schlechterdings vergeblich ist; oder, welches Eins ist, an
eine moralische Weltregierung, oder an einen Gott, der
die Welt nach moralischen Gesetzen regiert. Nur ist dieser
Glaube keineswegs insofern Pflicht, wiefern er theore-
tisch, d. h. eine müßige Spekulation ist, sondern bloß
und allein insofern, wiefern er praktisch, d. h. wiefern
er Maxime wirklicher Handlungen ist. Mit anderen
Worten: es ist nicht Pflicht, zu glauben, daß eine mora-
liche Weltregierung, oder ein Gott, als moralischer Welt-
regent, existiert, sondern es ist bloß und allein dies
Pflicht, so handeln, als ob man es glaubte. In
den Augenblicken des Nachdenkens oder des Disputierens
kann man es halten, wie man will, man kann sich für
den Theismus oder für den Atheismus erklären, je nach-
dem man es vor dem Forum der spekulativen Vernunft
verantworten zu können meint, denn hier ist nicht die
Rede von Religion, sondern von Spekulation, nicht von
Recht und Unrecht, sondern von Wahrheit und Irrtum.
Nur im wirklichen Leben, wo gehandelt werden soll, ist es
Pflicht,“ in jenern Sinn, auf dem Boden jener Als-Ob-
Betrachtung zu handeln (S. 36 — 38).
Ein Handeln nach den entgegengesetzten Maximen
326
Dritter Teil; Historische Bestätigungen.
ist böse; „in diesen Maximen würde man gegen sein
eigenes Gewissen handeln“. „Jene Maximen (die Maximen
der Irreligion) sind also pflichtwidrig und Sünde. Vor
seinem Gewissen kann niemand eine andere Maxime ver-
antworten, als die, Gutes zu stiften, und Böses zu hindern,
wo man weiß und kann, ohne sich durch die Besorgnis
irre machen zu lassen, daß man den Erfolg doch nicht in
seiner Gewalt habe, • — jeden guten und schönen und
großen Einfall zu betrachten als ein anvertrautes
Pfund, mit dem wir wuchern sollen, und unablässig zu
arbeiten an Verbreitung des AVahren und Guten in unserer
Sphäre . . . nach Idealen, in der Hoffnung, daß der Zufall
(oder die Gottheit, als eine uns übrigens unbekannte
Macht) alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumen
werde. . . . Diese Maximen sind die Maximen der Religion,
und die Religion ist demnach nichts anderes, als Glaube
an das Gelingen der guten Sache, so wie Irreligion nichts
anderes ist, als Verzweiflung an der guten Sache. Reli-
gion ist mithin keineswegs ein Notbehelf menschlicher
Schwäche, (dies ist sie allerdings, sobald man sich den
Religionsglauben als einen theoretischen Glauben denkt),
sondern die Macht des moralischen Willens erscheint viel-
mehr nirgends herrlicher und erhabener, als in der Maxime
des religiösen Menschen: ich will, daß es besser werde,
wenn auch die Natur nicht will!“ (S. 39 — 40.)
„Kann man jedem Menschen Religion zumuten? Ant-
wort: Ohne Zweifel, so wie man jedem Menschen zu-
muten kann, gewissenhaft zu handeln . . .“
„Kann man rechtschaffen sein, ohne einen Gott zu
glauben? Antwort: Ja. Denn in der Frage ist ohne Zweifel
von einem theoretischen Glauben die Rede.“
„Kann ein Atheist Religion haben? Antwort: Aller-
dings. Von einem tugendhaften Atheisten kann mein
sagen, daß er denselben Gott im Herzen erkenne, den er
mit dem Munde verleugnet. Praktischer Glaube und
Iheoretischer Unglaube auf der einen, so wie auf der ande-
ren Seite theoretischer Glaube, der aber dann Aberglaube
ist, und praktischer Unglaube können ganz wohl bei-
sammen bestehen“ (S. 42 — 44).
Diese Religion des Als-Ob, wie wir sie kurz
und schlagend nennen wollen, trug dem Verfasser (Rek-
Forberg, der Urheber des Fichteschen Atheismusstreites usw. 327
tor des Lyzeums in Saalfeld) eine Disziplinaruntersuchung
ein, die aber ohne schlimme Folgen für ihn ablief, weil
er sehr einsichtige Richter hatte. Forberg hat eine öffent-
liche Verantwoitun.g abgeb gt unter dem Titel : „Friedrich
Carl Forbergs Apologie seines angeblichen
Atheismus“ (Gotha, bei Justus Perthes 1799, 181 S.).
Aus dieser überaus selten gewordenen Schrift seien noch
einige weitere Äußerungen Forbergs zur Erläuterung seines
Standpunktes angeführt. Der theoretische Atheismus
sei an sich eine bloße Angelegenheit der Spekulation und
insofern harmlos und ungefährlich : ja „eine Anwandlung
von theoretischem Atheismus wäre wohl etwas, das sich
jeder, wenigstens einmal in seinem Leben, zu wünschen
hätte: nämlich um ein Experiment zu machen mit seinem
eigenen Herzen, ob dieses das Gute wolle um seiner selbst
willen, wie sichs gebührt, oder bloß um des Nutzens
willen, der dann, wo nicht in dieser, so doch in einer
andern Welt zu erwarten steht“ (S. 35). Etwas ganz
anderes ist der praktische Atheismus (dem eben das
Sittengebot nicht so heilig ist, als ob es ein Gott, gegeben
hätte) : solcher „pralHischer Unglaube ist niedriger Egois-
mus. Wer praktisch an keine Gottheit glaubt, ist ein Gott-
loser. Tugend ohne Religion ist ein Widerspruch“ (S.26).
In dies em Sinne „enthält der Ausspruch eines großen
Weisen: , selig sind, die reines Herzens sind, denn sie
werden Gott schauen‘, einen wahren und tiefen und hei-
ligen Sinn“ (S. 73). In diesem Sinne ist, Religion zu
haben, Pflicht jedes Menschen.
Wie das gemeint sei, das kommt auf S. i4if. zum
Vorschein, wo die bekannte und doch so unbekannte, offen-
bare Geheimlehre Kants verkündet wird mit den Worten:
das „Reich Gottes“, die Herrschaft des Guten in der Welt,
die moralische Weltordnung ist logisch möglich, aber es
„könnten sich gleichwohl in der Wirklichkeit Um-
stände ... in Menge finden, die, unserer logischen Mög-
lichkeit zum Trotze, denn doch die reale Unmöglichkeit
bewiesen. Und selbst das Äußerste zugegeben, daß sich
die reale Unmöglichkeit eines Reiches Gottes in diesem
Augenblicke erweisen ließe, was wäre nun die Folge?
Etwa, daß alles Trachten nach dem Reiche Gottes, d. i.
alle Sittlichkeit, von Stand an aufhören, und Uneigen-
328
Dritter Teil; Historische Bestätigungen.
nützigkeit sofort bis auf den Namen vom Erdboden ver-
schwinden müßte? Und warum denn das? Ist etwa das
Trachten unmöglich geworden, seitdem man den Er-
folg als unmöglich erkannt hat?“ Der Gegner, der Ver-
treter der gemeinen Menschennatur, wird daraufhin, wie
Forberg ausführt, sagen: „Das nicht. Aber es ist seitdem
unvernünftig geworden.“ Aber der echte Kritizismus ant-
wortet darauf mit Forberg: „Ohne Zweifel, wenn der
Erfolg der Zweck des Strebens, wenn das Ziel der Zweck
des Laufens ist. Aber wie, wenn das Streben an sich
selbst Zweck wäre? wenn es gar kein Ziel zu erreichen
gäbe, oder, welches für die Kämpfer Eins ist, nur ein
Ziel in einer unendlichen Ferne? wenn nicht gegangen
würde um des Zieles willen, sondern ein Ziel gesetzt
würde um des Gehens willen?
Wenn ein Mensch, der „eine Erwartung eines Zieles
der Art überhaupt für eine Chimäre hält“, der im Gegenteil
überzeugt ist, daß „die Welt voll Torheit, Falschheit
und Bosheit“ ist, der also im Gegenteil von dem Vor-
handensein einer unmoralischen Weltordnung überzeugt
ist, . . . „dennoch im Verhältnis mit Menschen keine
seiner Pflichten Übertritt, und durchgängig nach Grund-
sätzen verkehrt, die die höchste Rücksicht auf das Recht
der Menschen und das gemeine Beste ankündigen, so ist
dies wahre und echte religiöse Gesinnung, und sie ist es
nur darum, weil sie die Gesinnung eines Men-
schen ist, der nicht glaubt und doch tut. Also
nicht das (theoretische) Glauben, daß ein Reich Gottes
kömme, ist Religion, sondern das Trachten danach,
daß es komme, selbst wenn man glaubt, daß es nie-
mals kommen werde, ist einzig und allein Reli-
gion“. In diesem Sinne ist Religion ein praktischer
Glaube an das „Reich Gottes“, nämlich eben das Handeln,
als ob ein solches durch unsere Tätigkeit herbeigeführt
werden könne.
Hier haben wir die Religion des Als-Ob in ihrer
schärfsten Ausprägung, in ihrer reinsten Form. —
Forberg leugnet unzweideutig das Vorhandensein aller
moralischen Weltordnung; denn gerade darauf beruht die
hohe Würde, die Erhabenheit dieser Form der Religion
Forberg, der Urheber des Fichteschen Atheismusstreites usw. 329
des Als-Ob, daß der Gute gut handelt, obgleich er
theoretisch nicht an eine moralische Weltordnung
glaubt; er handelt aber doch praktisch so, als ob
er trotzdem an eine solche glauben würde. Diese Reli-
gion des Als-Ob ist auf positivistischer und zugleich
pessimistischer Grundlage aufgebaut.
Fichte ist umgekehrt davon überzeugt, daß eine
solche moralische Weltordnung, eine göttliche Weltregie-
rung wirklich vorhanden ist: seine Überzeugung hiervon
ist Spekulation, beruht auf Spekulation und führt auf
Spekulation. Fichte begnügt sich nicht mit dem’ prak-
tischen Glauben an das Reich Gottes, den Forberg fordert,
Fichtes Glauben an dies Reich ist, wenn auch natürlich auf
praktischem Grund erwachsen, doch selbst theoretisch.
Für Forberg ist die moralische Weltordnung nur eine Fik-
tion, für Fichte ein philosophisches Axiom, ein Dogma.
Was für Forberg nur ein Als-Ob ist, ist für Fichte ein
Daß, ein Weil. Es handelt sich also um zwei ganz ver-
schiedene Weltanschauungen, um zwei ganz verschiedene
Menschentypen. Der Fichtesche Mensch sagt: Ich
kann nicht sittlich handeln, wenn es keine moralische
Weltordnung gibt, ich kann nur sittlich handeln, weil es
eine solche gibt. Der Forberg sehe Mensch aber sagt:
Ich handle sittlich, auch wenn es keine moralische Welt-
ordnung gibt, ja obgleich es keine solche gibt, aber ich
handle so, als ob es eine solche gäbei^ Für Fichte
ist dieser Forbergsche, d.h. echt Kantische Standpunkt
unerreichbar und darum unverständlich.
Der Klarere und Konsequentere war Forberg. Aber
geschichtsteleologisch war es doch wohl besser, daß nicht
an Forberg, sondern an Fichte die Weiterentwicklung
der deutschen Philosophie anknüpfte, welche erst einmal
die verschiedenen Möglichkeiten zur Ausgestaltung brin-
gen mußte, welche in dem weit genialeren Fichte an-
gelegt waren. Aber „Genieaufschwünge“, wie Kant sagt,
führen oft in die Irre, und so mag es ebenso geschichts-
teleologisch gerechtfertigt sein, daß wir heute, nach den
genialen Verirrungen der deutschen Spekulation, zu der
scharfen und klaren Kant-Forbergschen Religion des
Als-Ob zurückkehren, welche bei aller klaren Schärfe
330
Dritter Teil: Historische ßestätigunp^en.
doch nicht der Wärme und der Poesie entbehrt, ja in ihrer
radikalen Form das Erhabenste ist, wozu sich überhaupt
der Menschengeist oder vielmehr das Merischenherz auf-
schwingen kann.
C.
Friedrich Albert Langes „Standpunkt des
Ideals“.
Fast 70 Jahre hat es gedauert, bis die Kant-For-
bergsche Religion des Als-Ob wieder auftauchte, wenn
auch nicht unter diesem Namen — bei F. A. Lange.
In den sieben Jahrzehnten Zwischenzeit war die Philo-
sophie so sehr von metaphysischen Systemen, und von
Kontroversen zwischen diesen erfüllt, daß der laute Lärm
des Marktes philosophischer Dogmen die feinere Stimme
der kritischen Als-Ob-Lehre völlig erstickte. Und doch
nicht völlig. Bei zwei Männern, bei zwei Theologen fand
sie ein Echo, freilich ein solches, daß ihr urprünglicher
Klang kaum mehr zu erkennen war — das waren Schleier-
macher und De Wette. Schleiermacher, den wir schon
als einen Vertreter der Als Ob-Betrachtung in Anspruch
genommen haben, ist wahrscheinlich mit den Aufsätzen
von Fichte und Forberg genau bekannt gewesen, fiel
doch der „Atheismusstreit“ in die Zeit seiner Ent-
wicklung. Sein eigener Standpunkt ist eine Art Ver-
bindung des Fichteschen Pantheismus mit der Forberg-
schen Als-Ob-Lehre in abgeschwächter Form. Fichte,
ursprünglich von Spinoza beeinflußt, setzte, nachdem
er durch die Kantische Kritik hindurchgegangen war,
an Stelle der Spinozistischen Substanz das Ich, nicht
das einzelne, sondern das Ich überhaupt, das ihm schließ-
lich mit Gott zusammeniiel; das Einzel-Ich ist von dem
absoluten Ich, das für Fichte mit der Gottheit identisch
ist, abhängig. Das Gefühl dieser Abhängigkeit vom Abso-
luten ist dann für Schleiermacher das fromme Gefühl.
Das Absolute, von dem sich das Einzel-Ich abhängig
weiß, ist aber unerkennbar. Jedoch das fromme Bewußt-
sein h?d nun das Bedürfnis, sich diese Absolute sym-
Friedrich Albert Langes „Standpunkt des Ideals“. 331
bolisch vorzustellen nach Analogie menschlicher Ver-
hältnisse. Die Idee eines Systems zweckmäßiger sym-
bolischer Vorstellungen, wie sie Forberg als leitendes
Grundprinzip jeder Theologie aufstellte, ist von Schleier-
macher realisiert worden. Oft wiederholt sich in seiner
Dogmatik die Formel des „Vorstellen als“. Schon bei
Schleiermacher selbst, noch mehr aber bei seinen Nach-
folgern sind, nach dem Gesetz der Ideenverschiebung
diese religiösen Fiktionen in Hypothesen resp. Dogmen
übergegangen. Eine Weiierbildung der Schleiermacher-
schen Methode findet sich sodann bei Biedermann und
Lipsius. Die Weiterverfolgung dieser historischen Zu
sammenhänge, die Ausbildung der Überzeugung von der
Notwendigkeit der religiösen Bildersprache, liegt außer-
halb des Rahmens unserer Arbeit und muß anderen über-
lassen bleiben. Ebensowenig kann hier auf De Welte ein-
gegangen werden: er war von Fries beeinflußt, dessen
Lehre von der Ahnung auf manche Theologen eingewirkt
hat. Auch De Wette vertritt den Standpunkt, daß die
Ahnung des unbekannten Absoluten sich in ];ewußten
Symbolen aussprechen müsse. Die Einsicht, daß die Re-
ligion, speziell die religiöse Praxis sich mit Bewußtsein
notwendig einer Bildersprache bedienen müsse, ist uralt,
wie auch Forberg mit Recht bemerkt; die Einsicht, daß
die detaillierteren Vorstellungen der religiösen Objekte un-
entbehrliche Fiktionen seien, ist, wie in allenReligiorien, so
auch im Christentum von Anfang an vorhanden gewesen;
eine Geschichte der wechselnden Phasen dieser Einsicht
fehlt noch. Wo überhaupt Theologie philosophisch fun-
diert wurde, konnte diese Einsicht nicht fehlen. Schleier-
macher und De Wette bilden also hierin nur besondere
Phasen einer kontinuierlichen Entwicklung, welche, wie
sie über diese beiden Männer in alte Zeiten zurückragt,
so auch über sie hinaus vorwärts in die Gegenwart hinein-
reicht. Immerhin war aber bei diesen beiden Theologen,
unter dem Einfluß der Kantischen Religionsphilosophie,
diese Methode besonders klar und stark entwickelt.
Wohl nicht außer Zusammenhang mit diesen Män-
nern, aber doch wieder ganz selbständig, steht nun
F.A. Lange. Er emanzipierte sich von dem theologischen
Einfluß, und so kommt bei ihm das philosophische Prinzip
332
Dritter Teil; Historische Bestätigungen,
in seiner ursprünglichen Reinheit zur Geltung. Nur so
allein konnte es kommen, daß bei ihm nicht mehr bloß die
abgeschwächte, harmlose Form der Kant-Forbergschen
Religion des Als-Ob wieder zum Vorschein kam, sondern
die radikale, konsequentere, ungeschwächte. Dies geschah
in seinem bekannten Werke: „Geschichte des Materialis-
mus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart“,
schon in der 1. Auflage (1865), mehr noch in der 2. Auflage
(1873 — 1875), nach deren Vollendung der bedeutende
und edle Denker starb. Trotz der weiten Verbreitung des
Buches hat F. A. Langes „Standpunkt des Ideals“, der
in weiten Kreisen Verständnis und Nachfolger fand, ge-
rade in den Kreisen der philosophischen Fachleute bis-
her kein Verständnis gefunden. Man betrachtete ihn als
eine individuelle Kuriosität, und da man den verwandten
Standpunkt von Kant selbst nicht richtig beurteilte und
den von Forberg ganz vergessen hatte, so vermochte
man auch Langes „Standpunkt des Ideals“ nicht als ein
notwendiges Glied einer großen Entwicklung zu verstehen.
Was versteht nun F. A. Lange unter dem Stand-
punkt des Ideals?“ Zusammenfassend und sehr klar
äußert er sich im Vorwort zum II. Bande (in der
2. Auflage, die im folgenden stets zitiert wird) über „die
Erhebung der Religion in das Gebiet des Ideals“, durch
welche dem alten Streit zwischen Naturwissenschaft und
Theologie ein „friedliches Ende“ bereitet werden soll.
Die „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ spricht dagegen,
„daß unsere Phantasiegebilde [die religiösen Vorstellungen
über Gott, Unsterblichkeit usw.] Wirklichkeit haben möch-
ten“. F. A. Lange erklärt sich ausdrücklich gegen die
agnostizistische Hinausschiebung der religiösen Vorstel-
lungen in das Gebiet des Unerkennbaren, gegen Spencer,
Tyndall und selbst gegen J. St. Mill. „Im Gebiet der
Wirklichkeit fordert die Sittlichkeit des Denkens von uns,
daß wir uns nicht an vage Möglichkeiten halten, sondern
stets dem Wahrscheinlicheren den Vorzug geben“, d. h.
in diesem Fall der Annahme, daß es keine „Zukunft
nach dem Tode“ und überhaupt auch kein göttliches
„Weltregiment“ gibt, also überall keine moralische Welt-
ordnung. Aber „wir sollen uns im Geiste eine schöne
und vollkommenere Welt schaffen“ und dadurch „das
Friedricli Albert Langes ,, Standpunkt des Ideals“, 333
Leben idealisieren“. Ist einmal „dies Prinzip gegeben,
so wird man wohl auch den Mythus — als Mythus —
müssen gelten lassen“ („selbst der Ungläubige“ könne
„das Idealbild Christi“ in diesem Sinne „sich aneignen“).
„Wichtiger aber ist, daß wir uns zu der Erkenntnis er-
heben, daß es dieselbe Notwendigkeit, dieselbe . . . Wur-
zel unseres Menschenwesens ist, welche uns durch die
Sinne das Weltbild der Wirklichkeit gibt, und welche
uns dazu führt, in der höchsten Funktion dichtender
und schaffender Synthesis eine Welt des Ideals zu
erzeugen, in die wir aus den Schranken der Sinne flüchten
können, und in der wir die wahre Heimat unseres Geistes
wiederfinden.“
Die dichtende und schaffende Synthesis
weist nun F. A. Lange zunächst, in freiem Anschluß an
Kants Erkenntnistheorie, als dasjenige nach, was unsere
gewöhnliche Weltvorstellung erzeugt: aus dem Emp-
findungsmaterial macht erst unsere synthetische Funk-
tion eine „kausal“ geordnete Welt von „Dingen“. „Kau-
salität“ und „Substanz“ sind nur kategoriale Funktionen
der Psyche : „wenn Kant die Produkte dieser synthetischen
Funktion „Erscheinungen“ nennt und diesen die „Dinge
an sich“ gegenüberstellt, so ist er darin selbst -dem
täuschenden Trug verfallen, eine kategoriale Funktion —
das Ding — zu verselbständigen, zu hypostasieren. F.
A. Lange betont oft und energisch (ohne diesen Ausdruck
zu gebrauchen) die rein fiktive Bedeutung des Unter-
schiedes von „Erscheinungen“ und „Dingen an sich“, so
besonders II, 28, 49, 50, 57, 63, 126, 137 : das „Ding
an sich“ ist „ein bloßes Gedankending“, „die konsequente
Anwendung unserer Denkgesetze führt uns auf den Begriff
eines völlig problematischen Etwas“, das ist jedoch „ein
bloßer Grenzbegriff“; „wenn man aber fragt, wo denn
nun aber die Dinge bleiben, so lautet die Antwort : in den
Erscheinungen. Je mehr sich das Ding an sich zu einer
bloßen Vorstellung verflüchtigt, desto mehr gewinnt die
Welt der Erscheinungen an Realität“. „Wir mögen uns
dieser Anschauung [daß Erscheinungen und Dinge an
sich zu unterscheiden sind], sofern sie eine notwendige
Folge unseres Verstandesgebrauchs ist, nur ruhig hin-
geben, obgleich derselbe Verstand uns bei einer weiteren
334
Dritter Teil: ilistorische Bestätigungen.
Untersuchung bekennen muß, daß er diesen Gegensatz
selbst geschaffen“ — m. a. W. : wir bedienen uns dieses
Begriffsapparates als einer nützlichen Fiktion. „Die Natur-
anlage unserer Vernunft führt mit Notwendigkeit dazu,
neben der Welt, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen,
noch eine eingebildete Welt anzunehmen. Diese
eingebildete Welt ist, sofern wir uns von ihr irgendwelche
bestimmte Vorstellung machen, eine Welt des Scheines,
ein Hirngespinst“, und damit verfällt eben auch die
„intelligible Welt“ derselben Verurteilung (S. 57).
Die Auffassung der intelligibeln Welt, welcher sich
bei dem offfiziellen Kant und bei seinen tradionellen
Auslegern findet, erklärt F.A. Lange für „bedenklich“,
„irrig“, „fatal“ S. 59 — 63) : „Kant wollte nicht einsehen,
was schon Plato nicht einsehen wollte, daß ,die in-
telligible Welt‘ eine Welt der Dichtung ist, und
daß gerade darauf ihr Wert und ihre Würde beruht. Denn
Dichtung in dem hohen und umfassenden Sinne, in
welchem sie hier zu nehmen ist, kann nicht als ein; Spiel
talentvoller Willkür zur Unterhaltung mit leeren Emp-
findungen betrachtet werden, sondern sie ist eine noU
wendige und aus den innersten Lebenswurzeln der Gat-
tung hervorbrechende Geburt des Geistes, der Quell alles
Hohen und Heiligen, und ein vollgültiges Gegengewicht
gegen den Pessimismus, der aus dem einseitigen Weilen
in der Wirklichkeit entspringt. Es fehlte Kant nicht an
Sinn für diese Auffassung der intelligibeln Welt, aber ...
Bildungsgang und Zeit . . . verhinderten ihn hier, zum
vollen Durchbruch zu kommen.“
Dieses Urteil über Kant ist aber, wie unsere Dar-
legungen gezeigt haben, falsch: F. A. Lange blieb in
den Kreis der traditionellen Kantauffassung gebannt und
hat die Bedeutung der Kantischen Als-Ob-Lehre nicht
erkannt. Für uns ist dies jedoch kein Verlust, sondern im
Gegenteil ein Gewinn : denn eben weil F. A. Lange seinen,
mit der Kantischen (ihm aber unbekannten) Als Ob-Be-
trachtung wesentlich identischen „Standpunkt des Ideals“
selbständig fand — den er seiner Meinung nach als erster
einnahm — eben darum ist F. A. Lange ein unabhängiger
Zeuge dafür, daß diesen Standpunkt ein jeder einnehmen
Friedrich Albert Langes „Standpunkt des Ideals“. 335
muß, der die kritischen Grundgedanken konsequent zu
Ende denkt.
Lange sieht nicht direkt in Kant, sondern in Schil-
ler seinen Vorgänger, der „mit divinatorischer Geistes-
kraft das Innerste der Kantischen Lehren erfaßt“. „Schil-
ler hat mit Recht die inteliigible Welt anschaulich ge-
macht, indem er sie als Dichter behandelte, und damit
ist er in die Fußtapfen Platos getreten, der im Wider-
spruche mit seiner eigenen Dialektik das Höchste schuf,
wenn er im Mythus das Übersinnliche sinnlich werden
ließ. Schiller, der Dichter der Freiheit, durfte es wagen,
die Freiheit offen in das , Reich der Träume* und in das
, Reich der Schatten* zu versetzen, denn unter seiner Hand
erhüben sich die Träume und Schatten zum Ideal. Das
Schwankende wurde zum sichern Pol, das Zerfließende
zur göttlichen Gestalt, das Spiel der Willkür zum ewigen
Gesetz, wenn er das Ideal dem Leben gegenüberstellte.
Was Religion und Moral nur immer Gutes hegen, kann
nicht reiner und gewaltiger dargestellt werden, als in
jenem unsterblichen Hymnus, der mit der Himmelfahrt
des gequälten Göttersohnes schließt. Hier verkörpert sich
die Flucht aus den Schranken der Sinne in die intelli-
gible Welt. Wir folgen dem Gott, der ,flammend sich
vom Menschen scheidet*, und nun wechseln Traum' und
Wahrheit ihre Rolle — des Lebens schweres Traumbild
sinkt und sinkt und sinkt** . . . „Nur was mit dem
Maßstabe dichterischer Reinheit und Größe gemessen
Bestand hat, darf beanspruchen, ... als Unterwei-
sung im Ideal zu dienen“ (S. 62 f.).
Dies der Standpunkt des Ideals, der dann noch
mals an zwei späteren Stellen weiter ausgeführt wird,
S..484 — 50'3, sowie besonders in dem eigens so be-
titelten Abschnitt S. 539 — 562. Überall tritt da F.A. Lange
der Auffassung entgegen, „daß es mit der Religion über-
haupt vorbei sei, seit die Naturwissenschaft das Dogma
zerstört“ habe: „die Religion sei zu erhalten, aber auch
nur zu erhalten** durch ihre „Erhebung in das Gebiet
des Ideals** : die Religion sei, zusammen mit der Meta-
physik, „mit der Kunst zusammenzustellen**
(S. 494). Es ist „ein Widerspruch in der Natur unserer
Organisation, welche uns die Dinge ganz, vollendet, ge-
336
Dritter Teil : Historische Bestätigungen.
rundet nur auf dem Wege der Dichtung gibt, stück-
weise, annähernd, aber relativ genau auf dem Wege der
Erkenntnis“. Freilich sind alle Dichtungen und Offen-
barungen einfach falsch, sobald man sie nach ihrem'
materiellen Inhalt mit dem Maßstabe der exakten Er-
kenntnis prüft, allein jenes Absolute hat nur Wert als
Bild, als Symbol . . . und diese Irrtümer oder
absichtlichen Abweichungen von der Wirk-
lichkeit tun nur Schaden, wenn man sie als materielle
Erkenntnisse gelten läßt“ — sie sind also in unserer
Sprache nützliche Fiktionen. Wenn „der volle männ-
liche Sinn für Wirklichkeit und probehaltige Richtigkeit
ausgebildet ist, schwindet die Glaubwürdigkeit jener Ge-
schichten, weil ein anderer Maßstab des Fürwahr-
haltens angelegt wird; der Sinn für die Poesie aber
bleibt dem echten Menschenkinde durch alle Stufen des
Lebens getreu.“ In der Poesie wird, wie es S. 540 heißt,
„der Boden der Wirklichkeit mit Bewußtsein auf-
gegeben“ — also handelt es sich eben auch in den meta-
physisch-religiösen Dichtungen um — bewußte Er-
dichtungen.
Also „ein anderer Maßstab des Fürwahrhaltens“ ist
notwendig für die religiösen Vorstellungen, als für die
wissenschaftlichen, und damit auch ein anderer Wahr-
heitsbegriff. „Die Alten sahen den Dichter als einen
begeisterten Seher an, der von seinem Gegenstand ganz
erfüllt, ganz hingerissen, der gemeinen Sterblichkeit im
Geiste entrückt war. Sollte nicht dasselbe Ergriffensein
von der Idee auch in der Religion sein Recht haben ? Und
wenn es denn Gemüter gibt, die so tief in diesen Er-
regungen leben, daß ihnen die gemeine Wirklichkeit der
Dinge davor zurücktritt, wie wollen diese die Lebendigkeit,
die Stetigkeit, die Wirksamkeit ihrer Erlebnisse anders
bezeichnen, als mit dem Worte: Wahrheit?“ „Da die
Sprache nun einmal dem Volke gehört, so werden wir den
doppelten Gebrauch des Wortes , Wahrheit* für einstweilen
schon deswegen einräumen müssen.“ Auch der „Philo-
soph kann die zweite Bedeutung des Wortes Wahrheit
gelten lassen, aber nie vergessen, daß sie eine bildliche
ist. Er kann sogar warnen vor einem blinden Eifer gegen
die , Wahrheiten* der Religion, wenn er überzeugt ist, daß
Friedrich Albert Langes „Standpunkt des Ideals“. 337
der ideale Gehalt derselben noch Wert für unser Volk
hat“ (S. 496).
Immer und immer wieder weist F. A. Lange auf die
R olle „des dichtenden Prinzips in der Religion“ (S. 503) hin,
die schon der antiken Welt, speziell den Stoikern zum
Bewußtsein gekommen sei (S. 501); darum eben sei die
Idee „einer von jedem Irrtum geläuterten Religion“
(S. 497) ein verkehrter Wahn, denn überall und immer
bestehe die Religion aus einem Gewebe oder Gebäude von
Dichtungen, aus einer „Vor st ellungs- Architektur“
(S. 496), die je nach dem Bedürfnis der Zeiten „in ihrer
Gestalt wechselt (S. 494), die aber immer „den Charakter
des Absoluten“ (S. 493) an sich trägt. In diesem Sinn
„wird der echte Idealismus stets neben die Erscheinungs-
welt eine Idealwelt stellen, und der ' letzteren, selbst
wenn sie nur als ein Hirngespinst auftritt,
alle diejenigen Rechte einräumen, welche aus ihren Be-
ziehungen zu unseren geistigen Lebensbedürfnissen fol-
gen“ (S. 530). ,,Der theoretische Materialismus (dem alles
verwerflich ist, „was sich nicht als wahr für den ge-
meinen Verstand erweisen läßt“ S. 506, der „die ideale'
Seite des religiösen Lebens“ nicht versteht, weil für
ihn „das Ideale keinen Kurs hat“ (S. 537), kann sich
ohne Inkonsequenz nicht zu diesem Standpunkt erheben,
weil für ihn das Ausgehen vom Ganzen . . . ein Irrtum
ist. Der Materialist kann nicht dem Worte Schillers
folgen: Wage du zu irren und zu träumen“ (S. 513).
Dies aber eben ist der „Standpunkt des Ideals“.
Diesem „Standpunkt des Ideals“ ist nun ein eigener
x\hschnitt gewidmet, unter diesem Titel (S. 539 — 62),
F. A. Lange führt daselbst seinen Kampf nach zwei
Fronten hin, den wir schon bisher verfolgt haben, zu
Ende. Einerseits kämpft F. A. Lange gegen den Dogma-
tismus resp. gegen die Orthodoxie; „so lange diese
Richtung herrscht, wird der Standpunkt des Ideals in der
Religion niemals rein hervortreten können . . ., das Sym-
bol wird unwillkürlich und allmählich zum starren Dog-
ma, wie das Heiligenbild zum Götzen, und der natür-
liche Widerstreit zwischen Poesie und Verstand artet auf
religiösem Gebiet leicht in Abneigung aus gegen das
schlechthin Richtige, Nützliche und Zweckmäßige“ . . .
A'ai’iinger, Philosophie. 22
338
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
Die dogmatisch-orthodoxe Richtung „denkt sich das ideale
Lebenselernent . . . zugleich mit gemeiner Wirklichkeit
begabt, und nimmt alles historisch,, was nur symbolisch
gelten soll“ (S. Ö57f.). Und „doch kann man stets bei
den orthodoxen Eiferern in ihren Reden und Scliriften den
Punkt entdecken, wo sie offenkundig in das Symbol über-
gehen“ (S. 549), wo sie also inkonsequent werden, wo sie
selbst zugeben müssen, daß mindestens ein Teil ihrer
religiösen Vorstellungen nur symbolisch ist.
Die andere Front, gegen welche F. A. Lange kämpft,
ist der Materialismus, nicht als wissenschaftliche Methode
— denn in dieser Form billigt F. A. Lange die materiali-
stisch-mechanische Erklärung des Seins und Geschehens — ,
sondern wenn und insoweit der Materialismus, was er
konsequenterweise tun muß, die religiöse Vorstellungswelt
überhaupt verwirft, nicht bloß in Form eines Systems dog-
matischer Lehrmeinungen, sondern auch in Form von
brauchbaren und haltbaren Symbolen, wenn also der
Materialismus die religiösen Vorstellungen überhaupt zum
alten Eisen wirft. Dieser Richtung gegenüber verlangt
F.A. Lange „Anerkennung des Idealen“ (S. 559) nicht nur
in der Weise, daß der Materialist edle, ideale Bes treb un-
gen haben solle — das ist glücklicherweise meistens der
Fall — , sondern in der Weise, daß er auch den hohen
Wert und tiefen Sinn der idealen Vorstellungen aner-
kennen soll, also den Wert der religiösen Vorstellungen,
dieser Vorstellungsarchitektur, oder wie es S. 546 heißt,
der „Architektur der Ideen“, in denen „dem Ewigen
und Göttlichen (d. h. ihren Idealen) ein Tempel der Ver-
ehrung errichtet wird“. Diese metaphysisch-religiösen
Ideen kann man „in ihrer ethischen Wirkung“ festhalten,
„ohne den Tatsachen Gewalt anzutun“. „Das allein kann
die Menschheit zu einem immerwährenden Frieden (zwi-
schen Religion und Naturwissenschaft) führen, wenn die
unvergängliche Natur aller Dichtung in Kunst, Religion
und Philosophie erkannt wird, und wenn auf Grund dieser
Erkenntnis der Widerstreit zwischen Forschung
und Dichtung für immer versöhnt wird“ (S. 560). Also
Sinn und Achtung für die Religion als Dichtung —
dies verlangt F. A. Lange auch vom Materialisten. „Eins
ist sicher: daß der Mensch einer Ergänzung der Wirk-
Friedrich Albert Langes „Standpunkt des Ideals“. 339
lichkeit durch eine von ihm selbstgeschaffene Idealwelt
bedarf, und daß die höchsten und edelsten Funktionen,
seines Geistes in solchen Schöpfungen Zusammenwirken“;
und man verleiht dem so geschaffenen „Ideal eine über-
wältigende Kraft, indem man es (mit Schiller) offen und
rückhaltlos in das Gebiet der Phantasie verlegt“
(S. 545). In diesem Sinne „gewöhne man sich, die Welt
der Ideen . . . für gleich' unentbehrlich zu jedem mensch-
lichen Fortschritt zu betrachten, wie die Erkenntnisse des
Verstandes, indem man die größere oder geringere Bedeu-
tung jeder Idee auf ethische und ästhetische Grundlagen
zurückgeführt“ (S. 548) — wobei man beachte, daß
F. A. Lange, der Schillers Gedichte richtig als Früchte
des kritischen Geistes erkannte, neben die ethische Grund-
lage, welche Kant allein betont, mit Recht auch die ästhe-
tische stellt. Dieser ästhetische Einschlag zeigt sich auch,
wenn F. A. Lange sagt, der Gedanke der göttlichen Har-
monie, in der alles Disharmonische verschwinde, „von der
überschauenden, göttlichen Betrachtung der Welt, in wel-
cher sich alle Rätsel lösen und alle Schwierigkeiten ver-
schwinden, werde vom Pessimismus mit Erfolg zerstört,
aber diese Zerstörung trifft nur das Dogma, nicht das
Ideal“ (S. 544) — also es hleibt uns unbenommen, jenen
Gedanken als bewußte religiöse Fiktion festzuhalten.
Der „Kern der Religion“ besteht in der „Überwin-
dung alles . . . Aberglaubens durch die bewußte Er-
hebung über die Wirklichkeit und in dem defini-
tiven Verzicht auf die Verfälschung des Wirklichen durch
den Mythus, der ja nicht dem Zweck der Erkenntnis
dienen kann“ (S. 546). Gegenüber dem groben Glauben
an die grobe Wirklichkeit der religiösen Vorstellungswelt
besteht „das Prinzip der Vergeistung der Religion“
also darin, die religiösen Vorstellungen mit Bewußt-
sein als Mythen zu verehren. So lange man den
„Kern der Religion“ in gewissen „Lehren über Gott, die
menschliche Seele, die Schöpfung und ihre Ordnung
suchte, konnte es nicht fehlen, daß jede Kritik, welche
damit begann, nach logischen Grundsätzen die Spreu vom
Weizen zu sondern, zuletzt zur vollständigen Negation
werden mußte. Man sichtete, bis nichts mehr übrig blieb.“
Man erblicke dagegen den „Kern der Religion“ „in der
3 U) Dritter Teil : Historisclie Bestätigungen.
Erhebung der Gemüter über das Wirkliche“ hinaus
in die erdichtete „Heimat der Geister“, also ins Unwirk-
liche. Bei der Religion liegt das Wesen der Sache in
der Form des geistigen Prozesses (d. h. eben in jener be-
wußten Erhebung über das Wirkliche), „nicht im logisch-
historischen Inhalt der einzelnen . . . Lehren“ (S. 550).
Der „ideale Gehalt und Inhalt der Religion“ (S. 556/7) bleibt
so für alle Zeit erhalten - aber nicht mehr als Dogma,
sondern als frei von uns selbst erschaffenes Ideal, das
wir mit vollem Bewußtsein eben als bloßes Ideal erkennen,
aber nichtsdestoweniger so verehren, daß wir unser Gemüt
daran erheben, unser Handeln danach einrichten.
Es ist nun ein vielverbreiteter Grundirrtum, dem be-
sonders die Materialisten leicht verfallen, solche bewußten
Erdichtungen darum für wertlos zu halten: im Gegenteil,
eben in jenen Ideen und Idealen liegen die höchsten
Werte der Menschheit. Die Überordnung dieser
Ideen über die gemeine Wirklichkeit „beimht nicht aut
größerer Sicherheit, sondern auf einer größeren Wert-
schätzung, gegen die ein für allemal weder mit der
Logik, noch mit der tastenden Hand und dem sehenden
Auge etwas auszurichten ist, weil für sie die Idee als
Form ... der Gemütsverfassung ein mächtigeres Objekt
der Sehnsucht sein kann, als der wirkliche Stoff“ (S.549).
Der „wahre Wert“ jener Ideen liegt im Stil, gleichsam in
der Form der Vorstellungsarchitektur und in dem Ein-
druck dieser Vorstellungsarchitektur auf das „Gemüt“
(S.494). Mit dieser „Welt der Werte“ muß die „Weit des
Seienden“ in Verbindung gebracht werden, um dieser
durch jene „ethische“ Bedeutung zu verleihen (S. 546).
Daraus folgt für uns bei konsequentem Denken: die „Welt
des Seienden“ muß also durch das Nichtseiende
ergänz! werden, durch das Erdichtete, das Eingebildete,
und eine wahre, kritische „Philosophie der Werte“, von
der man neuerdings spricht, wird stets nur als Philo-
sophie des Als-Ob auftreten können.
„Eine Wirklichkeit, wie der Mensch sie sich ein-
bildet, ein absolut festes, von uns unabhängiges und doch
von uns erkanntes Dasein — eine solche Wirklich-
keit gibt es nicht und kann es nicht geben“
(S. 539) — sie ist eine ,, Schöpfung des Ideals“, also eben
Friedrich Albert Langes „Standpunkt des Ideals“. 341
ein Nichtseiendes, aber als seiend gesetztes. Diese Welt
ist „ein Erzeugnis freier Synthesis“. Die unbekannten
Faktoren des Geschehens „stellen wir uns vor als Dinge,
welche unabhängig von uns bestehen, und denen also jene
aLsolute Wirklichkeit zukäme, welche wir eben für un-
möglich erklärten. Allein es bleibt bei der Unmöglichkeit.
Denn schon im Begriff des Dinges . . . liegt jener sub-
jektive Faktor,“ den F. A. Lange allgemein als die Syn-
thesis bezeichnet. „Dieser synthetische, schaffende Fak-
tor unserer Erkenntnisse erstreckt sich bis in die ersten
Sinneseindrücke und bis in die Elemente der Logik hin-
ein“ (S. 539). „Aber die Aufgabe, Harmonie in den Er-
scheinungen zu schaffen und das gegebene Mannigfaltige
zur Einheit zu binden, kommt nicht nur den synthetischen
Faktoren der Erfahrung zu, sondern auch denen der Spe-
kulation“. Bei der Erfahrung ist der synthetische Faktor
noch an den Stoff gebunden, auch „die Begriffsdichtung
der Spekulation ist noch' keine völlig freie“, aber immerhin
hat „in der Spekulation die Form das Übergewicht über
den Stoff, in der Poesie beherrscht sie ihn vollständig“.
„Von den niedersten Stufen der Synthesis ... bis hinauf
zu ihrem schöpferischen Walten in der Poesie ist das
Wesen dieses Aktes stets gerichtet auf die Erzeugung der
Einheit, der Harmonie, der vollkommenen Form.“ Damit
hat Lange die letzte, tiefste Wurzel des ganzen metaphy-
sischen und religiösen Dichtens aufgedeckt.
Die Bedeutung der synthetischen, dichtenden Kraft
der menschlichen Natur für unser Erkennen und Leben
hat Lange von Anfang an erkannt. Er sah vor allem,
daß schon unsere gewöhnliche Weltanschauung (nicht
bloß die religiös-metaphysische, die wir bisher mit Lange
analysiert und zum „Standpunkt des Ideals“ erhoben
haben, durchsetzt ist von erdichteten Begriffen, die aber
als Hilfsvorstellungen für uns notwendig sind, und die
auch notwendig für uns bleiben, wenn wir sie als Er-
dichtungen durchschaut haben. Dazu gehört in erster
Linie die Vorstellung von Dingen überhaupt. In diesem
Sinne heißt es H, 214 ff. : „Ein ,Ding‘ wird uns nur; durch
seine Eigenschaften bekannt . . . Das ,Ding‘ ist aber in der
342
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
Tat nur der ersehnte Ruhepunkt für unser Denken. Wir
wissen nichts als die Eigenschaften und ihr Zusammen-
treffen in einem Unbekannten, dessen Annahme eine
Dichtung unseres Gemütes ist, aber, wie es scheint,
eine notwendige, durch unsere Organisation gebotene.“
Wir können keine Eigenschaft ohne Träger, keine Kraft
ohne Stoff annehmen : „der Grund ist nur in der psy-
chischen Organisation zu suchen, welche uns unsere Beob-
achtungen unter der Kategorie der Substanz erscheinen
läßt“.
„Die Materialisten nehmen in naiver Weise die un-
bekannte Materie als einzige Substanz ; Helmholtz dagegen
ist sich wohl bewußt, daß es sich nur um eine Annahme
handelt, welche durch die Natur unseres Denkens ge-
fordert wird, ohne für das wahrhaft Wirkliche Geltung
zu haben.“ Wenn Helmholtz eine derartige Annahme eine
„Abstraktion“ nennt, so bemerkt Lange hierzu: „rich-
tiger eine notwendige Dichtung, eine mit psychischem
'Zwang eintretende Personifikation“ — also eben eine
Fiktion.
Eine naturwissenschaftliche Modifikation des mate-
riellen Dinges, dessen fiktive Natur hier Lange richtig er-
kennt, ist das Atom, das von ihm natürlich auch nur als
ein Produkt derselben dichtenden Synthesis, zugleich aber
als notwendige Hilfsvorstellung durchschaut wird. Schon
I, 44 nennt Lange das Atom „eine notwendige Vor-
st eil ungs weise für einen unbekannten Sachverhalt“.
In diesem Sinne vergleicht Lange „die Atome und ihre
Schwingungen“ mit einem „Baugerüst“, das man fallen
lasse, wenn der Bau vollendet ist, das aber zum Bau
absolut notwendig ist (H, 166). Wenn Liebig die Vor-.
Stellung der Atome eine willkürliche „Übereinkunft“ nenne,
wenn Schönlein in bezug hierauf von „Spielen der Ein-
bildungskraft“ rede, so sei doch zu bedenken, daß diese
„Spiele der Einbildungskraft“ „gewiß nicht dazu dienen,
den Verstand zu täuschen, sondern ihn zu leiten und zu
stützen“. Solch eine sinnliche Anschauung, wenn sie
streng durchgeführt werde, „dient, selbst wenn sie
materiell falsch ist, oft in ausgedehntem Maße als
Bild und einstweiliger Ersatz der richtigen Anschauung“;
„die Benutzung der Einbildungskraft zur Ordnung unserer
Friedrich Albert Langes „Standpunkt des Ideals“. 343
Gedanken ... ist also in der Tat mehr als bloßes' Spiel“
(II, 190). Die verschiedenen Atomvorstellungen wechseln
je nach „dem Bedürfnis der Rechnungen“ (S. 191 ff.). Die
Einsicht in diese Beschaffenheit der Atome als bloßer
Rechenpfennige darf natürlich nicht dazu führen, „dem
Physiker den nächsten, d. h. technischen Gebrauch
der Atomistik abstreiten zu wollen“ (S. 194 ff.). Lange
erkennt also ganz treffend die rein fiktive Natur der
Atome, obgleich er ungenauerweise sie mehrfach „hypo-
thetisch“ nennt.
Sehr treffend wendet sich Lange gegen diejenigen,
die der Atomistik den angeblichen anti-atomistischen Dy-
namismus Kants als Gorgonenhaupt entgegenhalten: „es
ließe sich die Frage aufwerfen, ob sich nicht die Not-
wendigkeit einer atomistischen Vorstellungsweise aus den
Prinzipien der Kantischen Erkenntnistheorie deduzieren
ließe“; dieser Versuch sei auch ganz aussichtsvoll: „denn
die Wirkungsweise der Kategorie in ihrer Verschmelzung
mit der Anschauung geht stets auf Synthesis in einem
abgeschlossenen, also in unserer Vorstellung von den un-
endlichen Fäden alles Zusammenhanges abgelösten
Gegenstände. Bringt man die Atomistik unter diesen
Gesichtspunkt, so würde die Isolierung der Massenteilchen
als eine notwendige physikalische Vorstellung
erscheinen, deren Gültigkeit sich auf den gesamten Zu-
sammenhang der Welt der Erscheinungen erstreckte, wäh-
rend sie eben doch nur der Reflex unserer Organisation
wäre.: das Atom (das nach S. 250 eine „bloß gedachte Ein-
heit“ ist) wäre eine Schöpfung des Ich, aber ge-
rade dadurch notwendige Grundlage aller Na-
turwissenschaft“ (S. 211). In dieser prächtigen Stelle
hat Lange die Atomistik aufs Treffendste als methodische
Fiktion gekennzeichnet.
Daß auch der gewöhnliche Kraftbegriff eine solche
methodische, „die Betrachtung erleichternde“ Fiktion ist,
ist die Korrelateinsicht (I, 143), die auch mit der Erkennt-
nis verbunden ist, daß der Kraftbegriff zwar „offenbare
Widersprüche in sich birgt“, aber doch zweckmäßig ist
(I, 264); Lange weist dies speziell für die chemischen
„Kräfte“, besonders die Affinität nach (II, 184 — 187) und
zeigt, daß derartige „sinnliche Vorstellungsweisen“ „nur
344
Drilter Teil: Historische Bestätigungen.
Hilfsmittel“, nicht definitive „Erkenntnisse“ sind: „so
spricht man von den Affinitätspunkten der Atome,
vom Haften an denselben, von besetzten und noch freien
Punkten, wie wenn man an dem . . . Körper des Atoms
solche Punkte vor sich sähe“ (S. 200). Beifällig zitiert
Lange (S. 204) die bekannte Wendung von Du Bois-Rey-
mond, „Kraft“ sei „gleichsam ein rhetorischer Kunstgriff
unseres Gehirns“. Man bringt, meint Lange richtig S. 206,
damit eigentlich „einen falschen Faktor in die
Rechnung“, und zeigt, wie man die daraus notwendig
entspringenden Fehler vermeiden kann, wobei sich Lange
auf eine Stelle von Helmholtz beruft, in welcher dieser die
Methode der entgegengesetzten Fehler treffend kennzeich-
net. Lange zeigt, wie wir es machen müssen, daß diese
„Hilfsausdrücke“ (S. 219) uns nicht zu Fallstricken wer-
den — er gibt also eine Methode der wissenschaftlichen
Fiktion.
Umgekehrt erkennt aber Lange auch die Teleologie
als bloß methodische Fiktion; schon I, 373 hatte Lange
darauf hingewiesen, daß sogar Holbach diesen Standpunkt
eiiinehme: „der Mensch mag sich dieser Vorstel-
lungen bedienen, wenn er nur von ihnen frei
ist, und weiß, daß er es nicht mit äußeren Dingen, son-
dern mit unzutreffenden Vorstellungen von denselben zu
tun hat“, wozu Lange bemerkt: „daß aber solche den
Dingen an sich keineswegs entsprechende Vorstellun-
gen . . . nicht nur als bequeme . . . Angewöhnungen . . .,
zu dulden seien, sondern daß sie trotz — oder vielleicht
sogar w'egen ihrer Geburt aus dem Menschengeist zu den
edelsten Gütern des Menschen gehören“. In diesem Sinne
nennt Lange II, 276 die Teleologie ein „heuristisches Prin-
zip“, das er im Anschluß an Kant so formuliert: „Wir
werden vermöge der Vernunftidee einer absoluten wechsel-
seitigen Bestimmung der Teile im Weltganzen dazu ge-
bracht, die Organismen so anzusehen, als ob sie Produkt
einer Intelligenz wären.
F. A. Lange hat also, wie wir sahen, schon erkannt, daß
man in Wissenschaft und Leben erdichtete, also am Maß-
stab der empirischen Wirklichkeit gemessen, falsche
Vorstellungen verwenden muß, und zwar mit dem
Bewußtsein ihrer Falschheit; er hat also, wie
Nietzsche und seine Lehre vom bevaißt gewollten Schein. 345
wir schon am Beginn unseres Werkes sahen, erkannt, daß
dem Denken und Leben Fiktionen unentbehr-
lich sind.
D.
Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten
Schein.
(„Der Wille zum Schein.“)
Daß Leben und Wissenschaft ohne erdichtete, also falsche Vor-
stellungen nicht möglich sind, das hat auch Fr. Nietzsche erkannt.
Daß solche erdichteten, also falschen Vorstellungen von den Menschen
unbewußt zum Vorteil von Leben und Wissenschaft angewendet
werden, hat Nietzsche im Anschluß an Schopenhauer und wohl
auch an Richard Wagner und dessen Lehre vom „Wahn“ frühzeitig
bemerkt. Daß aber solche falsche Vorstellungen auch vom geistig
Gereiften noch mit dem Bewußtsein ihrer Falschheit
angewendet werden müssen, sowohl im Leben als in der Wissenschaft,
das hat Nietzsche allmählich immer klarer eingesehen, und hierin
ward ihm F. A. Lange zum Führer.
Nietzsche, dem Langes Name wohl schon durch die Bonner
Philologenkreise vorher bekannt geworden war, hat dann die im
Oktober 1865 erschienene „Geschichte des Materialismus“ nach seinem
Weggang aus Bonn kennen gelernt. An Freund Gersdorft schreibt
er im September 1866 einen begeisterten Brief über das Buch, dem
er ganz zustimmt, einen noch begeisterteren an denselben am
16. Februar 1868 (Gesammelte Briefe, 3. Aufl., 1902, I., 48 und 97).
N. nennt es „ein Buch, das imendlich mehr gibt, als der Titel ver-
spricht und das man als einen wahren Schatz wieder mid wieder
anschauen und durchlesen mag.“ Daß auch besonders Langes
Lehre von der Metaphysik als berechtigter „Dichtung“ auf N. tiefen
Eindruck gemacht hat, geht aus einem Briefe Rohdes an N. hervor
(vom November 1868 in N.s Ges. Briefen, 2. Aufl., 1902, II, 80). ,Daß
das bedeutsame Buch bei Nietzsche noch lange nachgewirkt hat,
ergibt sich schließlich auch aus einigen polemischen Bemerkungen
gegen dasselbe, die sich Bd. XIII, S. 339 und XIV, S. 14 finden. Die
folgende Darstellung von Nietzsches Lehren zeigt, wenn wir sie mit
denen F. A. Langes vergleichen, daß Nietzsche in der Lehre vom
Schein direkt als ein Schüler und Fortsetzer Langes bezeichnet wer-
den muß.
Ganz in derselben Weise wie Lange lehrt N. die hohe Bedeutung
des „Scheins“ in allen Gebieten der Wissenschaft und des Lebens,
sowie der tiefgegründeten, weitgreifenden Funktion des „Dichtens“
und „Fälschens“, und des fälschenden, dichtenden „Schaffens“, und
damit den Wert und das Recht des „Mythus“ nicht nur in der
Religion; N. lehrt wie Lange, daß der Welt des „schwankenden“,
„zerfließenden“ Werdens im Interesse des Begreifens und der ästhe-
tischen Befriedigung von der „Phantasie“ eine AVelt des „Seins“
346
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
gegenübergest.ellt wird, in welcher alles „vollendet“ und „gerundet“
erscheint und daß dadurch ein Gegensatz, ein „Kampf“ zwischen „Er-
kenntnis“ und „Kunst“, zwischen „WissenschaH“ und „Weisheit“ ent-
steht, „der eben nur dadurch gelöst wird, daß jene „erdichtete“
Welt als berechtigter und „unentbehrlicher“ „Mythus“ anerkannt wird,
woraus sich endlich ergibt, daß „Falsch“ und „Wahr“ „relative“
Begriffe sind. All dies hat Nietzsche schon bei F. A. Lange vorfinden
können. Man hat diesen Kantischen, oder wenn man lieber will. Neu-
kantischen Ursprung der Nietzscheschen Lehre bisher vollständig ver-
kannt, weil N., seinem Temperament gemäß, wiederholt mißverständ-
lich gegen Kant heftig loszieht. Als ob er nicht auch gegen Schopen-
hauer und Darwin losgezogen wäre, denen er doch ebensoviel verdankt 1
Nietzsche hat tatsächlich sehr viel von Kant, freilich nicht von dem
Kant, wie er in den Schulbüchern steht (und wie er daselbst auch für
alle Zukunft stehen bleiben mag), sondern vom Ge'ste Kants, des echten
Kant, der den Schein bis in seine tiefsten Wurzeln durchschaut, aber
auch die Nützlichkeit und Notwendigkeit des durchschauten Scheins mit
Bewußtsein erkennt und anerkennt.
Die Jugendschriften — abgedruckt im Band I der Werke,
w’ozu noch die nachgelassenen Stücke der Bände IX und X gehören —
enthalten eine große Fülle bedeutsamer Ansätze, aber in unentwickelter^
Form. Alle diese Ansätze gipfeln in dem merkwürdigen, aus dem Jahr
1873 stammenden Fragment : „Über Wahrheit und Lüge im
außermoralischen Sinne“ (X, 189 — 215). „Lüge im außer-
moralischen Sinne“ nennt N., mit seiner bekannten Vorliebe für
outrierte Ausdrücke, die bewußte Abweichung von der Wirklichkeit
im Mythus, in der Kunst, in der Metapher usw. Das, absichtliche Fest-
halten des Scheines, trotz der Einsicht in seine Beschaffenheit als
Schein, ist eine Art „Lüge im außermoralischen Sinne“ : „Lügen“ ist
ja eben bewußtes, absichtliches Erregen von Schein.
Dies ist zunächst der Fall in der Kunst, von welcher ja N. in
seinem ersten Werk : Geburt der Tragödie usw. ausgegangen ist, das im
I. Band wieder abgedruckt ist. Kunst ist bewußtes Schaffen des
ästhetischen Scheines; in diesem Sinne beruht die Kunst auf der „Ur-
begierde nach dem Schein“ 35; speziell „das dramatische Urphänomen“
besteht darin, „sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu
handeln, als ob man wirklich in einen anderen Leib,
in einen anderen Charakter eingegangen wäre“ 60, 168. Jilit ,, fingier-
ten“ Wesen operiert überhaupt das Drama 54. Vom „apollinischen
Schein“ (33, 62) wird viermal auf S, 150 f. (wie schoni 147, und auch
X, 120) in diesem Sinne das Ais- Ob ausgesagt: Dieses „ästhetische
Spiel“ 157, 168, diese „zahllosen Illusionen des schönen Scheins
machen das Dasein überhaupt lebenswert“ 171, 522. Dies ist „die
Weisheit des Scheins“ 23. Daher: „wer die Illusion in sich und an-
deren zerstört, den straft die Natur als der strengste Tyrann“ 340, denn
„zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion“ 56. i)
1) „Es gibt die heilsamsten und segensreichsten Irrtümer“ (I, 179),
umgekehrt gibt es auch „Lehren, die ich für wahr, aber tötlich
halte“ (367), daher billigt auch N. die Platonische Notlüge im Staat
(376, vgl. 487).
Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein. 347
In diesem Sinne wird auch der Mythus betrachtet und gepriesen 147,
160, 411, 511, 560, speziel als mythische Fiktion 299. Der Mythus,
den die Griechen mit Bewußtsein hegten, ist uns verloren gegangen
„in dem abstrakten Charakter unseres mythenlosen Daseins“ 170; bei
uns ist er zum „Märchen“ geworden, aber er muß bei uns „wieder ins
Männliche zurückgeschaffen werden“ 551; selbst die Wissenschaft
kann nicht ohne Mythus sein 102, 106. Vgl. IX, 179, 184, 234, 288,
433, sowie X, 88, 128, 139, 203. Zur Kunst wie zum Leben ist der
Schein, die Illusion die notwendigste Voraussetzung : darin läßt sich das
Ergebnis der Jugendschriften zusammenfassen, und schon hier bricht
auch der Gedanke durch, daß diese Illusion beim höheren Menschen
eine bewußte sei und sein müsse.
In den nachgelassenen Schriften jener Jugendzeit (Bd. IX und X)
tritt dieser letztere Punkt deutlicher hervor. Zuerst zwar spricht N.
nur überhaupt von den „Wahnvorstellungen als notwendigen und heil-
samen Vorkehrungen des Instinkts“, IX, 69, von einem „Gesetz des
Wahnmechanismus“ 100, 124 ff. Auch die Religion gehört dazu 130)^
insbesondere aber „die realen Wahnbilder der künstlerischen Kultur“
148; über diese „Wahngebilde“ spricht er noch S. 158, 165, 179, 184.
S. 186: „Das Reich der Wahnbilder ist auch Natur und eines gleichen
Studiums wert“. So entsteht ein ganzes „Illusionsnetz“ 186 f. Diese
Wahnvorstellungen schafft sich der Wille 192, 200, und zwar durch
„Trugmechanismen“ 106, 210. „Selbst die Erkenntnis über ihr Wesen
vernichtet nicht ihre Wirksamkeit“ 101. Diese Erkenntnis empfindet
N. zunächst als „Qual“ 101, 126, aber die Einsicht in die Notwendig-
keit jener Illusionen und Phantome für das Leben (76, 108, 185, 189)
führt zur bew ußten, lustyollen Bejahung des Scheins; in
diesem Sinne sagt er S. 190: „Meine Philosophie umgekehrter Plato-
nismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner, schöner,
besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel;“ dies ist auch der Sinn
des Ausspruchs S. 109 : „das höchste Zeichen des Willens : der Glaube
an die Illusion („obwohl wir sie durchschauen“), und der theoretiscne»
Pessimismus (d. h. der Schmerz darüber, daß wir auf Wahnvorstellun-
gen angewiesen sind) beißt sich selbst in den Schwanz,“
Ganz in diesem Sinn heißt es dann X, 119 : „der letzte Philosoph . . .
beweist die Notwendigkeit der Illusion“. Der Abschluß der Philosophie-
geschichte ist somit nach N. die Philosophie des Scheins; die Ein-
sicht in seine Unentbehrlichkeit und Berechtigung : „im höchsten
Scheine liegt unsere Größe“, denn hier sind wir Schaffende 146. Aber
jetzt ist es nicht mehr bloß der künstlerische Schein (der „Kunst-
schleier“ 110), dessen Notwendigkeit zum Leben erkannt wird: jetzt
erweitert sich der Kreis der als notwendig erkannten und bewußt er-
faßten Illusionen immer mehr: „das Anthropomorphische aller Erkennt-
nis“ (121) tritt jetzt hervor, vgl. 195 ff. Nicht nur, „das Leben braucht
Sehr bemerkenswert ist, daß N. schon hier auch die Freiheit
des Willens „als notwendige Wahnvorstellung“ erkennt, so IX,
186, 188 f., 207, X, 213. Der Mensch hat „di© Vorstellung der Frei-
heit, als ob er auch anders könnte“, ja „der ganze Prozeß der AVelt-
geschichte bewegt sich so, als ob Willensfreiheit existiere“. Abei
„die morali che Freiheit ist eine notwendige Illusion“.
818
Dritter Teil: Historische ßestätigungeii.
Illusionen, d. h. für Wahrheiten gehaltene Unwahrheiten“ (125 ff.) und
nicht allein unsere Kultur beruht auf „isolierenden Illusionen“ (127j,
auch unser Erkennen bedarf solcher. So führt die „Oberflächen-
Natur unseres Intellekts“ 12G ff. zum Gebrauch von Allgemeinbegriffen,
denen schon I, 52G mit einem sehr outrierten Ausdruck „Wahnsinn“
vorgeworfen wurde. In dieser Linie liegt die Äußerung auf S. 130:
„wir verstärken die Hauptzüge, vergessen die Nebenzüge“. Begriffe
gewinnen wir nur durch „das Identifizieren des Nicht^leichen“ und
„tun nachher, als ob der Begriff z. B. Mensch etwas Tatsäch-
liches wäre, während er doch nur durch Fallenlassen aller individuellen
Züge von uns gebildet ist“, 172, 195. Unser Intellekt, operiert mit be-
wußten Symbolen, Bildern und rhetorischen Figuren 130, 134, 167,
mit „groben und unzureichenden AbstraJttionen“ 169, mit Metaphern
148: „Zeit, Raum und Kausalität sind nur Erkenntnismetaphern“ 166.
„Das Erkennen ist nur ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern“
171, 194. So „leben und denken wir unter lauter Wirkungen des Un-
logischen, in Nichtwissen und Falschwissen“ 173. i)
Alle diese Ansätze gipfeln nun in dem schon erwähnten Fragment
über die „Lüge im außermoralischen Sinne“, dessen Grundgedanke
eben ist: daß nicht nur unsere Sprache, sondern auch das begriffliche
Denken auf lügnerischen, d. h. ,,der Realität nicht entsprechenden“
Operationen beruht 214. Vom Allgemeinbegriff und von dem „großen
Bau der Begriffe“ wird dies nochmals eingehend gezeigt, so 195 ff.
und so führt ihn dieser künstlerische Trieb, der auch S. 128 einfach als
„Die Metapherbildung ist der Fundamentaltrieb des Menschen“, 203,
„mythischer Trieb“ bezeichnet wird, auch im erkenntnistheoretischen
Gebiete zu lügnerischen Gebilden 213, 505 (cfr. 139, 140, 162); diese
werden zunächst unbewußt (196) geschaffen, aber „für den freigewor-
denen Intellekt“ (205) sind sie bewußte Hilfsmittel; „Gerüste“.
Die Schriften der mittleren oder Übergangsperiode
Nietzsches, die im übrigen einen weniger dithyrambischen Charakter
zeigen, vertiefen die bisher gewonnenen Einsichten an einzelnen
Punkten. Es sind: Menschliches, Allzumenschliches; Morgenröte;
Fröhliche Wissenschaft, in Bd. II — V, wozu noch die Nachlaß-Bände
XI und XII, 1 — 233 gehören. Der outrierte Ausdruck der „Lüge“ tritt
nur noch selten hervor : II, (5, 162) („die Griechen umspielen ab-
sichtlich das Leben mit Lügen“), III, 105 („die Musen als Lüg-
nerinnen, der Künstler als Betrüger“), IV, 119 („Lug und Trug der
Empfindung“), V, 309 („die Erziehung, die so viele Lügen heiligt“;,
XI, 45, 330, 408. Pathetisch heißt es XII, 48: ,,Ach, nun müssen wir
die Unwahrheit umarmen, una der Irrtum wird jetzt erst zur Lüge und
die Lüge vor uns wird zur Lebensnotwendigkeit“.
In diesem Sinne ist auch folgender höchst bedeutsamer Satz
zu verstehen (I, 128, vgl. auch 110) : „Der ungeheuren: Tapferkeit und
Weisheit Kants und Schopenhauers ist der schwerste Sieg gelungen, der
Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden, Optimismus.“
Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein. 349
Der Gedanke, daß wir mit Bewußtsein uns der „Unwahrheit“ in
unserem Denken bedienen müssen, macht ihm immer noch Qual;
„Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut
werden zu wollen: ob man bewußt in der Unwahrheit bleiben könne,
und, falls man dies müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei?“
(II, 51). Noch V, 142 heißt es, daß „diei Einsicht in den Wahn und
Irrtum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden, Da-
seins“ ohne die Kunst „gar nicht auszuhalten“ wäre, una -„den Selbst-
mord im Gefolge haben müßte“. Aber immer deutlicher wird die Ein-
sicht, das bewußt-unwahre Vorstellungen biologisch-erkenntnistheore-
tische Notwendigkeiten sind: zunächst macht sich diese Einsicht
geltend als Erkenntnis, daß „Irrtümer und Verirrungen der Phantasie
das einzige Mittel sind, durch welches die Menschheit sich allmählich. .
zu erheben vermochte“ (47, 111, 228, vgl. IV, 97, XI, 36); der Mensch
muß aber nicht bloß „die historische Berechtigung“, sondern , »ebenso
die psychologische (also auch für die Lebenden gültige) Berechtigung
in solchen Vorstellungen begreifen“ (38), er muß einsehen, daß die
Maschine Mensch „mit Illusionen, Einseitigkeiten .... geheizt werden
muß (236). Nietzsche erinnert an das Wort Voltaires: „Croyez-moi,
mon ami, l’erreur aussi a son merite“ II, 16: Man darf deshalb
solche Illusionen nicht „zerstören“ (368), sie sind auch dem fort-
geschrittenen Geiste notwendig, so notwendig, wie dem Kinde Märchen
lind Spiel 139 (welche ja dem Kinde auch bewußte Selbsttäuschungen
sind). 1) In dem fortgeschrittenen Geiste entwickelt sich immer mehr
..'.las Bewußtsein vom Scheine“ V, 87, ja ein Kultus des Scheins,
„wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum,
die Blindheit, die Lüge“, denn auf diese „ist das Leben angelegt“, V,
275 f. Dies „undurchdringliche Netz von Irrtümern“ ist zum Leben
notwendig XII, 39 ff.
Einem solchen fortgeschrittenen Geist werden alle üblichen, aucli
die wissenschaftlichen Glaubenssätze und Überzeugungen zu „regu-
lativen Fiktionen“ V, 273 ; er erkennt sie als „lauter not-
wendige optische Irrtümer — notwendig, falls wir überhaupt leben
wollen, Irrtümer, falls alle Gesetze der Perspektive Irrtümer an sich
sein müssen“ XII, 42. In diesem Sinne spricht N. 46 von dem „wirk-
lich lebendigen Unwahren“, von den „lebendigen Irrtümern“ und sagt:
„und darum muß man die Irrtümer leben lassen und ihnen ein großes
Reich zugestehen“. Zusammenfassend heißt es 48: „damit es irgend-
einen Grad von Bewußtsein in der Welt geben könne, mußte eine un-
1) In diesem Siiui heißt es duldsam; XI, 21 : \„Warum läßt luan Meta-
physik und Religion nicht als Spiel derErwachsenen gelten?“
Das gilt dann auch von den „Illusionen des Jenseits“ XI, 66. „Es
könnte nötige Irrtümer geben“ heißt es XI, 320 in ausdrücklichem
Gegensatz zu Pascal von den christlichen Dogmen. „Wir haben zeit-
weilig die Blindheit nötig und müssen gewisse Glaubensartikel und
Irrtümer in uns unberührt lassen — so lange sie uns im Leben er-
halten“ XII, 48. An einer anderen Stelle (XII, 212) scheint N. dies
„bewußte Festhalten an der Illusion und zwangsweise Einverleiben der-
selben als Basis der Kultur“, das er selbst notwendig, findet, zu tadeln;
aber der Tadel richtet sich gegen einen Mißbrauch durch R. Wagner.
300
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
wirkliche Welt des Irrtums entstehen: Wesen mit dem Glauben an
Beharrendes, an Individuen usw. Erst nachdem eine imaginäre Gegen.-
welt im Widerspruch zum absoluten Fluß entstanden war, konnte
auf dieser Grundlage etwas erkannt werden, ja zuletzt kann der Grund-
irrtum (der Glaube an Beharrendes) eingesehen werden, worauf alles
beruht . . . doch kann dieser Irrtum nicht anders als mit dem Leben
vernichtet werden . . . unsere Organe sind auf den Irrtum eingerichtet.
So entsteht im Weisen der Widerspruch des Lebens und seiner letzten
Entscheidungen: sein Trieb zur Erkenntnis hat den Glauben an, den
Irrtum und das Leben darin zur Voraussetzung .... Irren ist die Be-
dingung des Lebens . , . Wissen um das Irren hebt es nicht auf, Bas
ist nichts Bitteres! Wir müssen das Irren lieben und pflegen: es ist
der Mutterschoß des Erkennens,“
Mehrfach finden sich zusammenfassende Stellen, so V, 149 : „Solche
irrtümlichen Glaubenssätze . . . sind z. B. diese, daß es dauernde Dinge
gebe, daß es gleiche Dinge gebe, daß es Dinge, Stoffe, Körper gebe,
daß unser Wille frei sei . . .“ ; V, 154 : „Wir operieren mit lauter
Dingen, die es nicht gibt, mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, teil-
baren Zeiten, teilbaren Räumen . . ; V, 159 : „Wir haben unsl eine
Welt zurechtgemacht, in der wir leben können, — mit der Annahme
von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und
Ruhe, Gestalt und Inhalt; ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt
keiner aus zu leben! Aber darum sind sie noch, nichts Bewiesenes. Das
Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte
der Irrtum sein.“ Und XI, 72 wird entwickelt, daß die Materie als
ausgedehnte Masse eine Vorspiegelung ist, ebenso das bewegte Ding
und das Ding überhaupt, sowie alles Beharrende. So heißt es XII, 24 :
„wir würden ohne die Annahme einer der wahren Wirklichkeit ent-
gegengesetzten Art des Seins nichts haben, an dem es sich messen und
vergleichen und abbilden könnte : der Irrtum ist die Voraussetzung des
Erkennens. Teilweises Beharren, relative Körper, gleiche Vorgänge*
ähnliche Vorgänge — damit verfälschen wir den wahren Tat-
bestand, aber es wäre unmöglich, von irgend etwas zu wissen, ohne ihn
so verfälscht zu haben“. „Am Beginn aller geistigen Tätigkeit stehen
die gröbsten Annahmen und Erdichtungen, z. B. Gleiches, Ding, Be-
harren, sie sind gleichartig mit dem Intellekt und er hat sein Wesen
danach gemodelt“ 46. Und in diesem Sinne heißt es auch 156: „der
Intellekt als das Mittel der Täuschung mit seinen Zwangsformen:
Substanz, Gleichheit, Dauer“, aber auf solchen Meinungen, wie dem
„Glauben an Gleichheit, Zahl, Raum usw. beruht die Dauer der
Menschheit“ 208.
Denken hängt von der Sprache ab, und diese ist schon voll von
falschen Voraussetzungen: „durch Worte und Begriffe werden wir jetzt
noch fortwährend verführt, die Dinge uns einfacher zu denken, als sie
sind, getrennt voneinander, unteilbar, jedes an und für sich seiend.
Es liegt eine philosophische Mythologie in der Sprache versteckt,
welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst
auch sein mag“ III, 198; somit sind diese mythisch-fiktiven Bestand-
teile der Sprache eben mit dem Bewußtsein ihrer Falschheit zu ge-
brauchen, vgl. XI, 178. Treffend heißt es XI, 180: „Wir reden, al s o b
es seiende Dinge gebe und unsere Wissenschaft redet nur von solchen
Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein. 351
Dingen. Aber ein seiendes Ding gibt es nur nach der menschlichen
Optik: von ihr können wir nicht los“.
Häufig weist N. auf die künstliche S i m p 1 i f i k a t i o n als ein
Hauptmittel unseres Denkens hin, so XI, 291 in der bemerkenswerten
Stelle, nach der wir unser „unendlich kompliziertes Wesen in einer
Simplifikation sehen“ usw., so XII, 10: „in welcher seltsamen Ver-
einfachung der Dinge und Menschen leben wir! Wie haben wir es uns
leicht und bequem gemacht. . . und unserem Denken einen Freipaß für
Fehlschlüsse gegeben“; vgl. XII, 46.
Neben dem Simplifizieren spielt das Isolieren eine Hauptrolle,
z. B. in der Mechanik: „wir isolieren begrifflich erstens die Richtung,
zweitens das Bewegte, drittens den Druck usw. In der Wirklichkeit
gibt es diese isolierten Dinge nicht“ XII, 34.
Von der Logik heißt es II, 26: sie „beruht auf Voraussetzungen,
denen nichts in der wirklichen Welt entspricht, z. B. auf der Voraus-
setzung der Gleichheit von Dingen, der Identität desselben Dings in
verschiedenen Punkten der Zeit“. Über diese „Illusion der Gleich-
heit“-') s. auch III, 198, XI, 179.
Von den Allgemeinbegriffen wird nichts Besonderes mehr gesagt,
wohl aber wird vom „Urbild“, d. h. eben von der dem Allgemeinbegriff
entsprechenden Idee XII, 28, folgender sehr treffender Aussprach getan :
„Urbild ist eine Fiktion, wie Zweck, Linie usw.“,
vgl. 33: „unsere Begriffe sind Erdichtungen“.
„Naturgesetze“ sind Reste „mythologischer Träumerei“ III, 18, XII,
30, ja XII, 42 findet sich der ganz Kantisch anmutende Satz : „Unsere
Gesetze und Gesetzmäßigkeiten sind es, die wir in die Welt hinein-
legen — so sehr der Augenschein das Umgekehrte lehrt“. Die Kau-
salität ist ein „Bild“, etwas „was wir hineinlegen“; was wir „Er-
leben“ nennen, ist in diesem Sinn „ein Erdichten“ IV, 124.
Auch „die Annahmen der Mechanik“ beruhen auf idealen Er-
d.ichtungen, insbesondere aber die Vorstellung der „Kraft in mathe-
matischen Punkten und mathematischen Linien“; „es sind zuletzt
praktische Wissenschaften, ausgehend von den Fundamental-
irrtümern des Menschen, daß es Dinge und Gleiches gibt“ XII, 33.
Neu ist die Einsicht in die fiktive Natur vieler mathematischer
Begriffe, II, 26 : „es gibt in der Natur keine exakt gerade Linie, keinen
wirklichen Kreis“, 36 „die Zahlen beruhen auf dem Irrtum, daß es
mehrere gleiche Dinge gebe, . . . gerade hier schon waltet der Irr-
tum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt“. 2)
1) Auf diesen „Irrtum des Gleichen“, der so wie der Irrtum des
Beharrenden zur Entstehung des Glaubens an „Dinge“ und „Substan-
zen“ beitrage, macht N. noch öfters aufmerksam, so bes. XII, 26 ff.
2) Hierzu daselbst noch folgendes : „Unsere Empfindungen von
Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, konsequent geprüft,
auf logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen
rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Größen ,
aber weil diese Größen wenigstens konstant sind, wie z. B. unsere Zeit-
und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft
doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit“. Also wir rechnen
und denken stets mit konstanten Fehlern, II, 36 f. Unsere empirische
‘W2
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
„AVir legen eine mathematische Durchschuittslinie hinein in die abso-
lute Bewegung, überhaupt Linien und Flächen bringen wir hinzu, auf
der Grundlage des Intellekts, welches der Irrtum ist: die Annahme des
Gleichen und des Beharrens“ XII, 30. „Unsere Annahme, daß es
Körper, Flächen, Linien gibt, ist erst die Folge unserer Annahme, daß
es Substanzen und Dinge, Beharrendes gibt. So gewiß unsere Begriffe
Erdichtungen sind, so sind es auch die Gestalten der Mathematik“ 33.
Das beharrende Ding gehört ebenfalls hierher: unsere „Un-
vollkommenheit ist wohl die Quelle, daß wir an Dingo glauben und
im Werden etwas Bleibendes annehmen, ebenso, daß wir an ein Ich
glauben“ XI, 185; und XII, 23: „das Sein, welches uns einzig verbürgt
ist, ist wechselnd, nicht-mit-sich-selbst-identisch, hat Beziehungen . . .
Nun behauptet das Vorstellen gerade das Gegenteil vom Sein.“ Aber
es braucht deshalb nicht wahr zu sein. Sondern vielleicht ist dies
Behaupten des Gegenteils nur eine Existenzbedingung“ unseres Vor-
stellens. „Es wäre das Denken unmöglich, wenn es nicht von Grund
aus 'das Wesen des Esse verkennte: es muß die Substanz und das
Gleiche behaupten, weil ein Erkennen des völlig Fließenden unmög-
lich ist, es muß Eigenschaften dem Sein andichten, um selber zu
existieren. Es braucht kein Subjekt und kein Objekt zu geben, damit
das Vorstellen möglich ist, wohl aber muß das Vorstellen an beide
glauben.“ „Der Intellekt ist nicht zum Begreifen ^des Werdens
eingerichtet, er strebt die allgemeine Starrheit (das ewige Beharren;
zu beweisen, dank seiner Abkunft aus Bildern“. Der Glaube an das
Beharrende, an das Dauernde, an das Unbedingte, ist „nicht der
am meisten wahre, sondern der am meisten nützliche Glaube“ XII,
24 — 27, 30. Auf dem Glauben an das Beharrende beruht auch unsere
Raumvorstellung: „unser Raum gilt einer imuginären Welt“ 31.
Der Glaube an das Beharrende, der von selbst in uns entsteht und
den die Wissenschaft in ihrer Weise fortsetzt, ist die Grundlage alles
Glaubens an „Realität“ (wie Körper, Dauer der Substanz usw.) 44 f.
Auch das beharrende Indiriduum und seine Einheit ist etwas not-
wendig Eingebildetes 128.
Freiheit und Verantwortlichkeit werden oft als notwendige Irrtümer
behandelt, so II, 65, 93, 101, 108, 109 („die Illusion der Willkür“);
III. 31: ..frei können wir uns nur träumen, nicht machen“. 190. 198;
daher kann auch „der völlig gottlose Weise, der an der gründlichen
Unverantwortlichkeit und Unverdienstlichkeit alles Wirkens und
Wesens festhält, das Gefühl der Scham bekommen, wenn man ihn be-
Weltvorstellung beruht also auf „irrtümlichen Grundannahmen“, „Welt
als Vorstellung, das heißt als Irrtum“. Hierbei beruft sich Nietzsche
ausdrücklich auf Kant: „Wenn Kant sagt: ,D e r .V'^orstand,
schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern
schreibt sie dieser vor,* so ist dies in Hinsicht auf den Be-
griff der Natur völlig walir.“ Dieser Satz Kants hat, wie man aus
sonstigen gelegentlichen Anspielungen auf denselben ersieht, großen
Eindruck auf N. gemacht: gerade diese „schöpferische“, „schaffende“
Kraft des Geistes, seine „erfindende, dichtende, fälschende“ Tätigkeit
hebt N., wie wir noch sehen werden, überall hervor. So bat N. viel
mehr von Kant, als man gemeinhin glaubt.
Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein. 353
handelt, a 1 s o b er dies und jenes verdient habe“; er koimmt sich dann
vor, als ob er sich „in eine höhere Ordnung von Wesen eingedrangfc
habe“ 239; vgl. V, 149. In diesen Zusammenhang gehört auch dio
Äußerung XI, 31 : „So etwas wie der Charakter hat an sich keine
Existenz, sondern ist eine erleichternde Abstraktion“, vor allem (aber
das folgende, deutlich-kräftige Wort 45: „Tadeln hat nur Sinn als
Mittel abzuschrecken und fürderhin als Motiv zu wirken. Loben will an-
treiben, zum Nachahmen auffordern: insofern aber beides getan wird,
als ob es einer geschehenen Handlung gelte, so ist die Lüge, der Schein
bei allem Loben und Tadeln nicht zu vermeiden, sie sind eben das
Mittel, welches vom höheren Zwecke geheiligt wird“. Aber diese
moralischen Vorurteile sind immer noch unentbehrlich“ XI, 195, ebenso
die Vorstellung, „als ob wir die Natur führten“ in unserem Handeln,
während wir doch von ihr geführt werden XI, 203, 213. Unsere Frei-
heit, unsere Autonomie ist eine „Auslegung“, resp. ein Hineinlegen 216,
XII, 40. Sehr bezeichnend heißt es XII, 224: „Ich will alles, was ich
verneine, ordnen, und das ganze Lied absingen: es gibt keine Vergel-
tung, keine Weisheit, keine Güte, keine Zwecke, keinen Willen. (Aber)
um zu handeln, mußt du an Irrtümer glauben, und du wirst noch nach
diesen Irrtümern handeln, wenn du sie als Irrtümer durchschaut hast“.
Auch das Subjekt ist ein solch selbstgemachter Begriff, den wir
nicht entbehren können: „wir dichten uns selber als Einheit in dieser
selbstgeschaffenen Bilderwelt, das Bleibende in dem Wechsel. Aber es
ist ein Irrtum“ XI, 185. Treffend heißt es XI, 291, das Ich sei „ein
Versuch, unser unendlich kompliziertes Wesen in einer Simplifikation
zu sehen und zu begreifen — ein Bild für ein Ding“. Das ist unser
„Urirrtum“ XII, 26. Der ganze „Gegensatz von Subjekt und Objekt“
ist eine künstliche Scheidung V, 294.
Die Unterscheidung von Ding-an-sich und Erscheinung erkennt nun
N. auch als eine künstliche Teilung, somit eben als eine begriffliche
Erdichtung: „das wahre Wesen der Dinge ist eine Erdichtung des vor-
stehenden Seins, ohne welche es nicht vorzustellen vermag“ XII, 22,
auch V, 294. Die ganze Erscheinungswelt ist eine „aus intellektuellen
Irrtümern herausgesponnene“ Weltvorstellung II, 33; „Welt als Vor-
stellung“ ist soviel wie „Welt als Irrtum“ 37, 47, IV, 119, 120 „Welt
der Phantome, in der wir leben“. „Unsere Außenwelt ist ein Phaii-
tasieprodukt“ XII, 36. „Der Glaube an Außendinge“ ist einer der
notwendigen Irrtümer der Menschheit 40. „Materie, Stoff ist eine sub-
jektive Form“ 71; „die ganze anschauliche, empfundene Welt ist die
Urdichtung der Menschheit“ 170.
Die ästhetische Illusion kehrt natürlich immer wieder, so II, 157
mit zweimaligem, ausdrücklichem „als o b“,i) ebenso 178; XI, 23
unü XII, 175. Über die „künsterische Täuschung“ spricht N. III, 118,
V, 311 und XI, 72. Die Kunst, „eine Art von Kultus des Un-
wahren“, beruht auf „dem guten Willen zum Schein“ V, 149.
Den Beschluß mache die schöne Stelle V, 88: „Was ist mir jetzt
»Schein* 1 Wahrlich nicht der Gegensatz irgendeines Wesens — was
1) Das Als- Ob erscheint auch II, 271 als Index einer konventio-
nellen Fiktion, sowie ib. 333 als Ausdruck der Fiktion des konstitutio-
nellen Staates; dagegen V, 302 ist es die Formel einer Hypothese.
Vaihinger, Philosophie. 23
354
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
weiß ich von irgendwelchem Wesen auszusagen, als eben nur die
Prädikate seines Scheins! Wahrlich nicht eine tote Maske, die man
einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen könntet
Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber . .
Die Schriften der dritten Periode: Zarathustra, Jenseits von
Gut und Böse, Genealogie der Moral, Götzendämmerimg, Antichrist, in
den Bänden VI bis VIII enthalten (abgesehen von den Eingangs-
kapiteln von „Jenseits von Gut und Böse“ im VII. Bd.) für uns
weniger, als die zugehörigen Nachlässe in XII, 235 ff., XIII, XIV, XV;
besonders die beiden letzten Bände kommen für uns in Betracht.
Nach dem Bisherigen ist es verständlich, daß jetzt „das Problem
vom Wert der Wahrheit“, das VII, 9 ff. feierlich eingeführt wird
(vgl. 471, 482), aufgestellt werden kann; hier stellt sich N. nicht
bloß „Jenseits von Gut und Böse“, sondern auch jenseits von Wahr
und Falsch :i) „es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurteil, daß
Wahrheit mehr wert ist, als Schein ... es bestünde gar kein Leben,
wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und
Scheinbarkeiten“ 55; „das Perspektivische ist die Grund-,
bedingung alles Lebens“ 4, 11. Dieser Ausdruck, der sich bisher nur
selten fand, wird von jetzt an häufiger: die Perspektivo ist ja eine
notwendige Täuschung, welche bleibt, auch wenn wir ihre Falsch-
heit erkannt haben und in diesem Sinne nennt N. schon V, 294 seine
Philosophie treffend „Perspektivismu s“.^) In diesem Sinne ist
auch die oft zitierte Stelle VII, S. 21 zu verstehen: „Es ist endlich
an der Zeit, die Kantische Frage: ,wie sind synthetische Urteile a prioi*.i
möglich*? durch eine andere Frage zu ersetzen; ,warum ist der Glaube
an solche Urteile nötig*? — nämlich zu begreifen, daß zum Zweck
der Erhaltung von Wesen unserer Art solche Urteile als wahr g e -
glaubt werden müssen: weshalb sie natürlich noch ifalsche
Urteile sein könnten I ... Es sind lauter falsche Urteile. Nur ist
allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nötig, als ein Vordergrunds-
glaube und Augenschein, der in die Perspektivenoptik des Lebens
gehört.** „Die falschesten Urteile (zu denen die synthetischen Urteile
a priori gehören) sind uns die unentbehrlichsten, ohne ein Gelten-
lassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der
Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-
Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl,
1) „Wahrheit bezeichnet nicht einen Gegensatz zum Irrtum, sondern
die Stellung gewisser Irrtümer zu anderen Irrtümem, etwa, daß sie
älter, tiefer einverleibt sind, daß wir ohne sie nicht zu leben wissen,
und dergleichen** XIII, 87. Der Gegensatz ist nicht ,wahr‘ und , falsch*
ib. 69. „Was zwingt uns überhaupt zur Annahme, daß es einen wesen-
haften Gegensatz von ,wahr* und ,falsch* gibt?** VII, 55.
2) Auf XII, 43 erscheint „unsere dichterisch-logische Macht, die
Perspektiven zu allen Dingen festzustellen,** und ganz Kantisch wird
von der „Fülle der optischen Irrtümer** gesprochen, die sich für uns
unentrinnbar daraus ergeben, die wir mit Bewußtsein festhalten
müssen. Dieses perspektivische Dichten und Schaffen, das bei allen
organischen Wesen sich finde, sei selber auch ein Geschehen, ein
inneres Geschehen neben dem äußeren XIII, 63.
Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein. 355
kann der Mensch nicht leben — Verzichtleisten auf falsche Urteile
wäre ein Verzichtleisten auf Leben“ i) 12 f. (vgl. XIV, 191, 210). So
ist der „Wille zur Täuschung“ zu verstehen 10 f., der ja auch die Seele
der Kunst ist (84, 123, 472). „Auf welchen Standpunkt der Philo-
sophie man sich heute auch stellen mag : von jeder Stelle aus gesehen,
ist die Irrtümlichkeit der Welt, in der wir zu leben glauben, das
Sicherste und Festeste . . . warum dürfte die Welt, in der wir leben,
nicht eine Fiktion sein?“ 54 — 56. Selbst die exaJkteste, posi-
tivste „Wissenschaft will uns am besten in dieser vereinfachten, durch
und durch künstlichen, zurecht gedichteten, zurecht gefälschten Welt
festhalten, auch sie liebt unfreiwillig-willig den Irrtum, weil auch! sie,
die Lebendige, das Leben liebt“ 41 — 42. In diesem Sinne gebraucht
z. B. die Physik die Atomistik, obgleich sie „zu den bestwiderlegten
Dingen gehört, die es gibt“; aber diese dient dem Gelehrten zum
bequemen Hand- und Hausgebrauch, als Abkürzung der Ausdrucks-
raittel“ 22, 27 f., die ganze Physik ist eine solchei künstliche, falsche,
aber vorläufig zweckmäßige „Zurechtlegung“ 24.2) Solche künstlichen.
D Weil Täuschungen und Fälschungen zum Leben notwendig sind,
mindestens ebenso notwendig als wahre Vorstellungen, darum ist nach
N. nicht nur der Mensch, sondern schon das ganze organische Leben
darauf angelegt; „mit der organischen Welt beginnt . . . der Schein“
XIII, 228; „so haben es die Menschen und alle organischen Geschöpfe
gemacht, nämlich so lange die Welt zurecht gelegt, zurecht gedacht,
zurecht gedichtet, bis sie dieselbe brauchen konnten, bis man mit
ihr rechnen konnte“ ib. 84; „die Fähigkeit zum Schaffen (Gestalten,
Erfinden, Erdichten) ist die Grundfähigkeit der organischen Welt“
ib. 80; „in der organischen Welt beginnt der Irrtum: Dinge, Sub-
stanzen, Eigenschaften, Tätigkeiten ... es sind die spezifischen
Irrtümer, vermöge deren die Organismen leben“ 69, 63. Aber der
Mensch begnügt sich nicht mit diesen kleinen Fälschungen — „die
großen Fälschungen und Ausdeutungen waren es, die uns bisher über
das Glück des Tiers emporhoben“ 29. In diesem Sinne nennt N.
schon XIII, 37 den Menschen „das phantastische Tie r“, und
spricht XI, 278 von der „Unverschämtheit unserer Phantasie“; diese
Wichtigkeit der Phantasie wird auch XII, 36 betont; aus ihr ent-
springt unser „mythenbildender Trieb“ ib. 123, und die ganze „Bilder-
rede“ der Wissenschaft, 147, und unsere ganze „idealistische Phan-
tasterei“ ib. 3, die aber notwendig als bewußte „Lüge zum Leben
gehört“ XIV, 269.
2) In den Nachlaßfragmenten des XIII. Bandes werden diese natur-
wissenschaftlichen Fiktionen mit Vorliebe als „regulative Hypothesen“
bezeichnet, wobei „Hypothese“ (wie schon bei F. A. Lange) ungenau
statt „Fiktion“ gebraucht wird. So XIII, 59: „Ursache und Wirkung“
seien keine Wahrheit, „sondern eine Hypothese, mit der wir die Weit
uns vermenschlichen. Mit der atomistischen Hypothese machen wir
die Welt unserem Auge und unserer Berechnung zugleich zugänglich.“
Ein „starker“ Geist könne den Wahn solcher absoluten Begriffe
abweisen und sie doch als „Hypothese“ festhalten ; so ib. 54 f., 59 f.,
80, 85. Die ganze mechanische Naturanschauung, speziell die „Vor-
stellung von Druck und Stoß“ Icann uns nur „als eine regulative
356
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
aber bis auf weiteres unentbehrlichen Begriffe sind auch Subjekt und
Objekt, das „Ich“ und das „Es“ 28 — 30, auch sie sind „Fik-
tionen“ 56, ebenso Ursache und Wirkung : „man soll nicht ,Ursache‘
und ,Wirkung‘ fehlerhaft versinnlichen . . ., man soll sich der
, Ursache*, der ,Wirkung‘ eben nur als reiner Begriffe bedienen,
d, h. als konventioneller Fiktionen zum Zwecke der Be-
zeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung ...Wir sind es,
die allein die Ursachen . . ., das Füreinander, die Relativität, den
Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck er-
dichtet haben; und wenn wir diese Zeichen-Welt als ,an-sich‘ in die
Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal,
wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch“ 33. Ins-
besondere bekämpft N. die mytiiische Vorstellung des „wirkenden
Dinges“; „es gibt kein Substrat, es gibt kein ,Sein‘ hinter dem Tun,
Wirken, Werden; der ,Täter‘ ist zum Tun bloß hinzugedichtet — das
Tun ist alles“; solche konventionellen Fiktionen sind auch das Atom
und das Kantische Ding-an-sich 327. Auch „jene „Gesetzmäßigkeit
der Natur“, von der ihr Physiker so stolz redetJ wie als ob — besteht
nui‘ dank eurer Ausdeutung . . . sie ist kein Tatbestand . . . vielmehr
nur eine naiv-humanitäre Ziirechtmachung“ 34 — also eben ein
„humanistischer“ Anthropomorphismus, für den Aufgeklärten ein be-
wußter. Man weiß mehr oder minder deutlich, daß esi so und so nicht
steht, daß man es so und so eben nur gelten läßt. 188.
Die Fragmente des XIV. Bandes aus dem Nachlaß bieten hierzu
eine willkommene Erläuterung, insbesondere das bekannte Wort S. 16:
„Die Falschheit eines Begriffes ist mir noch kein Einwand gegen ihn:
die Frage ist, wie weit er lebenfördernd . . . ist. Ich bin sogar grund-
Hypothese für die Welt des Augenscheins gelten“, „die mechanistische
Vorstellung ist als regulatives Prinzip der Methode voranzu stellen“
81 — 82; in diesem Sinne verkündet N. den „Sieg der an ti teleologischen,
mechanistischen Denkweise als regulativer Hypothese“, und zwar als
„bewußter“. In diesem Sinn „konstruieren sich die mathematischen
Physiker eine Kraft-Punkt-Weit, mit der man rechnen kann“ 84, also
„als vorläufige Wahrheit, nach deren Leitfaden wir arbeiten können“
73, (also als „Arbeitshypothese“), obgleich „die Annahme von Atomen“
als rein subjektiv leicht zu durchschauen ist 61. So heißt es auch;
„Damit wir rechnen können, hatten wir zuerst gedichtet“, XII, 242. An
anderen Stellen ist von Nietzsche dasselbe, was hier vom Rechnen
gesagt wird, allgemein vom Denken bemerkt worden. — Über den Wert
regulativer Fiktionen s. auch XIV, 322. Besonders beachtenswert ist
die Stelle XIII, 139: „die Art des bisherigen Geistes war noch zu
schwach und ihrer selbst ungewiß, um eine Hypothese a 1 s Hypo-
these zu fassen und doch als regulatirisch zu nehmen — es bedurfte
des Glaubens“. Nach dem Zusammenhang handelt es sich um Moral.
Also soll der „starke“ Geist sich der Fiktivität bewußt sein und
„sie doch als regulativisch nehme n“. Er braucht sie
nicht zu „glauben“, aber er soll danach handeln — ganz Kantisch!
Auch von der Mechanik mit ihren Voraussetzungen, speziell den
Atomen und dem leeren Raum heißt es 325: sie ist „eine Art Ideal
regulative Methode, nicht mehr“.
Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein. 357
satzlich des Glaubens, daß die falschesten Annahmenuns
gerade die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein
Geltenlassen der logischen Fiktion, ohne ein Messen der
Wirklichkeit an der erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-Selber-
Gleichen, der Mensch nicht leben kann, und daß ein Ver-
neinen dieser Fiktion . . . soviel wie eine Verneinung des Lebens
bedeuten würde. Die Unwahrheit als Lebensbedingung
zugestehen, das heißt freilich auf eine schreckliche Weise die ge-
wohnten Wertgefühle von sich abtun.“ Kürzer heißt es 31 : „Meine
Grundvorstellung : das ,Unbedingte ist eine regulative Fiktion,
der keine Existenz zugeschriel^n werden darf“, aber derartige Fik-
tionen sind eben zum Leben, auch zum Leben des. „Erkennens“ nütz-
lich und notwendig: denn „die Erkenntnis ist ihrem Wesen nach etwas
Erdichtendes, Fälschendes“ 19, ,„eine fingierende, setzende Kraft muß
angenommen werden, ebenfalls Vererbung und Fortdauer der Fik-
tionen“ 30. Man kann die contradictio in jenen fingierten Begriffen i)
einsehen, z. B. in den Begriffen des Unbedingten, des Seienden, der
absoluten Erkenntnis, des absoluten Wertes, des Dinges an sich, des
reinen Geistes 2), 28, aber „der Intellekt ist nicht möglich ohne die
Setzung“ solcher fiktiver Begriffe, besonders den des Unbedingten '29,
Diese Fiktionen nennt N. auch, wie wir schon wissen, Perspektiven:
„wollte man heraus aus der Welt der Perspektiven, so ginge man zu-
grunde . . Man muß das Falsche . . gutheißen und akzeptieren“ 13 ; „das
Perspektivische der Welt geht so tief, als heute unser ,Verständnis‘ der
Welt reicht“ 7; und in diesem Sinn führt er aus, daß die „Zahl“ 3) eine
perspektivische Form ist, so gut als „Zeit und „Raum“, daß wir so
wenig „eine Seele“, als „zwei Seelen“ in unserer Brust beherbergen,
daß die „Individuen“ sich wie die materiellen „Atome“ 3), nicht
mehl- halten lassen, außer für den Hand- und Hausgebrauch des
Denkens, . . . daß „Subjekt 3) und Objekt“, „Aktivum und Pas-
Die , seiende* Welt ist eine Erdichtung — es gibt nur eine
werdende Welt; und diese erdichtete seiende Welt ist Ursache, daß
der Dichter sich selbst auch für »seiend* hält und sich ihr gegenüber-
stellt, XIV, 52; das Sein ist also ein Produkt des Denkens, Substanz
ist ein ,, Irrtum** 311, 366. „Unser Künstler-Hoheits-Recht schwelgt
darin, diese Welt geschaffen zu haben** heißt es XIV,
S. 15 ganz Kantisch.
2) Weiteres über „Seele**, „Geist** usw. s. XIV, 27, 338.
3) ,;Die Zahl ist durch und durch unsere Erfindung** XIV, 34. „Die
aiithmetischen Formeln sind nur r e g u 1 a t i v.o Fiktionen** 444
Dasselbe gilt auch von den geometrischen Formen: „eine gerade Linie
kommt nie vor** 42. „Die Gegenstände der Mathematik existieren
nicht** 320.
Die Begriffe „Individuum**, „Person** usw. sind zwar falsch, ent-
halten aber eine große Erleichterung für das Denken XIV, 37, sind
jedoch „Täuschungen** 325 f. ; sie sind, wie alle oben aufgezählten
Begriffe „falsch, aber dauerhafte Irrtümer** 326.
3) Über die Atomistik als bloß anschauliche Konstruktion zum Zweck
der Berechnung s. XIV, 45, 325.
Über die „Mythologie des Subjekts-Begriffs** s. XIV, 329.
358
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
sivum“, „Ursache und Wirkung“ i), „Mittel und Zweck“ “) nur per-
spektivische Formen sind. Solche „perspektivische Fälschungen“ 323
sind zum Leben der Menschen, ja aller Organismen notwendig; „mit
der organischen Welt ist eine perspektivische Sphäre gegeben“ 824,
natürlich zimächst unbewußt, aber im vollentwickelten Menschen ent-
steht der bewußte „WTlle zum Schein, die Feststellung der Perspek-
tiven, d. h. das Setzen des Unwahren als W’^ahr“ 89. Der
menschliche Intellekt mit seinen festen Formen, insbesondere jenen
grammatisch-logischen Kategorien (34) ist ein „Fälschimgsapparat“ (34^
— mit Bewußtsein bedient sich der Mensch trotzdem desselben. Zum
Leben und zum Erkennen, soweit man noch von einem solchen sprechen
kann, bedarf der Intellekt als notwendiges „Mittel die Einführung voll-
ständiger Fiktionen als Schemata, nach denen wir uns das . . .
Geschehen einfacher 3) denken, als es ist“ (47), es also verfälschen. So
liaben jene Irrtümer den Menschen erfinderisch gemacht: daher ist der
„Kultus des Irrtums“ notwendig 312, ja es entspringt ein „Glück am
Schein“ 366, 389, der „WTlle zum Schein“ ^) 369, denn man erkennt
„den W"ert der regulativen Fiktionen, z. B. der logischen“ 322.
Daß die logischen Formen auf Fiktionen beruhen, wird öfters wieder-
holt: „Logik ist eine konsequente Zeichenschrift auf Grund der durch-
geführten Voraussetzung, daß es identische Fälle gibt“ 22, und so „ist
das Logische nur möglich infolge eines Grundirrtums“ 29; „daß es
gleiche Dinge, gleiche Fälle gibt, ist die G r u n d f i k t i o n schon beim
Urteil, dann beim Schließen“ 33, 35, 37; „die erfundene starre
Begriffswelt“ ist ein wichtiges Denkmittel 46; ja unser wirkliches
1) „Unsere ,Mittel und Zwecke‘ sind sehr nützliche Abbreviaturen,
uns Vorgänge handlich, überschaulich zu machen“ XIV, 45.
2) Über Ursache imd Wirkung als Folgen des irrigen Subjekts- und
Prädikatsbegriffs s. die Ausführungen XIV, 22, 27.
3) Die Perspektiven werden hauptsächlich durch Vereinfachung
hervorgebracht: „das Leben ist nur möglich durch verengende, per-
spektivenschaffende Kräfte“ XIV, 45. In diesem Sinne spricht N.
auch von einem „ausschließenden, auslesenden Trieb“ 46. Die ver-
einfachende und damit verfälschende Natur unseres Denkens w^ird
oft betont, so XIV, 34, 320. Es gibt „zeitweilig erlaubte Verein-
fachungen des wahren Tatbestandes" 42. Vgl. XIII, 80 f. : vereinfachen-
f älschen-dichten ; ebenso 241, 249. „Der Intellekt ist ein Apparat der
Vereinfachung“ und des Auseinanderlegens 245.
Von dem künstlerischen Schein, speziell von der epischen Kunst
heißt es, der Erzähler spreche dem bewimdemden Zuhörer gegenüber,
wie als ob er dabei gewesen wäre, und der. Zuhörer habe die Sicher-
heit, zu wissen, daß es Täuschung ist usw. XIV, 132 ; Kunst überhaupt
bestehe in absichtlichem Umgestalten = Fälschen“ 134. — In diesem
Zusammenhang sei auch folgender bemerkenswerter Aphorismus an-
geführt (XIII, 207): „Die W'elt nicht nach unseren persönlichen
Begleitgefühlen messen, sondern wie als ob sie ein Schauspiel wäre
und wir zum Schauspiel gehörten.“ Dieser aus der späteren Stoa
stammende fruchtbare Gedanke findet sich auch ib. 282 : „Unsere Art
Leben und Treiben als eine Rolle zu betrachten, ein-
gerechnet die Maximen und Grundsätze . . .“
Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein. 359
Denken verläuft gar nicht nach dem fingierten Schema der Logik;
„das logische Denken ist das Muster einer vollständigen Fiktion“;
„also das geistige Geschehen ist nur so zu betrachten, wie
a 1 s o b es jenem regulativen Schema eines fingierten Denkens wirklich
entspreche“ 42 f, — Vgl. auch die Bemerkungen VIII, 78 ff. über die
Logik (und Mathematik) als „Zeichen-Konvention“, sowie über die das
logische Denken beherrschenden grammatischen Formen, die „Sprach-
Metaphysik“. Vgl. XIII, 47, 60, 85. Selbst Plato habe seine ,„Be-
griffe im Grunde so gemeint ib. 323, — also eben auch nur als „regu-
lative Fiktionen“.
In einem Teil der Fragmente des XV. Bandes kommt eine Seite zur
Geltung, welche auch schon früher bei N. gelegentlich hervortrat: der
Schaden, den jene regulativen Fiktionen anrichten, wenn sie nicht als
solche benützt werden, sondern ihnen irrtümlicherweise Realitäts-
charakter zugeschrieben wird, wie es ja allerdings gemeinhin der Fall
ist. In diesem Sinne sind jene regulativen Hilfsvorstellungen — Fik-
tionen in malo senu, „nur“ Fiktionen, i) So ist besonders „das Subjekt,
das Ego nur eine Fiktion“ 32, der Geist als Täter des Denkens ist
fingiert, ja das vom den Erkenntnistheoretikem angesetzte reine,
logische Denken dieses Geistes ist „eine ganz willkürliche Fiktion“ 266 f. ;
„Geist“ und „Vernunft“ sind „fingierte Synthesen und Einheiten“ f272,
ja werden sogar „unbrauchbare Fiktionen“ gescholten 275. „Subjekt
ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände in uns die Wirkung eines
Substrats wären . . . dies ist zu leugnen“ 282, „das Subjekt! ist nichts,
was wirkt, sondern nur eine Fiktion“ 286; man hat im Menschen „ein
primum nobile fingiert, das gar nicht existiert“ 368. „Diese künstliche
Loslösung und An-und-für-sich-Erklärung des Ego“ hatte schlimme
Folgen 369. Zu diesen schlimmen Folgen gehört auch die Annahme
einer eigenen „geistigen Ursächlichkeit“, welche auch nur eine „Fiktion“
ist 513, und damit die Annahme „freier Handlungen“, die dann in
moralische und unmoralische geschieden worden sind: das alles ist
„imaginär, unreal, fingiert“ 369, besonders die der Moral zugrunde
liegenden Begriffe 233, 335. Aber die Gattung sei ebenso illusorisch und
falsch wie das Ego 341; in den Begriffen Gattung, Idee, Zweck usw.
schiebe man einer Fiktion eine falsche Realität unter 284, dadurch
werde sie eben zur schlechten Fiktion, in diesem Sinne sind Gattungs-
begriffe „falsche Einheiten, die erdichtet seien“ 330, so sei es
auch mit den „Kauaalfiktionen“, dem „Schematismus des Dinges“
271, 281, überhaupt mit allem „Gedachten“ 281. Insbesondere dio
ganze Welt der Dinge an sich, die wahre Welt des ewig Seienden im
Gegensatz zur Welt des Werdens sei „eine bloße Fiktion“ 306, vgl. 288,
291, 294, 304, 310, 311, 408; wir „imaginieren“ uns einen Gott in
dieser Welt 2^, vollbringen unsere Handlungen, „wie als ob sie Kom-
mando Gottes wären“ 26, und kommen zu den „mesquinen und
schlechten Fiktionen“ der christlichen Weltanschauung 91, zu den
1) Der Ausdruck Fiktion findet sich auch in den beiden ersten
Perioden gelegentlich im tadelnden Sinne, so z. B. II, 355 von den
Fiktionen, auf denen die mittelalterliche Kirche beruht, so IV, 99 die
Fiktion des Allgemeinbegriffs „Mensch“.
360
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
„Jenseits-Fiktionen“ 478. Aber „Krieg gegen alle Voraussetzungen,
auf welche hin man eine , wahre Welt* fingiert hat“ 304.
Diese aus der aufgeregten Zeit der „Götzendämmerung“ und des
„Antichrist“ i) stammende Opposition gegen den Mißbrauch der Fik-
tionen darf man nicht mißverstehen: das notwendige ^Komplement
hierzu bietet die durch viele andere Stellen schon bezeugt© Einsicht
in die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Fiktionen. Diese Einsicht
kommt auch in vielen Fragmenten des XV. Bandes zum Vorschein : so
spricht S. 175 von der „Nezessität der falschen Werte“ und nach
S. 338 sind „Notwendigkeit, Ursächlichkeit, Zweckmäßigkeit nützliche
Scheinbarkeiten“, denn solcher Schein tut not, um leben zu» können“,
„die Illusion hat Erhaltungswert für uns“ 303. 2) Auch di© Logik, „die,
wie die Geometrie und Arithmetik nur von fingierten Wesenheiten gilt“
(278), ist doch eine „nützliche“ Erfindung, ein gutes „Hilfsmittel“
273, 275, 288. Die Kategorien sind „Fälschungen“, aber „kluge“,
„nützliche Mittel zum Zurechtmachen der Welt“ 274, 299, 301, das
System der Kategorien, das „System prinzipieller Fälschung“ 'ist
aber doch „ein zweckmäßiges und handliches Schema“, ein System
In diesen beiden Schriften (Band VIII) finden sich natürlich ähn-
lich lautende Äußerungen; so werden S. 77 ff. alle Kategorien als „Ver-
nunft-Vorurteile“, als „Lügen“ und „leere Fiktionen” bezeichnet, die
in der Sprache und „Sprach-Metaphysik“ ihren „beständigen Anwalt
haben“. Ich, freier Wille, Ding, Atom — sind „Fiktionen“ im schlim-
men Sinn 94 f., 99. Der „Antichrist“ kämpft gegen alle „imaginären“
Wesenheiten und gegen die ganze religiöse „Fiktions-Welt“, und gegen
,.die dualistische Fiktion“ 231 — 233, jüs lauter „Lügen“ im schlimmen
Sinne (261, 264, 270 f., 281 f., 287, 296 ff.). Ähnlich XII, 21—23, 49,
87, 148. Von diesem Standpunkt aus kämpft N. daselbst (49) da-
gegen, daß der Mensch einerseits auf „perspektivisches Sehen“ ein-
gerichtet sei, und andererseits von dieser täuschenden Einrichtung ein
Bewußtsein haben könne — was ja doch sonst gerade seine eigene
Lehre ist.
2) Hierzu vergleiche man den prächtigen Hymnus auf den Schein,
auf den „ganzen Olymp des Scheins“ VIII, 209, und XII, 246 1, 290 bis
293 iauf die „Lüge“ im guten Sinn = das Dichten von Mythen. Vgl.
XIII, 35 : es sei ein „Vorurteil, der Philosoph müsse als seinen eigent-
lichen Feind den Schein bekämpfen“. Vgl. ib. 50, 71, 81, 88 (per-
spektivische Illusion als Erhaltungsgesetz). S. 130 heißt es ganz Kan-
tisch: „wir sind auf optische Irrtümer eingerichtet“ und man kann noch
nach dem „nützlichsten Glauben“ = Irrtum fragen 207, vgl. 121, 124,
138. „Die inneren Prozesse sind essentiell irrtümererzeugend,
weil L^ben nur möglich ist unter der Führung solcher verengernder,
perspektivenschaffender Kräfte“ XIV, 45. „Das Bewußtsein ist etwas
essentiell Fälschendes“ — heißt es ebendaselbst.
3) „Denken ist uns kein Mittel zu erkennen, sondern, das Geschehen
zu bezeichnen, zu ordnen, für unseren Gebrauch handlich zu machen“;
„das Denken ist Ursache und Bedingung sowohl von , Subjekt*, wie
von ,Objekt‘, wie von , Substanz*, wie von ,Materie* usw.*‘ XIII, 51 f.
„Die erfinderische Kraft, welche Kategorien schafft, arbeitet im Dienste
des Bedürfnisses, nämlich von Sicherheit, schneller Verständlichkeit
Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein. 361
notwendiger „Handhaben“ 300, ein „notwendiger Perspektivismus“ 321.
Es ist damit, wie mit dem Atombegriff: i) es handelt sich dort wie hier
um „bloße Semiotik“, aber es steht nicht in unserem Belieben, unser
Ausdrucksmittel zu verändern. „Die Forderung einer adäquaten Aus-
drucksweise ist unsinnig; es liegt im Wesen . . . eines Ausdrucksmittels,
eine bloße Relation auszudrücken“ 324. Jene Begriffe sind also un-
adäquat, aber nützliche Fiktionen. Insbesondere gilt dies von der Kau-
salitätskategorie 2) 318 ff., und noch mehr von der Substanzkategorie:
das „Seiende“ ist „eine Simplifikation zu praktischen Zwecken“ S05,
beruhend auf der künstlichen Schaffung identischer Fälle 291, 304,
319, es ist „ein Bild“, von uns hinein gelegt aus praktischen, nützlichen,
perspektivischen Gründen 322, denn „in uns ist eine ordnende,
fälschende, künstlich-trennende Macht“ 279, aber deren Produkte, jene
vielen „Fälschungen“ sind nützlich und notwendig: denn „das Leben
ist jiuf diese Voraussetzungen gegründet“ 287; „die fingierte Welt von
Subjekt, Substanz, Vemui^t usw. ist nötig“ 279.
Dies leitet uns unmittelbar zu Gedanken Nietzsches über, die man
als Anfänge zu einer Metaphysik des Als-Ob bezeichnen kann;
die Frage, welche Rolle der Schein im ganzen des Weltgeschehens ein-
nehme, und wie dies den Schein aus sich notwendig erzeugende Welt-
geschehen zu betrachten und zu bewerten sei — diese Frage hatte
schon den jungen Nietzsche beschäftigt: schon im Nachlaß zur ersten
Periode findet sich die treffende Bemerkung : „Meine Philosophie u m •
gedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden,
um so reiner, schöner, besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel“
IX, 190; daselbst 198/9 ringt N. mit dem metaphysischen Problem
des Scheins und schließt 205 : „Das Eine erzeugt in griechischer Heiter-
keit aus sich den Schein.“ — In der zweiten Periode finden wir das
Problem vertieft: „Unsere idealistische Phantasterei gehört auch zum
Dasein und muß in seinem Charakter erscheinen. Es ist nicht die
Quelle, aber deshalb ist es doch vorhanden“ XII, 3. „Wir kennen
eigentlich nur das vorstellende Sein“ mit seiner verfälschenden Tätig-
keit; welche Rolle spielt das „vorstellende Sein“ im Sein überhaupt?
Ist vielleicht alles Sein notwendig ein Vorstellen und damit ein
auf Grund von Konvention und Zeichen“ ib. 55, vgl. über solche
„repräsentative Zeichen“ ib. 66 und 83 ff. Denken ist identisch mit
„Bilderschaffen“ 234.
1) Der Atombegriff beruht auf dem „Bewußtseins-Perspektivismus“,
„ist somit auch selbst eine subjektive Fiktion“; „mit zwei Fik-
tionen“ sei die mechanische Weltvorstellung durchgeführt, der der
Bewegung und der des Atoms. „Wir haben Einheiten nötig, um rech-
nen zu können, deshalb ist nicht rLnzunehmen, daß es solche Einheiten
gibt“; die Mechanik beruhe auf der „Bilderrede“ von „Stoff, Atom,
Druck und Stoß, Schwere“ und sei in diesem Sinne eine zweck-
mäßige „Semiotik“, „zu unserem Handgebrauch der Berechnung“.
Vgl. XIV, S. 45 über „Atomistik“.
2) Über die notwendige „Mythologie“ der Kausalitätskategorie und
die sich aus ihr ergebenden fiktiven Begriffe der Seele, des Atoms usw.
s. auch XIII, 60 ff. : hierher gehören auch „die fiktiven Einheiten“
der Seelenvermögen S. 70.
3G2
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
Fälschen? Jedenfalls muß unser Vorstellen, und damit auch der irrige,
aber notwendige Glauben an das Unbedingte, „ableitbar sein aus dem
Wesen des Esse, aus dem allgemeinen Bedingtsein“ XI, 24/5. — Diese
Frage spielt nun in der dritten Periode eine große Rolle und so stößt N.
auf das Problem von Descartes vom betrügenden Gotte; die Irrtümlich-
keit unserer Vorstellungswelt steht fest: „wir finden Gründe über
Gründe dafür, die uns zu Mutmaßungen über ein betrügerisches Prinzip
im ,Wesen der Dinge* verlocken möchten“ VII, 54. „Sollte Gott doch
ein Betrüger sein trotz Descartes?“ XIII, 10; „gesetzt, es gebe im
Wesen der Dinge etwas Täuschendes, Betrügerisches ... so müßten wir
ja als Realität an jenem betrügerischen, täuschenden Grunde der Dinge
und seinem Grundwillen irgendwie Anteil haben . . .“ XIII, 52 f., „Des-
cartes ist nicht radikal genug. Bei seinem Verlangen, Sicheres zu
haben, und ,ich will nicht betrogen werden*, tut es not, zu fragen,
warum nicht?** ib. 56, 68. „Ausgangspunkt: Ironie gegen Descartes:
gesetzt, es gäbe im Grunde der Dinge etwas Betrügerisches, aus dem
wir stammten, was hülfe es, de omnibus dubitare! Es könnte das
schönste Mittel sein, sich zu betrügen** XIV, 326. Daraus folgt: „der
Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung ... ist tiefer, ,metaphy-
sischer*, als der Wille zur Wahrheit** ib. 369, und „der perspektivische,
täuschende Charakter gehört zur Existenz** ib. 40; man darf „nicht ver-
gessen, diese perspektivensetzende Kraft in das ,wahre Sein* einzu-
rechnen** XV, 321; „dieses Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen,
Fälschen ist die bestgarantierte Realität selbst** ib. 281, so daß man
versucht sein könnte, anzunehmen, es gibt nichts als vorstellende, d. h.
fälschende Subjekte**. — An derselben Stelle faßt Nietzsche seine
Lehre in die monumentalen Worte zusammen: „Parmenides hat gesagt.
,man denkt das nicht, was nicht ist* — wir sind am andern Ende und
sagen : was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion
sein.** Von diesem Standpunkt aus ist der Schein nicht mehr wie
bisher von den Philosophen zu beklagen und zu bekämpfen (vgl.
VII, 55), sondern der Schein ist, soweit er als nützlich und wertvoll,
sowie als ästhetisch einwandfrei sich herausstellt, zu bejahen, zu
wollen und zu rechtfertigen. Der „Perspektivismus** ist uns „not-
wendig** XV, 321.
Diese Einsicht in die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Fiktionen
hätte nun sicherlich im Laufe der Zeit dazu geführt, daß Nietzsche
auch die Nützlichkeit und Notwendigkeit religiöser
Fiktionen anerkannt hätte. Man hat öfters die Frage aufgeworfen,
wohin N. noch im Gange seiner Entwicklung geführt worden wäre,
wenn nicht die vorzeitige Katastrophe von 1888 seine Entwicklung
abgebrochen hätte? Die Antwort ist: Nietzsche wäre mit Notwendigkeit
darauf geführt worden, nachdem er die schlimme Seite der religiösen
Vorstellungen so schonungslos aufgedeckt hatte, auch deren gute Seite
hervorzuheben und sie eben als nützliche, ja als notwendige Fiktionen
wieder anzuerkennen. Es war auf dem besten Wege dazu. Schon oben
fanden wir mehrere dahinzielende Äußerungen, in denen er die histo-
Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein. 363
rische Notwendigkeit der religiösen Begriffswelt anerkennt, i) Auch fan-
den wir die ganz an Kant anklingende, merkwürdige Stelle, wonach
der Mensch zwar nicht an die religiösen Voraussetzungen der bis-
herigen Moral glauben, wohl aber nach ihnen handeln und sie „als
regulativisch nehmen“, sie also als regulative Fiktionen behandeln
soll. Und eben dahin tendieren auch noch einige merkwürdige
Äußerungen im Band XV: Nicht bloß erkennt N, an, daß dem reli-
giösen „Wahn“ eine „künstliche Verstärkung“ verdankt wird (429),
sondern er findet auch die „Spezies Mensch“ arm geworden, die nicht
mehr im Besitz der Kraft sei, solchen Wahn in die Wirklichkeit hinein
zu interpretieren, die nicht mehr im Besitz der Kraft „des Schaf-
fens 2) von Fiktionen“, also „nihilistisch“ 294. Und S. 34
heißt es in seiner outrierten Sprechweise: „Katastrophe: ob nicht die
Lüge etwas Göttliches ist: ob nicht der Wert aller Dinge darin beruht,
daB sie falsch sind? ob man nicht an Gott glaub,en sollte,
nicht, weil er wahr, sondern weil er falsch?... ob nicht ge-
rade das Lügen und Falschmachen (Umfälschen), das Sinn-Einlegen
Besonders gehört hierher auch der schöne, wichtige Passus VII,
84 bis 90, wo die Religionen als „Erziehungs- und Veredlungsmittel“
eingehend gepriesen werden. Freilich stellt ihnen N. auch daselbst
sogleich „die schlimme Gegenrechnung“ auf für allen Schaden, den
sie ianrichten. Aber es heißt doch andererseits: „Vielleicht ist am
Christentum und Buddhismus nichts so ehrwürdig als ihre Kunst, noch
den Niedrigsten anzulehren, sich durch Frömmigkeit in eine höhere
Scheinordnung der Dinge zu stellen“ (vgl. oben auch ähnlichlau tenue
Äußerungen Kants). Diese Kunst entspringe freilich einem „Willen
zur Unwahrheit um jeden Preis“, aber eben darum seieni die hoimnes
religiosi „mit unter die Künstler zu rechnen, als ihr höchster Rang“,
bei denen ja auch „der AVille zur Täuschung das gute Gewissen ziur
Seite hat“ 472. Selbst im „Antichrist“ hat N. in diesem Sinne ein
sympathisches Wort für den „großen Symboliker“ Christus, und für
den „ursprünglichen Symbolismus“ des Christentums, dessen späteres,
„schrittweise immer gröberes Mißverstehen“ er bedauert (VIII, 259 bis
262). N. ist so wenig gegen solche Mythen, daß er einen „Mythus der
Zukunft“ verlangt XII, 400, Als Probe eines solchen Zukunfts-Mythus
kann man den Gedanken von der „ewigen Wiederkunft“ auffassen.
Allerdings meinte ihn Nietzsche zuerst hypothetisch, dann dogmatisch,
aber zuletzt scheint er selbst ihn nur als einef brauchbare Fiktion auf
zufassen: in diesem Sinne sagt er selbst XIV, 295 von diesem Ge
danken: „vielleicht ist er nicht wahr“. So hätte denn 0, Ewald in
seinem Nietzschebuch („Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen“;
das Richtige getroffen, wenn er jenen Gedanken als eine pädagogische
regulative Idee faßt, wie dies auch G. Simmel tut. — Auch die Idee
des „Übermenschen“ ist eine solche heuristisch-pädagogisch-utopische
Fiktion.
^) Dieses Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen, Verein-
fachen, Ordnen, Künstlich-Trennen, Dichten, Fingieren 279, 281, 291,
„die perspektivensetzende Kraft“ 321 nennt N. S. 291 auch kurz, aber
sehr bezeichnend „die irrtmn wollende Kraft in uns, oder S. 293
„den Willen zur Täuschung“.
864
Dritter Teil: Historische Bestätigungen.
ein Wert, ein Sinn, ein Zweck ist?“ Und in einem überaus merk-
würdigen Aphorismus rechnet er es dem 19. Jahrhundert als „Stärke“
an, gegenüber dem 18. Jahrhundert, dessen „Gespenst“ die Raison .:war,
wieder „toleranter“ gegen die Religion geworden zu sein; „wir Ver-
hehlen uns nicht die Kehrseite der schlimmen
Dinge“: „die Intoleranz gegen den Priester und die Kirche“ hat ab-
genommen; sogar der Einwand der Rationalisten: ,e& ist unmoralisch,
an Gott zu glauben*, „gilt uns als die beste Form der Recht-
fertigung dieses Glauben s“, — weil eben die religiösen
Fiktionen als Mythen ebensowenig mit dem Maßstab der Moral als mit
dem der Logik gemessen werden dürfen.
Diese Äußerungen sind die Vorboten einer weiteren, letzten Ent-
wicklungsperiode Nietzsches, die durch seine Erkrankung abgeschnitten
worden ist. Nietzsche wäre unfehlbar auf den Weg gelangt, welchen
der von ihm so sehr mißverstandene Kant eingeschlagen hat, und
auf welchem auch F. A. Lang e wandelte, von welchem Nietzsche
in seiner Jugend so stark beeinflußt war : er hält© den „Antichrist“
nicht zurückgenommen, dessen einschneidende Wahrheiten einmal ge-
sagt werden mußten, aber er hätte „die Kehrseite der schlimmen
Dinge“ mit derselben rücksichtslosen Offenheit ans Licht gestellt: er
hätte _ die Nützlichkeit und Notwendigkeit der religiösen Fiktionen
„gerechtfertigt“.
Soeben erschienen:
MIKROKOSMOS
IDEEN
ZUR NATURGESCHICHTE UND GESCHICHTE
DER MENSCHHEIT
VERSUCH EINER ANTHROPOLOGIE VON
HERMANN LOTZE
SECHSTE AUFLAGE
MIT EINER EINLEITUNG HERAUSGEGEBEN
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Dr. RAYMUND SCHMIDT
Drei Bände
Geheftet GM 26, in grünem Halbleinenbande GM 32
In vornehmen Halbleinen-Geschenkbänden GM 40
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quariatsbuchhandel sehr gesucht wird, erscheint hier in neuer Gestalt.
Weltberühmt durch den glänzenden Reichtum und durch die Form-
vollendung seines Stils, durch die geistvollen, tiefen Einsichten und
klaren, edlen Absichten des Verfassers, wird es immer zu den klassischen
Werken der philosophischen Literatur zählen. Die moderne Philo-
sophie entdeckt von Tag zu Tag neue Fragestellungen und Problem-
lösungen, die Lotze bereits gesehen und in unübertrefflicher Weise zur
Darstellung gebracht hat.
Das dem inneren Werte des Baches entsprechende
geschmackvolle äußere Gewand wird den Beifall aller Freunde gut
ausgestatteter Bücher erregen.
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Theorie der Dialektik
Formenlehre der Philosophie
Von Jonas Cohn
IV, 355 Seiten. 1923. GM 7.50, Halbleinen-Geschenkband 10
Es ist das systematische Hauptwerk des berühmten Freiburger
Gelehrten, eine grandiose Zusammenfassung früherer Denkansätze
und -anläufe, voller philosophischer Spannungen und Peripetien, im
Grunde eine Vollendung des großen logischen Werkes Hegels. Niemals
ist das Problem des Verhältnisses vom Denken zum Leben mit gleicher Klarheit und
in gleicher Tiefe behandelt worden.
Der Aufbau der Systeme
Eine formale Einführung in die Philosophie
Von Karl Groos
XI, 320 Seiten. 1923. GM 6.50, Halbleinen-Geschenkband 9
»Psychologie der Weltanschauungen“ ist das große Schlagwort, in
welchem sich moderne Philosophie und moderne Psychologie nach langer Entfremdung
gefunden haben. Die erfolgreichsten Autoren der letzten Jahre (Jaspers,
Müller -Freienfels, Spranger u. a.) bemühten sich um dieses aktuellste der
Probleme.
Das Groos’sche Buch gehört dieser Literaturgattung an, ist eine notwendige
Ergänzung dazu. Es ist ein überaus interessanter Versuch einer Psychologie
der Systeme, der aus der Strukturanalyse der philosophischen Möglichkeiten letzte
metaphysische Folgerungen zieht.
Das Werk ist klar und lebendig geschrieben und jedem Gebildeten
ohne Schwierigkeiten verständlich.
Wahrheit, Wert und Wirklichkeit
Von Bruno Bauch
VIII, 543 Seiten. 1923. GM 10, Halbleinen-Geschenkband 13
Dieses Buch darf ohne Bedenken zu den größten und folgen-
schwersten Erscheinungen in der gegenwärtigen Philosophie gezählt
werden. Schon in der Wahl des Untersuchungsgegenstandes den Willen zur weitesten
Umspannung und damit den geborenen Systematiker verratend, gewinnt der
Verfasser durch die zusammenfassende Behandlung der Wirklichkeits-, Wert- und Wahr-
heitsfrage nicht nur den Einheitsgrund für alles künftige Philosophieren,
sondern es wird vor allem endlich klar, wie sehr die Sondergebiete, die sich mit den
drei Hauptfragen herkömmlich beschäftigen, Logik, Wirklichkeitslehre, ja jede Wissen-
schaft vom Wirklichen und Werttheorie, aufeinander angewiesen sind und wie eng
ihre Ergebnisse ineinandergreifen. Das ist ein Ergebnis, das mit dem Er-
scheinen dieses Werks der Wissenschaft unverlierbarer Besitz blei-
ben wird und muß. Terd. (JDeinhandl ln der „GrundwissenschaU“, IV 314.
VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG
RICHARD MÜLLER- FREIENFELS
Irrationalismus. Umrisse einer Erkenntnislehre
VIII, 300 S. 1922. GM 6.50, Halbleinen- Geschenkband 9
Die Philosophie der Individualität
2., durchgesehene Auf 1. XI, 289 S. '23. GM 6.50, Halbleinen-Geschbd. 9
h Auf l. erhielt 1921 beim Erscheinen den Ehrenpreis der Nietzsche-Stiftung
Ich kenne kein Buch, das in abstrakter Sprache so nahe an das wirkliche
Leben der Seele und des Geistes heranführte wie diese beiden Werke
des bekannten Berliner Psychologen. So widerspruchsvoll es erscheint, das Unerkenn-
bare wird hier erkannt, das Unbegreifliche begriffen.
Hinsichtlich der Komposition sind beide Bücher wahre Meisterwerke. Schon
die ausführlichen Inhaltsverzeichnisse lassen uns wohltuend spüren, daß hier eine sehr
schwierige Materie völlig bezwungen ist, und die Ausführung hält, was die Inhalts-
angabe verspricht.
Der Übersichtlichkeit der Anordnung entspricht die sprachliche Darstellung.
M.-Fr. schreibt leicht und f remdwörterf rei, flüssig und gewandt, ge-
fällig und unterhaltsam, und daraus erklärt es sich auch vor allem, daß M.-Fr.
keineswegs nur in Fachkreisen gelesen wird. Martin Hauenstein in der
JULIUS SCHULTZ
Die Philosophie am Scheidewege
Die Antinomie im Werten und im Denken
VII, 331 S. 1922. GM 6.50, Halbleinen -Geschenkband 9
Das Buch wirkt entscheidungsfördernd. Es ist jedem zu empfehlen,
der über die Bahn, die er persönlich im Verlauf der Weltkrisis einschlagen soll, noch
im Ungewissen ist und zunächst einmal bedächtig Umschau halten will. Denn an
klugen und geistreichen Ausblicken ist es reich.
Hermann Graf. Keyserling im „Büchermurm".
JOHANNES KÜHN
Toleranz und Offenbarung
1923. XII, 473 Seiten. GM 11, Halbleinen-Geschenkband 14
Toleranz und Intoleranz sind geistesgeschichtliche Kräfte, die in einem Kampfe
miteinander liegen, in welchem sich der Gang der Geisteskultur spiegelt.
Der Verfasser will durch eine sorgfältige Zergliederung der von den Toleranz-
freunden und -feinden angeführten Literatur zu den Quellen hinabsteigen, aus denen
die Entwicklung unserer Kultur gespeist wird. Die Toleranzliteratur erscheint hier
als ein feiner Gradmesser für die Umformung des europäischen Geisteslebens, für
den weltgeschichtlichen Wandel von der einseitigen Bindung zur grundsätzlichen
Freiheit. Das Werk ist nicht nur für Theologen bestimmt, es geht jeden
Menschen an, der eine innere Stellung zur Toleranzidee hat, darüber
hinaus aber vor allem den Kulturhistoriker und Kulturphilosophen.
Das Buch hat internationale Bedeutung. Außer Luther werden eingehend
behandelt: Schwenckfeld, Williams, englische Baptisten, Acontius,
Arminius, Grotius, Wtenbogaert, Chillingworth, Taylor, Spener.
VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG
Soeben erschienen:
FRITZ MAUTHNER
BEITRÄGE ZU EINER
KRITIK DER SPRACHE
Dritte, um die Zusätze aus dem Handexemplar des Verfassers
vermehrte Auflage
/. Band: Zur Sprache und zur Psychologie. XX, 719 Seiten
II. Band: Zur Sprachwissenschaft VIII, 718 Seiten
III. Band: Zur Grammatik und Logik. XVI, 663 Seiten
Drei vornehme (einzeln nicht käufliche) Halbleinenbände GM 45
WÖRTERBUCH
DER PHILOSOPHIE
NEUE BEITRÄGE ZU EINER KRITIK DER SPRACHE
Zweite, vermehrte Auflage
BAND I: A BIS GOETHES WEISHEIT
BAND II: GOTT bis QUIETIV
CXXX, 661 und 586 Seiten. In vornehmem Halbleinenband je GM 15
Der dritte (Schluß-) Band, dessen Korrekturen Fritz Mauthners Frau mit
liebevoller Sorgfalt überwacht, befindet sich bereits unter der Presse.
Eine wesentliche Bereicherung des Gesamtwerks bedeutet ein dem
letzten Bande beizugebendes ausführliches Namen- und Sachregister.
Zwei philosophische Werke von größter Bedeutung.
Denn Sprachkritik ist Erkenntniskritik, ist die Arbeit an dem be-
freienden Gedanken, daß die Menschen mit den Wörtern ihrer
Sprache niemals über eine bildliche Darstellung der Welt hinaus-
kommen können. Also keine entlegene Angelegenheit
der Fachphilologen, sondern aller sprechend denkenden
bzw. denkend sprechenden Menschen.
VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG
Druck der Graphia Akt.- Ges. vorm. C. Grumbach in Leipzig
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